Die Tramps
Die Vereinigten Staaten sind zu verschiedenen Malen von verheerenden Landplagen heimgesucht worden. Die Heuschrecken vernichteten in manchen Jahren die Hoffnung Tausender von fleißigen Farmern; der berüchtigte Coloradokäfer drohte der Kartoffel den Untergang; gelbes Fieber und Indianermetzeleien sind periodisch wiederkehrende, wie es scheint unvermeidliche Uebel, an die man sich nachgerade gewöhnt hat. Die schlimmste und gefährlichste aller bisherigen Heimsuchungen haben indeß erst die letzten Jahre entwickelt: die Landplage der „Tramps", der modernen Zigeuner Nordamerikas. Ja, noch schlimmer als die alten Zigeuner sind sie, diese neumodischen Tramps. Das Zigeunerwesen war doch noch wenigstens mit einer Art von poetischem Nimbus umgeben; das wild geheimnißvolle Treiben der braunen Vagabunden hatte noch eine romantische Seite, sodaß selbst der Dichter es nicht verschmähte, sie in das Gebiet seiner Phantasie zu ziehen. Aber dieser neuesten amerikanischen Auflage des Zigeunerunwesens fehlt auch jede Spur von Romantik; sie ist jeglichen poetischen Schmuckes vollständig baar; sie ist die gemeinste und gefährlichste Erscheinung des rohesten Vagabonden- und Verbrecherthums.
Die Tramps als allgemeine Landplage sind noch nicht viele Jahre alt. Landstreicher hat es selbstverständlich hier, wie überall, zu allen Zeiten gegeben, daß sie aber zu Tausenden von kleineren und größeren Banden anschwellen würden, die das Land stellenweise förmlich überschwemmen, ihren Weg mit Raub, Mord und Brand bezeichnen und Leben und Eigenthum der Bürger bedrohen würden, das hätte man kaum für möglich gehalten in einem Lande, dessen Verhältnisse es Jedem erlauben zu leben, ohne seinem Nachbar beschwerlich zu fallen. Und doch ist es in kurzer Zeit dahin gekommen: die Tramps sind im Verlauf einiger Jahre zu einem socialen Uebel herangewachsen, zu dessen Ausrottung die gewöhnlichen Mittel der Staatsgewalt nicht mehr auszureichen scheinen.
Die Geschichte ihrer Entstehung ist eine sehr einfache. Der Druck, der seit 1873 auf allen Geschäften lag, das Stillstehen der meisten Fabriken und die daraus folgende Arbeitslosigkeit Tausender, namentlich in den größeren Städten, erzeugte einen Nothstand unter der Arbeiterbevölkerung, der von Jahr zu Jahr sich steigerte. Nicht wenige dieser Leute suchten sich ehrlich durchzuschlagen, indem sie Arbeit annahmen, wo sie solche fanden, auch wenn sie nur kümmerlichen Verdienst abwarf; andere trieb die Noth in’s Verbrecherleben der größeren Städte hinein; ein großer Theil beschloß anderswo sein Heil zu versuchen und begab sich auf die Wanderung. So begannen diese Wanderzüge, meist in westlicher Richtung; sie wurden ursprünglich keineswegs nur von Vagabonden unternommen, sondern zum großen Theil von ehrlichen Arbeitern, die Verdienst und Brod auf dem Lande suchen wollten, namentlich in der Erntezeit, in der es den Farmern häufig an Arbeitskräften fehlt, um die schnell reifende Ernte einzubringen. Sie führten deshalb anfangs häufig den Namen: „harvesters" (Ernte-Arbeiter). Die Bezeichnung: „tramp“ (Vagabond) trat aber sehr bald an dessen Stelle.
Wie Alles hier zu Lande sich schnell zu entwickeln pflegt, so auch diese Bewegung. Ein Gährungs- und Scheideproceß trat bald ein. Die besseren Elemente suchten und fanden Arbeit und Brod und in manchen Fällen wohl auch eine Heimath, aber die Hefe blieb zurück und ging bald in totale moralische Fäulniß über. Waren diese Menschen schon vorher arbeitsscheu gewesen, so machte sie das anhaltende Vagabondiren zu ausgesprochenen Feinden jeglicher Arbeit, zu faulen, nichtswürdigen Strolchen, die schnell auf der niedrigsten Stufe moralischer Verkommenheit anlangten. [791] Verstärkt durch den Abschaum der Gesellschaft, durch Tagediebe und Verbrecher aller Art, die sich ihnen anschlossen, wurden sie zu dem, was sie heute sind, zu einer wahren Pest, die in manchen Landestheilen die Sicherheit der gesellschaftlichen Verhältnisse ernstlich bedroht und nur durch die härtesten, gleichviel ob grausam erscheinenden Mittel bekämpft werden kann.
Die Tramps ziehen meistens in kleinen Gesellschaften von zwei bis sechs Mann umher. Städte werden von ihnen gewöhnlich gemieden; das Land ist ihr natürliches Operationsfeld. Man darf nicht vergessen, daß es Dörfer im europäischen Sinne des Wortes eigentlich in Amerika nicht giebt; der Farmer wohnt meist allein, umgeben von seinen Ländereien, und kann daher im Falle der Noth nicht auf augenblickliche Hülfe von seinen Nachbarn rechnen. Darauf baut der Tramp seinen Plan. Er erscheint plötzlich am Farmhaus, dessen Besitzer vielleicht abwesend im Felde ist. Er verlangt von der Frau zu essen, und aus Furcht giebt diese ihm, was sie hat. Im besten Fälle verläßt er die Farm, wenn er sich satt gegessen hat, in vielen Fällen aber endet der Einfall weit trauriger, besonders wenn sich die Vagabonden stark genug fühlen. Dann wird der Frau Gewalt angethan, der zu Hülfe eilende Mann ermordet und das Gehöft in Brand gesteckt. Die Buben aber, welche die Unthat verübten, haben gewöhnlich Zeit genug, ihren Verfolgern einen genügenden Vorsprung abzugewinnen, um zu entkommen und ihr schändliches Handwerk anderswo fortzusetzen. Fallen sie den nacheilenden Nachbarn in die Hände, dann freilich wird nicht lange Gericht gehalten; Kugel oder Strick sind bereit, den Urtheilsspruch auf der Stelle auszuführen. Aber ein paar solcher Gesellen genügen ja, um auch Unheil in größerem Maßstabe auszuüben. Vor einigen Monaten – um nur ein Beispiel anzuführen – wurden etwa dreißig Meilen vom Wohnorte des Schreibers die Eisenbahnschienen von zwei Tramps nächtlicherweise aufgerissen; als der Zug in der Morgendämmerung herankam, bemerkte der Zugführer die losgerissenen Schienen eben noch rechtzeitig genug, um die Locomotive rückwärts arbeiten zu lassen. So traf sie die Unglücksstätte mit geschwächter Kraft; der Zug blieb theilweise auf dem Geleise, und nur die vordersten Wagen, die Locomotive und der heldenmüthige Führer lagen zerschmettert am Fuße des Bahndammes. Die Verbrecher wurden später eingebracht und erwarten ihr Urtheil.
Zuweilen erscheinen die Tramps in größeren Haufen, manchmal 2 bis 300 Mann stark. Dann bemächtigen sie sich der Eisenbahnen, überwältigen die Beamten, nehmen einen Zug in Beschlag und setzen ihre Reise herrenmäßig per Eisenbahn fort, bis es der Polizei mit Hülfe der aufgebotenen Bürger oder Milizen gelingt, sie zu vertreiben. Solche Haufen statten gelegentlich kleineren Städten einen Besuch ab, und bei der geringen Zahl der regelmäßigen Polizisten und der gänzlichen Abwesenheit von Militär ist ein solcher Besuch von einigen hundert verworfenen und verwogenen Vagabonden wohl im Stande, Schrecken und Furcht vor Raub und Brandstiftung einzuflößen. Im Staate Iowa, der zu den vom Tramp-Unwesen am schwersten heimgesuchten gehört, mußte der Gouverneur die Staatsmiliz auffordern, sich bereit zu halten, um die Bürger vor der überhandnehmenden Frechheit des Gesindels zu beschützen.
Dem deutschen Leser mag es sonderbar erscheinen, daß Zustände, wie die eben geschilderten, in einem wohlgeordneten civilisirten Staate stattfinden können, und daß nicht das Gesetz strenger gehandhabt wird, um das Uebel einzuschränken oder auszurotten. Viele messen eben dieses Land mit ihrem auf europäische Verhältnisse wohl passenden Maßstabe, der aber hier nicht immer angewandt werden darf. Erstens sind die räumlichen Verhältnisse ganz verschiedene. Die Bewohner der Ansiedelungen wohnen, wie schon erwähnt, selten dicht beisammen; die Ansiedelungen selbst sind meist durch größere Zwischenräume getrennt: ausgedehnte Waldstrecken und weite Prairien ziehen sich zwischen den bewohnten Gegenden hin, sodaß es dem Tramp leicht wird, sich schnell und sicher aus dem Bereiche seiner Verfolger zu bringen, wenn diese überhaupt im Stande sind, eine längere Jagd auf den Frevler anzustellen. Ferner darf nicht vergessen werden, daß wir kein Militärstaat sind, und daß die würdigen Beschützer des ruhigen Bürgers und der Schrecken der Vagabunden, die Gensd’armen, eine hier unbekannte Größe sind. Wer soll also die Ruhestörer einfangen? Wir haben wohl eine Miliz, aber sie erinnert stark an die alte vaterländische Bürgerwehr seligen Angedenkens und kann zu solchem Dienst doch auch nur verwandt werden, wenn es einen größern Feldzug gegen diesen innern Feind gilt. Die eigentliche Polizei dagegen ist in den kleinern Städten meist auf eine sehr geringe Anzahl beschränkt und existirt auf dem Lande gar nicht. Der Angegriffene ist demnach gegen die Trampsplage meist auf Selbsthülfe angewiesen, und diese wird von der öffentlichen Meinung als gerechtfertigt anerkannt.
Daß die Tramps mit der communistischen Bewegung, die gewisse Schichten der amerikanischen Arbeiterbevölkerung ergriffen hat, in Verbindung stehen, wird vielfach behauptet und ist auch höchst wahrscheinlich. Dasselbe Princip, welches den wilden Träumen dieses gemeinen Communismus zu Grunde liegt: leben wollen, ohne zu arbeiten – dieselbe Wuth gegen Jeden, der etwas besitzt, und das diebische Gelüst, das zu nehmen, was Andere sich mit Mühe und Arbeit errungen haben: all dies finden wir bei den Tramps wieder. Die Communisten arbeiten in ihren geheimen Verbindungen am Umsturz alles Bestehenden; die Tramps sollen ebenfalls ihre Organisation haben und sich allenthalben im Lande an Paßworten, Zeichen und Griffen erkennen. Im Falle eines Arbeiteraufstandes, wie er im vorigen Jahre versucht wurde, würden sie ein über das ganze Land verzweigtes, gefährliches Heer von Guerillas abgeben, um Telegraphen und Eisenbahnen zu zerstören und Raub, Mord und Brand, nach Indianerart, überall hin zu tragen. Ein anderer gemeinsamer Zug der Communisten und Tramps ist der Haß gegen Fabrik- und Maschinenarbeit, hervorgerufen durch das Geschrei der Demagogen, daß dadurch der Handarbeit Abbruch geschähe. Sie verlangen daher häufig von den durch sie heimgesuchten Farmern, daß diese ihre landwirthschaftlichen Maschinen zerstören, oder sie legen selbst Hand an und verbrennen sie. Ein Farmer in Minnesota traf zwei dieser Gesellen bei dem Geschäfte, Feuer an seine Maschinen zu legen; er holte seine Flinte und jagte jedem eine Kugel durch den Kopf, dann übergab er sich dem nächsten Gerichte, welches ihn auf der Stelle frei sprach. Wie wenig es übrigens diesen Vagabonden darum zu thun ist, die Maschinenarbeit durch ihrer Hände Arbeit zu ersetzen, erhellt einfach aus der Thatsache, daß die Farmer während der diesjährigen Erntezeit nicht im Stande gewesen sind, Leute genug zu finden, die für hohen Lohn gearbeitet hätten. In vielen Fällen weigerten sich diese Landstreicher, für zwei und drei Dollars den Tag eine Hand zu rühren.
Die Sympathie, die sich eine Zeit lang für die Tramps regte, als noch ein Theil derselben aus wirklich nach Arbeit suchenden Leuten bestand, hat aufgehört, seit dieses Element fast ganz verschwunden ist. Räuber und Mordbrenner, die der menschlichen Gesellschaft den Krieg angekündigt haben und als ausgesprochene Feinde aller socialen Ordnung das Land durchziehen, stellen sich auf dieselbe Linie mit wilden Thieren, die man nicht zähmen kann, sondern ausrotten muß. Die Tramps haben sich den Indianern ebenbürtig an die Seite gestellt, nur daß die Letzteren Wilde sind, die durch erduldetes Unrecht gereizt wurden, während jene zum größten Theil aus Menschen bestehen, die durch Geburt und Umgebung Gelegenheit gehabt haben, nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden.
Communisten wie Tramps, verwandt im Princip wie in ihrer Stellung gegen die übrige Gesellschaft, sind gleichzeitige Erscheinungen in der socialen Geschichte dieses Landes. Sie sind mit einander groß geworden und kämpfen beide gegen denselben eingebildeten Feind: Capital und Besitz. Es darf darum wohl mit Recht angenommen werden, daß ihre weiteren Schicksale ähnliche sein werden. Weil beiden jeglicher Rechtsgrund für ihr Dasein fehlt, werden sie auch beide mit einander untergehen. Die Tiraden der Einen, welche gegen die sogenannten „Capitalisten“ geschleudert werden, und die praktische Uebersetzung dieser Tiraden in Thaten gemeiner Diebe und Räuber durch die Andern, muß und wird dem ehrlichen Arbeiter, der sich von den hochklingenden Phrasen und Versprechungen demagogischer Marktschreier eine Zeit lang vielleicht bethören läßt, die Augen öffnen. Wir haben zu viel ehrenwerthe Arbeiter im Lande, die selbst kleine Capitalisten sind und die ihrer Hände Arbeit, ihre wohlerworbene Heimath nicht mit den Tramps zu theilen gedenken. Ebenso weiß es jeder, der es wissen will, daß Erfolg und Wohlstand hier am wenigsten an ererbtes Capital oder an Gunst gebunden sind, [792] sondern daß jeder freie Bahn hat, nach den höchsten Zielen zu streben. Es ist eine Thatsache, daß weitaus die Mehrzahl unserer bedeutender Männer in öffentlichen Aemtern und in Geschäftskreisen Leute sind, die sich von der untersten Stufe zu ihrer gegenwärtigen Stellung emporgearbeitet haben, nicht durch Geld und Gunst, sondern durch Geschick, Ausdauer und Energie.[1] Derselbe Weg hat jedem offen gestanden, der heute als Tramp das Land durchzieht und zum Verbrecher an der socialen Ordnung geworden ist, er hat sich selbst rechtlos gemacht, und an dieser seiner Rechtlosigkeit muß er untergehen. Zu hoffen ist nur, daß das Kapitel in der Geschichte der socialen Entwickelung der Vereinigten Staaten, in welchem der Tramp eine Rolle spielt, kein allzu langes und blutiges sein möge.
- ↑ Als Beleg hierfür mag die gegenwärtige Staatsregierung von Illinois angezogen werden: Gouverneur Cullom ist der Sohn eines Farmers und verdiente seinen ersten Thaler als Districtschulmeister; Vice-Gouverneur Schuman war zuerst Apothekerlehrling; Staatssecretär Harlow war ein Tischler von Profession; Staatsschatzmeister Rutz diente als Gemeiner in der regulären Armee; Staatsauditeur Needles war Ladenjunge in einem Dorfladen, und der Staatssuperintendent des öffentlichen Unterrichts Etter war einst ein armer Bauernjunge im Staate Ohio.