Die Tractätchen-Journale und ihr neues Jerusalem

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Titel: Die Tractätchen-Journale und ihr neues Jerusalem
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 67, 68
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[67] Die Tractätchen-Journale und ihr neues Jerusalem. Zu den mancherlei erbaulichen Dingen, welche im Lager des Muckerthums mit ganz besonderem Eifer gepflegt werden, gehört seit längerer Zeit auch eine Wiederaufrichtung des sogenannten Chiliasmus, was zu Deutsch nichts Anderes sagen will, als die wirkliche Erwartung des Gottesreiches mit dem sichtbaren Wiedererscheinen Christi und jenem neuen Jerusalem, das sich alsdann (nach Offenb. Joh. 21, 16) auf die Erde herabsenken und alle lebenden und jemals verstorbenen Frommen zu einem tausendjährigen Dasein voll ungetrübtester Befriedigung und irdisch-himmlischer Wonne in sich aufnehmen soll. Wenn es jetzt manchen frommen und geistlichen Herren Vergnügen macht, den Kinderglauben an die buchstäbliche Erfüllung solcher Wunderverheißungen im Kreise ihrer Getreuen zu verbreiten, so wird sich dagegen leider direct nichts ausrichten lassen. Etwas Anderes aber ist es mit einem Wirken durch die Presse, wenn uns hier die vermessensten Widersinnigkeiten und die emsige Gier, sie zu verbreiten, mit herausfordernder Deutlichkeit unter die Augen treten. Hier hätte es längst an einer kräftigen und planmäßigen Gegenwirkung zum Schutze unwissender und urtheilsschwacher Leser nicht fehlen dürfen, und dieselbe hätte sich nicht allein wider den mystisch-süßlichen Blödsinn der zahllos von den frommen Vereinen colportirten Tractätchen, sondern vor Allem auch wider die vielen sogar oft politischen Wochen- und Tagesblättchen wenden sollen, welche in den verschiedensten Winkeln unseres Vaterlandes dem Sumpf- und Moderboden [68] des unzurechnungsfähigen Pietismus entsprießen. Was in dieser obscuren Missions-Presse im allerabgeschmacktesten und geistlosesten Kauderwelsch dieser Partei fort und fort hinter dem Rücken der großen Oeffentlichkeit erzählt und gepredigt, gebetet und gehetzt, gelobt, getadelt und an haarsträubender Verschrobenheit und bildungsfeindlicher Inhumanität im Tone winselnder Dummdreistigkeit zu Markte getragen wird, sollte nicht übersehen, es müßte wenigstens von Zeit zu Zeit durch eine kurze Blumenlese von Auszügen der Beachtung der Gebildeten nahe gelegt werden. Vielleicht geben wir durch die nachfolgende kleine Mittheilung einen Anstoß dazu.

Vor uns liegen ein paar Nummern vom „Stader Sonntagsblatt“. Das Blättchen soll sich einer ziemlichen Verbreitung erfreuen, obgleich es einen durchaus hochorthodoxen Charakter trägt, so fromm und ernsthaft, daß es die Aufmerksamkeit seiner Leser selbst in einer ihrer Unterhaltung gewidmeten Rubrik nur auf hohe und heilige Dinge lenkt. Statt der profanen Räthsel und Charaden unheiliger Volksblätter bringt es „Biblische Räthselfragen“, an denen sich die Bibelfestigkeit, wie z. B. an der folgenden Aufgabe erproben soll: „Welcher Mann ist von einem Nachkommen, der ihn im Leben nie gesehen, als Vater angeredet worden?“ (Antwort: Abraham, Luc. 16, 24.) Ferner: „Wie hieß der Mann, der in einem lebendigen Sarge lag und in seinem Grabe am Leben blieb?“ (Antwort: Jonas.) Doch das sind so kleine Harmlosigkeiten des pietistischen Geschmacks, auf die es uns hier nicht ankommt. Ernster aber steht es mit einer weiteren Frage. Sie lautet: „Wenn das neue Jerusalem eine Stadt ist von 256 deutschen Meilen Länge, eben so viel Breite und eben so viel Höhe, und jeder seiner Bewohner hat einen Raum von 10 Kubikruthen, deren 2000 auf eine deutsche Kubikmeile gehen, wie viele Menschen haben dann in dieser Stadt Platz?“ Darauf ertheilt das Sonntagsblatt die Antwort: „Es haben nach dieser Berechnung 3,355,443,200 Menschen im neuen Jerusalem Platz und zwar so viel Platz, daß Jeder auch noch einige Freunde aufnehmen kann in die ewigen Hütten!“

Man sieht, wie eifrig diesem Pietistenwesen die schöne Aussicht auf die Freuden des zukünftigen Wunder-Jerusalem im Kopfe spukt! Ein Leser ist sogar von der Antwort der Redaction noch nicht befriedigt gewesen; seine mystische Phantasie hat sich ein viel günstigeres Raumverhältniß herausgedüftelt, und er meint in einer fernern Nummer, daß nach jener Berechnung, das „himmlische Jerusalem“ fast allein von den zur Zeit gerade lebenden Menschen gefüllt sein würde. „Wo sollten dann aber“ – so schreibt er wörtlich – „die vielen Millionen der früheren Jahrtausende Platz finden? Petrus würde ihnen nicht die Thore öffnen dürfen, weil es ihm an Platz fehlen würde. Einsender dieses rechnet aber die Größe des himmlischen Jerusalem, nach menschlichen Begriffen, anders. Die 12,000 Feldwege betragen nach ‚Gerlach‘ und den ‚Biblischen Alterthümern vom Calwer Verein‘ ungefähr 375 Meilen. Kubiren wir diese, so bekommen wir für das himmlische Jerusalem 52,734,375 Kubikmeilen. Eine Meile gleich 1587½ laufende Ruthen, das giebt für die Kubikmeile über 4000 Millionen Kubikruthen. Wenn nun für einen Menschen 10 Kubikruthen Raum erforderlich wären, so könnten in jeder Kubikmeile 400 Millionen Menschen wohnen und im ganzen himmlischen Jerusalem somit 21,093:750,000,000,000. ‚In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen!‘“ So druckt’s das protestantische „Stader Sonntagsblatt“ zur Erbauung und Belehrung heutiger Leser und würde gewiß selber entschieden der Annahme widersprechen, daß es etwa scherzhaft gemeinte Spielerei mit solchen ihm heiligen Dingen treibt. Möge man aber allem derartigen Kram der Frömmler nicht blos den Werth einer komischen Selbstcharakteristik beimessen. Er hat an gewissen Stellen seinen Einfluß und zwar einen recht verderblichen.