Die Ultraisten und die Constitutionellen in Frankreich
Die Ultraisten und die Constitutionellen in Frankreich.
Die sechsjährige Diktatur des Villele’schen Ministeriums, dessen Joch Frankreich nunmehr abgeschüttelt hat, kann man als die Prüfungsjahre des konstitutionellen Systems in diesem Lande, und in Europa überhaupt, betrachten. Auf das an die Spitze des Jahrhunderts gestellte Frankreich blicken theilnehmend und erwartungsvoll die Völker, nicht ohne gerechte Besorgnisse für die Ruhe der Welt, die durch das Uebermaß der Reaktionen so leicht von Neuem unterbrochen werden konnte. Die Gefahr ist vorüber, und die loyale Weise, wie die Franzosen den Sturz des verhaßten Triumvirats zu Stande brachten, hat gezeigt, daß sie ministerieller Willkühr wie revolutionärer Anarchie gleich müde sind. Decaze, der die Nation royalisiren, und das Königthum nationalisiren wollte, scheiterte in seinem Unternehmen, weil er zu einer Zeit, da die Partheien des alten und des neuen Frankreichs noch im heftigsten Zweikampfe lagen, zwischen sie trat, aber stets schwankend zwischen dem Guten, das er erkannt hatte, und dem Bösen, dem er nicht entgehen könnte, keiner von beiden Parteien Vertrauen einflößte, und folglich desto gewisser den Haß oder die Verachtung beider sich verdiente. Wahrscheinlich hätte selbst ein Mann von kräftigerem Charakter als Decaze dasselbe Schicksal gehabt. Die constitutionellen Institutionen hatte Ludwig gleichsam improvisirt: sollten sie nun auf die Nation wirken, so mußten sie sich vorher in ihr consolidiren, sie mußten Boden gewinnen, ehe sie Früchte tragen konnten. Aber damals war die Stimmung der Gemüther noch zu leidenschaftlich, als daß die Ansichten der Köpfe hätten klar seyn können; man bewegte sich nur schüchtern oder ungeschickt in dem neuen Geleise; die Uebertreibung in den Grundsätzen der Einen und in den Ansprüchen der Andern ließ an kein Maß, an keine Versöhnung denken. Nicht ohne Grund kam dadurch der Liberalismus fast noch mehr in Mißkredit als der Ultraismus: denn wenn dieser auf seinem partikulär egoistischen Standpunkte immer wußte, was er wollte, und sein Ziel, der Träger des positiven, des stabilen Lebens zu seyn, mit Consequenz und Beharrlichkeit verfolgte, so schien jener, bei allem Streben nach Universalität, doch nur seine praktische Einseitigkeit und Befangenheit und somit seine politische Unfähigkeit zu beurkunden. Indessen haben wir seit jener Zeit die ausgezeichneten Talente eines Foy, Perier, Royer Collard und Anderer kennen gelernt und wir dürfen, ohne ungerecht zu seyn, dem jetzigen französischen Liberalismus um so weniger unsre Achtung versagen, als selbst die Gegenpartei dem Verdienste dieser Männer zu huldigen anfängt, nachdem, wie Chateaubriand sagte, die Liberalen Freunde des Königthums und die Royalisten Freunde der Charte geworden sind. Diese gegenseitige Verständigung oder, wenn man will, Verschmelzung der Parteien ist das Werk der Verwaltung des Herrn von Villele, so daß es scheint, die Vorsehung habe Frankreich für das Böse, das es von ihm erlitten, einigen Ersatz geben wollen in dem Guten, das wider seinen Willen durch ihn geschehen. –
Jener Ruf, der Thron ist in Gefahr, das Echo des königlichen Trauerhauses, welches in ganz Frankreich wiederhallte, verwandelte sich bald in das jauchzende Feldgeschrei der Ultraisten. Der Tod des Herzogs von Berry hätte den Entwürfen dieser Parteimänner zu keiner gelegeneren Zeit kommen können. Längst entschlossen, die Restauration nur mit der völligen Rückkehr zum Alten für beendigt zu erklären, hatten sie bald ihren Schmerz überwunden, um nicht aus Sentimentalität die reellen Vortheile, welche ihr Ehrgeiz aus jenem Ereignisse ziehen konnte, oder die Gelegenheit zur Rache, welche sich ihrem lang verhaltenen, durch die Siege der Revolution bis zur Wuth gesteigerten Grimm darbot, zu verlieren. Man würde sich sehr täuschen, wenn man bei den modernen Royalisten dasselbe tiefe und uneigennütige Gefühl persönlicher Anhänglichkeit an ihre Fürsten voraussetzen wollte, welches in der guten alten Zeit Fürsten und Völker wie Väter und Kinder an einander band. Die schönen Redensarten, welche jene Leute im Munde führen, dürfen unser Urtheil nicht bestimmen; man übersetze den Bombast der Parteisprache in die Sprache des gemeinen Lebens, und man wird Alles, was die Ultraisten von ihrem unbegrenzten Diensteifer für Thron und Altar versichern, sehr begreiflich finden. Wir behaupten nicht, daß die Gegner der Ultraisten ihre Interesse weniger im Auge haben; aber es ist einiger Unterschied, ob man dieses Interesse bloß von seinem isolirten und individuellen Standpunkte, von dem seines Standes und seiner Kaste, oder ob man es von dem der ganzen Gesellschaft aus zu vertreten gemeint ist. Die Ultraisten nennen sich Königsfreunde; sie müßten aber weniger Theoretiker seyn als sie in der That sind, wenn ihre Neigung, ihre Pflicht nicht vorzugsweise dem Königthum angehörte. „Der König stirbt nicht; es lebe der König!“ Mit diesem Grundsatze entbinden sie sich von jeder Pflicht bloß persönlichen Königsdienstes, und begrüßen unbedenklich jeden Nachfolger auf dem Throne, [174] der ihnen eine bessere Repräsentation des Königthums verspricht. Nicht um einen Menschen kann es ihnen zu thun seyn, der zufälligerweise König heißt, sondern nur um das monarchische Prinzip! Erschienen uns die Ultraisten als Selbstsüchtige, die eben schlechtweg nach Ehrenstellen und Besoldungen, nach Privilegien und Auszeichnungen strebten, so zeigt sich jetzt, wie sehr wir ihnen Unrecht gethan haben. Sie sind die Tüchtigen, die Geistesfreien, die Bewahrer der göttlichen Idee des Königthums, welche der Staat dafür, daß er ihnen eigentlich seine Existenz verdankt, doch nur schwach belohnt. Wo gab je das Herz eines Liberalen einer Politik Raum, die, erhaben über kleinliche Rücksichten und Vorurtheile, mit demselben Scharfblick ihre Zwecke durch alle Verzweigungen und Verkleidungen des monarchischen oder revolutionären Prinzips zu verfolgen gewußt hätte, wie die Ultraisten die ihrigen? Wir sahen, wie diese Parthei gegen Ludwig XVIII, in welchem sie einen Liberalen entdeckt hatte, in seinem eigenen Palaste sich verschwor, wie sie Ferdinand VII als einen Negro absetzte, wie sie in einem Lande die Protestanten, in einem andern die Katholiken als Gegner der Legitimität verfolgte. Gerade in diesen anscheinenden Widersprüchen enthüllte sich uns die Kraft eines Systems, das den Verstand unbefangen erhält, das Gemüth aber durch die innigsten Motive der Sympathie zum schönsten Zusammenwirken begeistert! Die Ultraisten begegnen sich, kennen sich, lieben sich – und ein Bund für die Ewigkeit ist das Werk eines Augenblicks, so daß sie sich in der Folge durch keine Aeußerlichkeiten, die eben aus der Verschiedenheit der Zeit- und Ortsverhältnisse zu erklären sind, an einander irre machen lassen. Kleine Störungen des wechselseitigen Zutrauens, die zuweilen vorkommen, können nicht lange dauern, weil man, wenn man auch in der Wahl der Mittel von einander abweicht, doch in den Zwecken und Erfolgen wieder zusammentrifft.
Der Triumph, welcher dem Ultraismus im J. 1815 zu Theil wurde, war nur vorübergehend; denn politische Combinationen hatten nichts für denselben gethan. Die Ultraisten hatten von Thaten geträumt und erwachten in den Armen des Sieges; der Wechsel der Eindrücke und die Neuheit der Lage ließ sie indessen nicht sogleich zum vollen Bewußtseyn gelangen. Einzelne Versuche, welche die noch nicht förmlich constituirten Parteien machten, dienten dazu, ihre Kraft zu üben, die Hindernisse, auf die man stoßen würde, und die Streitkräfte, auf die man rechnen könnte, kennen zu lernen. Das Jahr 1820 fand die Ultraisten besser gerüstet. Sie hatten die Zwischenzeit benützt, und sich mit Verbündeten aus ganz Europa verstärkt, und ehe sich Frankreich von seinem Entsetzen über den ungeheuren Frevel, der an dem Stammhalter der geliebten Dynastie verübt worden war, erholt hatte, während die Liberalen, die Doktrinärs, die Minister selbst durch die Beschuldigung eines ursachlichen Zusammenhangs ihrer Grundsätze mit dem Verbrechen oder mit der revolutionären Schwärmerei überhaupt eingeschüchtert stille schwiegen und zu keinem Entschlusse kommen konnten, da behaupteten die Ultraisten allein Geistesgegenwart genug, um zu handeln und sich dadurch faktisch in den Besitz der Macht zu setzen. Aber als ein Meisterstück ihrer Politik müssen wir es betrachten, daß sie das Gehässige der ersten Maßregeln, durch welche die Schuld eines Einzelnen an ganz Frankreich gestraft wurde, von sich auf Decaze abzuwälzen wußten, den sie haßten und den sie stürzen wollten. Decaze, durch das Wahlgesetz vom 5. Febr. 1817, das die Männer von der chambre introuvable allmählich entfernte, der populärste Minister, den Frankreich seit langer Zeit gehabt, ergriff selbst die Initiative zu den seiner persönlichen Macht und der Verfassung gleich verderblichen Gesetzen. Von dieser Zeit an bis zur Ernennung Villele’s im Dec. 1821 war das Ministerium ein willenloses Werkzeug fremden Einflusses, eine Art Interregnum, welches man so lange fortbestehen ließ, bis einer Seits die Nation, der verächtlichen Verwaltung müde, sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß sie nur durch den Ultraismus aus diesem Zustand der Schwäche herausgerissen werden könne, anderer Seits der Ultraismus selbst seine völlige Organisation erhalten, und die zur weitern Ausführung seiner Entwürfe nöthigen Vorarbeiten vollendet hatte.
[178] Die Verfassung war in den Augen der Ultraisten nie etwas anderes als die sanktionirte Revolution, folglich ein Feind, den sie bekämpfen mußten. Anfangs begnügten sie sich mit einzelnen Concessionen, erlistet oder ertrotzt mit dem Gewinn kleiner Vortheile, die sie aber auch wieder verlieren konnten. Die Nation sah diesem stillen Kriege, wo es sich oft nur um Doctrinen zu handeln schien, ziemlich gleichgültig zu; sie wollte Ruhe und ließ sich gerne einige Opfer gefallen, wenn dadurch die kleine Zahl der Unzufriedenen zu beschwichtigen seyn sollte. Das Haupt der Bourbonen brachte ein versöhnliches Herz aus der Verbannung zurück, und mancher Sohn der neuen Zeit trat vertrauensvoll vor seinen Thron und fand sich nicht getäuscht. Zwanzig Jahre des Unglücks hatten Ludwig XVIII weiser als die meisten seiner Gefährten gemacht; durch das Glück der Gegenwart mit den Leiden der Vergangenheit versöhnt, war er nicht der Mann der Ultraisten. Wie, dachte wohl mancher von diesen, soll der König so behaglich auf seinem Throne sitzen, während wir, die wir für [179] ihn kämpften und duldeten, das Erbe unserer Väter noch in den Händen der Räuber sehen, und von einem kärglichen Gnadenbrode leben müssen? Im Grunde war aber das Loos der alten Vertheidiger des Throns so gar schlecht und armselig eben nicht, indem sich sonst schwerlich viele Andere gefunden hätten, die, ohne ihre Ansprüche zu haben, diese Armuth mit ihnen theilen wollten.
Es läßt sich nicht verkennen, daß bei Lebzeiten Ludwigs XVIII oder wenigstens so lange er noch geisteskräftig genug war, um auf die Angelegenheiten seines Reichs selbstständig einzuwirken, die Stellung der Ultraisten, Frankreich und Europa gegenüber, noch nicht so entschieden und offensiv seyn konnte, wie sie bei einem bevorstehenden Thronwechsel werden mußte. Ludwig XVIII hatte sich nicht ohne einigen Schein verwandter Geistesgröße in seiner Vermittlersrolle als einen zweiten Heinrich IV gedacht; Frankreich nach der Revolution und Frankreich nach den Bürgerkriegen des sechzehnten Jahrhunderts erschienen in mehr als einer Beziehung vergleichbar; die Aufgabe der Fürsten in beiden Perioden war im Allgemeinen dieselbe: zwei gleich mächtige, feindlich einander gegenüberstehende Parteien zu vereinigen. Aber wenn uns die Charte an das Edikt von Nantes erinnert, sollen wir auf die Gefahr hin, ungerecht zu urtheilen, eine weitere Parallele zwischen Karl X und Ludwig XIV ziehen? Der stolze Herrschergeist, der kirchlich fromme Sinn, die Verehrung gegen die Geistlichkeit, besonders gegen die auch für höhere Zwecke der Politik wirkende Gesellschaft Jesu, dieses Alles ist beiden Fürsten gemein – und zu manchen andern Vergleichungspunkten böte das Leben des Grafen von Artois die Belege – aber dürfen wir dieser Aehnlichkeiten wegen, weil Ludwig XIV wichtige Edicte und Institutionen seiner Vorgänger zurücknahm, auch von Karl X einen gleichen Schritt erwarten? Diese Besorgniß, die französische Journale mehr als einmal andeuteten, scheint uns indessen noch voreilig, und die Aufhebung der Charte nur in dem Fall gedenkbar, daß Frankreich in der Mehrheit seiner öffentlichen Organe, wie dieß eine Zeitlang geschah, beharrlich die Wiederherstellung der absoluten Monarchie verlangte. Karl dem X, entsprossen aus dem ältesten Fürstenhause Europa’s, und gewöhnt an rein monarchische Formen, die seinem persönlichen wie seinem fürstlichen Charakter zusagen, könnten wir es unmöglich verargen, wenn er einem darauf bezüglichen Wunsche seines treuen Volkes, sobald dieser im Ernst vor ihn gebracht würde, bereitwillig entspräche.
Hätte Frankreich seine Institutionen theilweise oder ganz verloren, so wäre die Schuld größtentheils den Männern beizumessen gewesen, welche als Sprecher der Nation auftraten. Aus tadelnswerthem Leichtsinn und mit völliger Verkennung der letzten Vergangenheit, die den Collektivbegriff des neuen Frankreichs bildete, hatten die Liberalen nach und nach die Männer der Republik und des Kaiserreichs Preis gegeben, in welchen sie gerade die tüchtigsten Elemente für den neuen Constitutionalismus, geprüfte Erfahrung und Freiheitsliebe hätten finden können. Warum wollten sie in einem Augenblick, wo nur Vereinigung Rettung versprach, das Interesse aller derer, welche so lange die Führer ihrer Zeit gewesen waren, deßwegen von dem ihrigen trennen, weil jene sich vielleicht minder lebhaft für ihre Theorie der konstitutionellen Monarchie, für ihre Ansicht von Legitimität aussprachen, oder weil einigen Großen des ancien regime damit ein Dienst geschah?
Allein auch die Royalisten gestehen nunmehr ihre Verblendung ein. Sechs Jahre der Willkühr reichten hin, um ihnen die Wahrheit eindringend zu machen, daß die Verfassung den alten Interessen eben so gut als den neuen Dauer und Sicherheit verleihe. Sie mochten sich jetzt fragen, ob der Thron glänzender geworden, als man in ganz Frankreich keine freie Stimme mehr vernahm, als die Diener des Königs zu Sclaven erniedrigt waren, die keinen Willen haben durften, als den Willen der Minister, und die Menschen zu Dingen, die man wegwarf, wenn man glaubte, ihrer nicht mehr zu bedürfen. Daß die Nation auf diese Weise nicht glücklich werde, war ihnen um so weniger zweifelhaft, als sie sich selbst nicht glücklich fühlten. In dem rücksichtslosen Benehmen der Minister, selbst gegen alte Märtyrer der Treue, lag eine starke Lehre. Sollte blos der Frohndienst noch als Verdienst gewürdigt werden, so ahnte jeder rechtliche, unabhängige Mann das Schicksal, das auch ihm bevorstand. Natürlich hatten die Ritter des Absolutismus nicht daran gedacht, daß sie selbst an den Triumphwagen der gepriesenen Alleingewalt gespannt werden würden. Das Staatswesen der jetzigen Zeit ist eine äußerst complizirte Maschine, die nur durch die künstliche und so viel als möglich gleichmäßige Vertheilung des Drucks im Gange erhalten werden kann. Deswegen ist eine Monarchie im antiken Sinn, mit dem Fürsten als wirklichem Selbstherrscher an der Spitze, längst nicht mehr gedenkbar. Was wollen also im Grund alle Parteien? Ueberzeugt, daß der König der Last des Alleinregierens nicht gewachsen sey, wollen sie mitregieren. Der Unterschied ist am Ende nur der, daß die einen ihren Antheil im Namen des Königs, die andern ihn im Namen des Volks verlangen. Die Ausführung des Absolutismus wäre nur dann möglich, wenn das ganze Staatssystem vereinfacht würde; die ungeheuern Budgets, die Heere von Angestellten müßten zu einem großen Theile wegfallen; es müßte in den niederen Regionen des Staats unbedingte Freiheit zugestanden werden.
[182] Wir haben auf das unbestreitbare aber negative Verdienst des Villele’schen Ministeriums hingewiesen: er hat den Ultraisten ihr eigenes System entleidet und dadurch die Rückkehr zur Mäßigung vorbereitet. Vor Villele’s Ministerium konnte man oft sagen hören, eine royalistische Verwaltung thue Noth; Villele gab sie Frankreich. Seit jener Zeit sind manche Hindernisse des royalistischen Geistes in Frankreich verschwunden, manche Wunden, welche die Restauration geschlagen, sind vernarbt, die Heroen und die Märtyrer des Bonapartismus mit ihren glorreichen Erinnerungen sind von der Bühne abgetreten – und doch will Frankreich keine royalistische Verwaltung à la Villele mehr. Was ist nun die Ursache? Wenn Uebereinstimmung in Grundsätzen und Gesinnungen, die Gunst und das Vertrauen des Monarchen, eine ergebene Majorität [183] in beiden Kammern Erfordernisse sind, welche allein einem Ministerium Dauer und Festigkeit, seinen Maßregeln Kraft und Bestimmtheit geben können, so hatte Villele dafür gesorgt, daß es an diesen Bedingungen nicht fehlen durfte. An seinen Collegen hatte er treue Gefährten gewonnen, die, mit ihm solidarisch verbunden, in der freiwilligen Unterordnung unter seine geistige Superiorität allen guten Royalisten zum Vorbilde dienen konnten. So stellte das Kabinet in sich selbst den monarchischen Einheitsbegriff in schöner Vollendung dar. Boshafter Weise nannten dafür die Journale Villele’s Collegen seine Commis. Selbst Corbiere und Peyronnet wollten sie nur als die keckerern Satelliten seiner Diktatur auszeichnen.
Unter einer royalistischen Verwaltung hatte man in Frankreich geglaubt sich in die glänzendsten Zeiten der alten Monarchie zurück versetzt zu sehen. Herr von Villele unternahm, das kühne Ideal des Royalismus zu verwirklichen. Die Ehrgeizigen, die sich Bahn brechen wollten, die alten Höflinge, die an ihre vormaligen Herrlichkeiten dachten, die Frommen, die in den neuen Theorien den Untergang der Religion voraussahen, nebst einem ganzen Heere von Willenlosen, die blos der Macht huldigten, stellten sich unter die Fahnen des Ministers, als er seinen Feldzug gegen die Charte eröffnete. In der That gieng alles trefflich von Statten, solange er an seine Leute Geld und Stellen genug zu verschwenden oder ihnen als Lockspeisen vorzuhalten hatte, und wäre es möglich gewesen ganz Frankreich in Sold zu nehmen, so hätte Geld das Meisterstück des Absolutismus vollbracht. Villele scheint sich seine Aufgae nur von dieser Seite vorgestellt zu haben. Es lag ihm nichts daran, Männer von Talenten oder wenigstens Fachkenntniß für seine untergeordneten Ministerien zu erhalten: wenn es ihm einfiel, so verwandelte er sich oder andere in Seeminister, Kriegsminister, Minister für auswärtige Angelegenheiten u. s. f., und zwar, wie man versichert, ohne daß die Geschäfte darunter gelitten hätten. Das Lächerliche dieses Ministermachens gab zu zahlreichen Epigrammen Veranlassung, von denen wir nur folgende antedatirte Grabschrift auf Chabrol anführen wollen:
Passant, contemple ici, couché sous cette pierre
Un grand navigateur, qui n’a jamais sombré,
Marin de terre ferme, en son hôtel ancré,
Il brava le scorbut, les vents et le Tonnerre.
Il fit le tour du monde auprès de son foyer,
En voyageur prudent qui jamais ne s’écarte,
De Jean-Bart ce digne héritier,
Fit naufrage à Paris et mourut sur la carte.
Geist und Kenntnisse hatten aufgehört, eine Empfehlung zu seyn; brauchte man dieselben im Ministerium nicht, so schienen sie anderweitig noch entbehrlicher. Die ausgezeichnetsten Beamten, Gelehrten, Künstler, Offiziere wurden abgesetzt; Clermont-Tonnere eignete sich dadurch für’s Kriegsministerium, daß er es über sich nahm, ein paar hundert Generale aus der Liste der activen Armee zu streichen. Selbst alte Diener der Monarchie wurden nicht verschont, wenn sie sich unterstehen wollten, eine eigene Meinung zu haben. Der allgewaltige Finanzminster behandelte Menschen und Dinge als bloße Zahlen, die er nach Belieben zu Potenzen erhob, oder in Nullen verwandelte. Er arbeitete – ein ächter Revolutionär – auf die Zerstörung alles organischen Lebens im Staate hin; wo sein Arm hinreichte, da gab es keine Selbstständigkeit, keine Persönlichkeit mehr. Durch eine von ihm geschaffene und in serviler Abhängigkeit erhaltene Aristokratie sucht er die Verfassung in seine Gewalt zu bekommen; diese Aristokratie und die in ihr beruhende Verfassung konnte er dann als ein Spielzeug, womit man die Völker gängelt, fortdauern lassen, oder vernichten; er war gewiß, daß die Nation von einer Sache wenig Notiz nehmen würde, von deren Ueberflüssigkeit sie faktisch bereits überzeugt worden wäre. Gelang es ihm einige Jahre auf diese Weise, so war die Contrerevolution vollendet, und es bedurfte dann des Gebrauchs außerordentlicher, und wegen des damit verbundenen Aufsehens gefährlicher, Mittel nicht mehr. Aber der Finanzminister täuschte sich darin in seiner Rechnung, daß er glaubte, die Wahlmänner, welche ihm die Männer der Septennalität gegeben hatten, würden es immer in ihrem Interesse finden, sich in seinem Sinne repräsentiren zu lassen, oder die Pairskammer würde den allgemeinen Weg der Knechtschaft einschlagen, um darauf ihre Prärogative zu bauen. Zuerst ermannt sich die Pairskammer; die hohe Aristokratie in Frankreich, so ausgezeichnet durch Talente, konnte sich nicht lange in der Rolle gefallen, welche ihr diese Grafen von gestern zugetheilt hatten, die durch ihr hochfahrendes Wesen und ihre beleidigenden Formen sich nur zu deutlich als Emporkömmlinge zeigten, ohne durch den Adel des Geistes den ihnen abgehenden Adel des Bluts zu ersetzen. Die genannte Aristokratisirung des Volks, die man beabsichtigte, war aber um so mehr ein völlig verkehrtes Project, als dazu alle Elemente in Frankreich fehlten. Man hatte den Antheil an der Nationalrepräsentation auf 99,590 Wahlmänner und 18,132 Wählbare reduzirt[2]. Dieses Einhundertunddreißigstel der Bevölkerung Frankreichs, welches (als Inhaber des pouvoir electoral) die eigentliche Quelle der Souveränetät ist, besteht aus einer Klasse von Bürgern, die vermöge ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse, ihres Standes und ihrer Industrie, jeder Art von aristokratischer Einrichtung fremd seyn müssen. Um Wähler zu seyn, ist es hinreichend, daß man 300 Fr. direkte Steuern von seinem Grundeigenthum oder von seinem Gewerbfleiße zahlt. Von jenen beiläufig 100,000 Bürgern sind es nicht völlig 20,000 welche 1000 Franken zahlen; die übrigen 80,000 zahlen im Durchschnitt nur 4–500 Fr. Das Resultat ist daher, daß die Wahlen sich in den Händen der kleinen Kaufleute oder der kleinen Grundeigenthümer befinden[3].
[187] Es war von Cauchois-Lemaire ein eben so widersinnig ausgedachter, als unbesonnen in’s Publikum gebrachter Einfall, den Herzog von Orleans zum Chef einer Art französischer Whigopposition vorzuschlagen. Woher will man in Frankreich eine Aristokratie in diesem Sinne nehmen? wollen diese politischen Klügler Frankreich ein ihm fremdes Gepräge aufdrücken? Wissen sie nicht, daß es in England vor der Veränderung der Dynastie keine Whigs gegeben hat? „Die Parteien, sagt Fievée,[4] sind in England weit schärfer getrennt, als in Frankreich, weil sie dort längst wissen, warum sie sich verbunden haben, weil sie Interessen und keine Meinungen verfechten. Nichts ist aber thörichter, als Parteien, die in ihrem Geburtslande selbst bald nicht mehr allen Interessen genügen, in ein fremdes Land übertragen zu wollen. Mit den Parteien ist überhaupt nicht geholfen. Man stößt auf unüberwindliche Schwierigkeitn, wenn man aus ihnen ein Ministerium, sey es ein homogenes oder ein coalisirtes, bilden will. [188] Wie nun? Es giebt der freien und uneigennützigen Männer genug, die es müde sind, sich unter die alten Paniere der Parteien zu stellen, unter denen man so lange allein Ehre zu verdienen geglaubt hat; solche Männer wähle man, um aus ihnen eine unabhängige Verwaltung zu bilden, welche bei allen Angelegenheiten, die ihrer Entscheidung zukommen, nach bestem Verstand und Gewissen verfahren. Man muß berathschlagende Versammlungen kennen, um sich zu überzeugen, daß schon ein bloßer Verein dieser Art, ohne eben sehr zahlreich zu seyn, im Stande ist, Minister und Parteien im Zaum zu halten, und seine Ansicht in den meisten Fällen geltend zu machen. Dieses glückliche Verhältniß fand in der Pairskammer – Dank nicht der Berechnung, sondern dem richtigen Sinne der Franzosen – wirklich Statt, und der Versuch, es zu zerstören, wird in der Geschichte des strafbarsten aller Ministerien immer sein größtes Verbrechen bleiben.“
Frankreichs hohe Aristokratie hat die ihr im Staat gebührende Stelle nicht nur des äußern Ranges, sondern der moralisch-intellektuellen Wirksamheit eingenommen. Als Ludwig XVIII die Pairskammer errichtete, leitete ihn der doppelte Zweck, einmal in ihr dem royalistischen Adel für den Verlust seiner Feudalrechte einen ehrenvollen Ersatz zu geben, (an den materiellen, die Milliarde, wagte damals noch niemand zu denken), zweitens sie als einen Damm dem Strom der Revolution entgegen zu setzen, welcher, in die Schranken der ihrer Natur nach demokratischen Deputirtenkammer eingeschlossen, unwillig seine Ufer zu überwogen drohte. Als Decaze der Pairskammer den kaiserlichen Adel, die Elite der Nation, einverleibte, erhielt dieselbe Leben und Bewußtseyn; sie nahm die Ideen des Jahrhunderts mit seinen reichen Erfahrungen in sich auf, und die Vergangenheit mit ihren Vorurtheilen blieb weit hinter ihr zurück. Da es keine Feudalinteressen mehr gab, so hatte der royalistische Adel im Grunde nichts zu vertreten; die Pairskammer, aus ihm bestehend, wäre ein Vorzimmer des Hofes geblieben: ein Körper ohne politische Bedeutung, der Nation entfremdet, und von ihr beargwohnt, hätte sie nicht einmal dem Hofe wesentliche Dienste leisten können. Durch die Napoleon’sche Aristokratie, diese Tochter des Verdienstes und des Ruhms, ist die Pairskammer für Frankreich ein Bollwerk der Freiheit geworden, an dem die verderblichen Plane des Villele’schen Ministeriums scheiterten.
Die Contrerevolution hatte sich völlig verrechnet, als sie den meisten Widerstand von Seiten der Wahlkammer befürchtete, als sie, um diese zu unterjochen, Geld, Aemter und Versprechungen verschwendete, und dabei immer die Ergebenheit der Pairskammer, die Identität von royalistischer, aristokratischer und ministerieller Gesinnung voraussetzte. Die Pairs dagegen waren überzeugt, daß sie wohl noch etwas Besseres zu thun hätten, als bloß die Diener der jeweiligen Gewalt zu seyn. Seitdem die alten und die neuen Chefs des Royalismus angefangen haben, sich zu trennen, zeigt die Aristokratie allgemein und unverholen ihre Neigung für ein Regierungssystem, in welchem Ueberlegenheit der Bildung und des Vermögens zu den ersten Stellen im Staat berechtigen. Gibt es auch noch eine alte Aristokratie, so weiß diese zu gut, daß sie mit der neuen gleichen Schritt halten muß, wenn sie nicht zur gänzlichen Nichtigkeit herabsinken will.
In einer äußerlich unabhängigen Lage; im Besitz eines auf Ansehen, Reichthum und Talente gegründeten Einflusses; von den trüben Gährungen der Masse, deren Quelle Nicht-Befriedigung ist, unberührt; das Leben darstellend in seinen höchsten gesellschaftlichen Entwicklungen als Intelligenz, Humanität und Sitte – ist diese glänzende Versammlung berufen, Frankreich auf der Bahn der Freiheit und Ehre, der Wahrheit und des Rechts voranzuleuchten. So gehört die Pairskammer zu den edelsten Institutionen eines hochcivilisirten Volks, welche zugleich die zeitgemäßesten sind. Die Tribüne, der Schauplatz des Talents, wo sich seit dem Bestehen der Charte so manches Verdienst Anerkennung verschafft, die Stufenleiter zur Macht, auf welcher so mancher Ehrgeizige sich emporgeschwungen, das oberste Tribunal der öffentlichen Meinung, vor welchem so manche Klage gegen Mißbräuche, Gewalt und Unterdrückung oft allein Hülfe gefunden, diese Tribüne, von einer bestochenen Majorität in der Deputirten-Kammer verrathen, wurde von der Pairskammer gerettet. Als die Vertreter des Volks gegen die Rechte des Volks sich verschworen, als sie zu ihrer eigenen politischen Vernichtung der Contrerevolution die Hand boten, – was wäre aus Frankreich geworden, wenn die Aristokraten eben so engherzig und servil gewesen wären, als diese Plebejer? Wir lassen die Frage unbeantwortet. Auf eine andere, noch wichtigere Frage, was jetzt nach der Niederlage der Contrerevolution aus Frankreich werden solle, haben die Wahlcollegien geantwortet, antwortet der ultraroyalistische Montlosier als Mitarbeiter des Constitutionel, und der vormalige Congregationalist Vatismenil, der jetzt als Großmeister der Universität die Wichtigkeit der Volksaufklärung empfiehlt. Der Kampf der Meinungen hat ein Ende: die Theorien haben sich in Interessen verwandelt. Als die Contrerevolution es unternahm, eine mit Millionen Fasern in dem Boden der Geschichte wurzelnde Wirklichkeit auszurotten, hätte sie nicht vorher nach dem Archimedischen δός μοι, ποῦ στῶ fragen sollen? – Es war doch wohl zu vermessen, von dem Eifer einiger Duzend Enthusiasten und den bezahlten Diensten einer Legion von Heuchlern, die nun ohne Zweifel die beschwerliche Bürde abwerfen werden, die Ausführung so großer Dinge zu erwarten. Bald muß es sich entscheiden, ob die sechs und siebenzig neuen Pairs noch Lust haben werden, im Gefolge des Herrn von Villele aufzutreten, nachdem dieser die Macht verloren, oder ob sie die öffentliche Meinung durch ein edles und loyales Benehmen mit ihrer Pairschaft aussöhnen können.
- ↑ Annuaire anecdotique, ou souvenirs contemporains, Paris 1828. Eine artige Sammlung von Tagesgeschichten, satyrischen Einfällen und witzigen Anekdoten.
- ↑ De la situation du clergé, de la magistrature et du Ministère à l’ouverture de la session de 1827 etc. par M. Cottu. Paris 1826
- ↑ Nur in Einem Departement beträgt das Minimum des Census, der zu dem großen Wahlcollegium berechtigt, zwischen 14–1500 Fr.; in vier weiteren zwischen 11–1200 Fr., in fünfzehn zwischen 1000–1100 Fr., in neun zwischen 9–1000 Fr., in sechs und vierzig zwischen 5–900 Fr., und in sechs, die nur Ein Collegium haben, fehlt dieser Census ganz.
- ↑ Nouvelle correspondance politique et administrative. Par J. Fievée. 1ere partie Paris 1er Février 1828 p. 28