Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Felix Vogt
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 30–34
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[30]

Die Wahrheit und die Legende über die Pariser Bastille.

Von Felix Vogt.


Wenn man Paris vom Lyoner Bahnhof aus betritt, so ist das erste große Monument, das man zu sehen bekommt, die Julisäule auf dem Bastillenplatz. Auf hoher Säule schwebt da ein vergoldeter Genius aus Bronze, der in der einen Hand eine Fackel hält und in der andern eine zerrissene Kette schwingt. Die Fackel bedeutet die Aufklärung und die Kette die gesprengten Sklavenfesseln. Zwei revolutionäre Ereignisse werden durch dieses Denkmal verherrlicht: die Einnahme der Bastille am 14. Juli 1789 und der Sturz Karls X durch die Julirevolution im Jahre 1830. Betrachtet man den Platz, dessen Mittelpunkt die Säule bildet, recht genau, so sieht man auch in der westlichen Ecke eine durch weiße Pflastersteine gebildete Linie. Diese Linie giebt den alten Umriß der Bastille an, welche das Volk zu Beginn der großen Revolution von Grund aus zerstört hat. Seit zwanzig Jahren ist außerdem der Tag des Bastillensturms zum Nationalfest erhoben worden, das ungefähr so gefeiert wird wie vordem der Napoleonstag des 15. August. Das ist viel Ehre, und da darf man sich wohl fragen, ob sie auch gerechtfertigt ist!

[31] Durch diese hohen Auszeichnungen des Ortes und des Zeitpunktes hat die Bastille in den Augen der Welt erst recht die Bedeutung einer finsteren Burg grausamer Tyrannenwillkür und ihre Einnahme die einer großartigen und mutigen volksbefreienden That erlangt. Sie wird noch immer als der erste Schritt zur Revolution begrüßt, welche zuerst Frankreich und mittelbar auch andere Länder Europas vom Willkürregiment des Absolutismus befreite. Diese Auffassung ist jedoch nur insofern richtig, als die Zerstörung der Bastille durch das Pariser Volk aller Welt die Ohnmacht des französischen Königtums offenbarte und dessen Sturz, der erst drei Jahre später erfolgte, wirksam vorbereitete. Es ist auch zuzugeben, daß die Bastille ein besonderes Wahrzeichen der unumschränkten Herrschergewalt war, weil hier vorzugsweise solche Gefangene untergebracht wurden, die ohne gerichtliches Verfahren auf eine lettre de cachet, d. h. einen bloßen Brief mit dem königlichen Siegel hin ihrer Freiheit beraubt wurden. Alles übrige dagegen ist Uebertreibung oder freie Erfindung, gegen die alle neueren Historiker Stellung genommen haben. Die Schleifung der unnötig gewordenen Bastille war vom König und seinen Ministern schon seit fünf Jahren beschlossen, als das Volk sie niederriß. Sie enthielt damals bloß noch sieben Gefangene, von denen sechs nach jetzigem Recht viel strenger bestraft worden wären als damals. Der Pöbel, gegen dessen Ausschreitungen die wahren Bürger alsbald eine Bürgerwehr bilden mußten, war sich auch anfangs gar keiner befreienden That bewußt, als er nach der Bastille zog, sondern wollte dort nur Waffen holen, um seine Plünderungen in der Stadt und der Umgegend fortzusetzen. Die Festung wurde ferner nicht mit Todesmut erstürmt, sondern von der ausgehungerten Besatzung unter der Bedingung freien Abzugs übergeben. Trotzdem wurden der Gouverneur und ein Teil der Garnison niedergemacht.

Statt den Beginn der Revolution von der Einnahme der Bastille zu datieren, rückt man ihn besser um drei Wochen weiter und setzt ihn auf die Nacht des 4. August an, wo die Nationalversammlung in feierlicher Sitzung alle Privilegien der Geburt und des Standes aufhob. Dieser großartige Beschluß wäre auch ohne die Einnahme der Bastille gefaßt worden, so gut war er durch Montesquieu, Voltaire, Rousseau und die Encyklopädisten vorbereitet. Neben ihm kann jene Gewaltthat höchstens die Bedeutung einer symbolischen Handlung beanspruchen.

Richtig ist freilich, daß die Bastille schon lange vor 1789 allen Pariser Bürgern ein Dorn im Auge war, viel mehr als die übrigen Gefängnisse der Stadt, wo die Gefangenen zahlreicher waren und viel schlechter behandelt wurden. Der Grund davon war die Heimlichthuerei, die zu den grausigsten Legenden Anlaß gegeben und diesen eine ungeheure Zahl gläubiger Abnehmer verschafft hatte, und diese Heimlichthuerei war eine notwendige Folge des von Richelieu begründeten, von Ludwig XIV auf die Spitze getriebenen und von seinen Nachfolgern nur wenig gemilderten Regierungssystems der königlichen Allgewalt. Es ist nicht schwer, dies an der Geschichte der zwei berühmtesten Gefangenen der Bastille nachzuweisen, durch welche sie zumeist zu ihrem üblen Rufe gekommen ist, an der Geschichte der Eisernen Maske und an der von Latude, für die wir hier nach den neuesten Untersuchungen[1] Wahrheit und Legende nebeneinander stellen wollen.

Was war die Bastille ursprünglich? Nichts anderes als eine Befestigung des Thores von Saint-Antoine, die zur Zeit gebaut wurde, da die Engländer das Land unsicher machten.

Damals nannte man jede derartige Thorbefestigung Bastide oder Bastille. Es war auch nicht König Karl V, der am 22. April 1370 ihren Grundstein legte, sondern der Bürgermeister von Paris oder, wie man damals sagte, der prévôt des marchands Hugues Aubriot. Schon früh wurden, wie in jeder Festung, gelegentlich Gefangene in der Bastille untergebracht, aber zwei Jahrhunderte lang blieb sie nicht nur Festung, sondern war sogar oft der Schauplatz königlicher Feste und Lustbarkeiten, so namentlich unter Ludwig XI und Franz I. Noch unter Heinrich II wurde die Befestigung durch die Anlage einer Bastei verstärkt, die später den Gefangenen als Promenade diente. Unter Richelieu trat der Wechsel ein. Vor ihm waren die vornehmsten Herren des Hofes Gouverneure des „königlichen Schlosses der Bastille“, wie der offizielle Titel lautete, gewesen. Er ernannte dazu den Bruder seines Faktotums, des Paters Joseph, einen gewissen Leclerc du Tremblay, der nichts als ein finsterer Gefängniswärter war.

Aber auch von da an bis auf ihr Ende unter Ludwig XVI war die Bastille kein Gefängnis für jedermann, sie öffnete sich bloß für Leute von Stand oder Rang. Sie war ein vornehmes Gefängnis, wo die Leute mit Rücksicht, ja oft mit Auszeichnung behandelt wurden, wenn sie sich nicht durch schlechte Aufführung die zeitweise und nie lange dauernde Versetzung in die Kellerverließe zuzogen. Die Zeugnisse sind haufenweise vorhanden, wonach die Bastille ein ebenso „fideles Gefängnis“ war wie das in der Operette „Die Fledermaus“. Da verlangte z. B. einmal eine Dame, die an einem Komplott zur Entthronung des unmündigen Ludwig XV teilgenommen hatte, ein weißes Kleid mit grünen Blumen. Die Frau des Gouverneurs suchte alle Kramladen von Paris ab, um den nötigen Stoff zu finden. Er war nirgends zu haben, und so entschloß sie sich zu einem weißen Stoff mit grünen Streifen. Der Bericht, der darüber erhalten ist, schließt mit der Hoffnung, daß die verwöhnte Hochverräterin, der man nebenbei auch eine Liebeskorrespondenz mit einem Mitgefangenen gestattete, mit diesem Kleide zufrieden sein werde. Ungefähr ein Jahr vor der Zerstörung mußten zwölf bretonische Edelleute, die dem König eine Bittschrift mit Reformvorschlägen überbracht hatten, dafür zwei Monate in der Bastille zubringen. Um ihnen die Zeit zu verkürzen, wurde vom Gouverneur ein Billard angeschafft. Einem Edelmann, der mit seinem Bedienten in die Bastille einzog, was bei vornehmen Herren die Regel war, wurde am ersten Tag ein Mittagsessen in die Zelle gebracht, das ihm vortrefflich schmeckte. Es war gesunde und sehr reichliche kräftige Kost. Als er damit zu Ende war, brachte man ein zweites Mittagsessen, das aus den erlesensten Leckerbissen bestand. Jetzt bemerkte er seinen Irrtum: er hatte die Mahlzeit seines Bedienten eingenommen, und nun blieb ihm nichts anderes übrig, als die vornehmeren Tafelgenüsse diesem zu überlassen. Unter Ludwig XVI erhielt der Gouverneur täglich hundertfünfzig Livres (nach jetzigem Geldwert mindestens dreihundert Mark) für den Unterhalt von fünfzehn Gefangenen, eine Zahl, die zu dieser Zeit fast nie erreicht wurde. Es wurde ihm also geradezu zur Pflicht gemacht, die Opfer der Tyrannenwillkür fürstlich zu verpflegen. Freilich hatte das Wohlleben in dem Gefängnis seine schlimmen Seiten. Der allzu reichlichen Nahrung bei geringer Bewegung oder Arbeit ist vielleicht die große Zahl von Wahnsinnsanfällen in der Bastille zuzuschreiben.

Doch kommen wir endlich zur Eisernen Maske, die zu so viel Schauerromanen und gewagten historischen Hypothesen Anlaß gegeben hat! Das Geheimnis darf jetzt als gelöst betrachtet werden, nachdem die boshafte, jeder sicheren Grundlage entbehrende Vermutung Voltaires, die Alexandre Dumas im „Vicomte de Bragelonne“ mit seiner ebenso fruchtbaren als oberflächlichen Phantasie in die weitesten Kreise getragen hat, endgültig überwunden worden ist. Schon im Jahre 1770 war die Wahrheit von dem in Pfalzburg lebenden elsässer Baron von Heiß entdeckt und im „Journal Encyclopédique“ mitgeteilt worden; aber der bescheidene Gelehrte konnte nicht aufkommen gegen den berühmten Patriarchen von Ferney, der dreimal ansetzte und immer bestimmter den Mann mit der eisernen Maske als einen Stiefbruder Ludwigs XIV bezeichnete.

Die Wahrheit ist weniger romantisch, aber historisch um so interessanter, weil sie für die zugleich gewaltsame und heimtückische auswärtige Politik des „Sonnenkönigs“ charakteristisch ist. Im Jahre 1632 war die feste Stadt Pinerolo (Pignerol) in Piemont in französischen Besitz gelangt. Das machte Ludwig XIV und seine Minister lüstern, noch mehr Erwerbungen in Oberitalien zu machen und das Haus Savoyen zu verdrängen. Sie warfen ihre Augen auf Casale, das dem liederlichen und tiefverschuldeten Herzog von Mantua gehörte. Im Besitz von Pinerolo und Casale hätten sie Turin wie mit einer Zange packen können. In Mantua war im Jahre 1674 nächst dem Herzog der damals 37jährige Graf Ercole Antonio Mattioli (in Frankreich meist Matthioli geschrieben) die wichtigste Persönlichkeit im Staate. An ihn machte sich nun der intrigante französische Gesandte in Venedig, der [32] Abbe d’ Estrades, und schlug ihm den Verkauf von Casale vor. Mattioli ging darauf ein. Es wurde ein Preis von hunderttausend Thalern ausgemacht und Ludwig XIV schrieb eigenhändig am 12. Januar 1678 an Mattioli einen Dankesbrief. Im folgenden Winter kam dieser nach Paris, und am 8. December wurde der Vertrag in Versailles unterzeichnet. Mattioli erhielt einen Diamantring und hundert Doppellouis zum Geschenk. Zwei Monate später erfuhr man jedoch, daß Mattioli selbst das Geheimnis um Geld an die Höfe von Wien, Madrid und Turin und die Republik von Venedig verraten hatte und daß deswegen der französische Gesandte Baron d’ Asfeld, der mit Mattioli die Ratifikationen austauschen sollte, in Mailand verhaftet und den Spaniern ausgeliefert worden war. So entging den Franzosen Casale und stand der König von Frankreich obendrein beschämt den übrigen Höfen gegenüber. Um aber noch zu retten, was zu retten war, und allen weiteren Indiskretionen die Spitze abzubrechen, lockte der Abbe d’ Estrades den Grafen Mattioli, der noch nicht wußte, daß er durchschaut war, nach Turin und entführte ihn von dort mit Hilfe des Generals Catinat nach Pinerolo. Es scheint, daß sowohl der Herzog von Savoyen als der von Mantua mit diesem Handstreich einverstanden waren. Es war aber dennoch eine Verletzung des Völkerrechts, denn Mattioli hätte in Mantua zu gerichtlicher Verantwortung gezogen werden sollen. Ludwig XIV maßte sich also widerrechtlich die Rolle des Richters an und verurteilte Mattioli mit noch stärkerer Rechtsverletzung ohne Prozeß zu lebenslänglicher Haft, die er zuerst in Pinerolo und dann bis zu seinem Tode am 19. November 1703 in der Bastille zubrachte.

An der Legende von der Eisernen Maske ist schon der Name falsch. Mattioli trug keine eiserne Maske, die er nie hätte abziehen dürfen, sondern, wie mehrere andere Gefangene der Bastille, eine Maske aus schwarzem Sammet, wenn er mit den übrigen Gefangenen oder mit Fremden zusammenkam. Nach und nach wurde jedoch das Geheimnis weniger ängstlich gehütet und in den letzten Jahren Mattioli oft mit andern Gefangenen in die gleiche Zelle gelegt. Als er starb, wurde auf dem Register der Kirche Saint-Paul der Name Marchialy oder Marchioly (die Schrift ist sehr nachlässig und inkorrekt) eingetragen, der sich mit Matthioli näher berührt als mit irgend einem andern der von den Forschern in Betracht gezogenen Namen.

Das ist die wahre Geschichte der Eisernen Maske. Wie entstand nun die Legende? Im Jahre 1745 erschien zuerst in einer anonymen Hofchronik, in der die Skandale von Versailles nach Persien versetzt wurden, die Vermutung, daß der geheimnisvolle Gefangene der Graf von Vermandois, der Sohn Ludwigs XIV und der Louise de la Valliere, gewesen sei. Da derselbe aber urkundlich am 18. November 1683 in Courtrai gestorben ist, so kann er unmöglich bis 1703 unter der schwarzen Maske in der Bastille gelebt haben. Voltaire hatte damals schon zweimal auf kurze Zeit in der Bastille gesessen, vom Mai 1717 bis zum April 1718 wegen eines ebenso beleidigenden als unflätigen Gedichts auf den Regenten und seine Tochter, und im April 1726 zwölf Tage lang, weil er sich an einem Chevalier de Rohan-Chabot, der ihn auf der Straße hatte durchprügeln lassen, in ähnlicher Weise rächen wollte. Er griff den Gedanken auf, daß der maskierte Gefangene von königlichem Geblüte gewesen sei, und machte aus ihm einen Sohn Mazarins und der Königin Anna, einen älteren Stiefbruder Ludwigs XIV. Er beschrieb auch zuerst genau die eiserne Maske, deren unterer Teil nach ihm verschiebbar war, damit der Gefangene sie sogar beim Essen tragen konnte. Er beschrieb sie so gut, daß man in unserem Jahrhundert diese Maske unter einem Haufen alten Eisens in Langres wirklich fand. Eine herzbrechende Inschrift bezeugte ihre Echtheit für fühlsame Herzen und ihre Unechtheit für jeden Vernünftigen.

Unter dem Kaiserreich wurde die Legende dahin umgewandelt, daß die Eiserne Maske der legitime älteste Sohn Ludwigs XIII war, den Mazarin durch seinen eigenen Sohn verdrängt habe. Auf der Insel Sainte-Marguerite habe sich der Gefangene mit der Tochter eines Wärters vermählt und einen Sohn erzeugt, der nach Korsika gebracht wurde und den Namen Buonaparte erhielt. So wurde sogar für die strengsten Legitimisten bewiesen, daß nicht Ludwig XVIII, sondern Napoleon der rechtmäßige Herrscher Frankreichs sei. Noch heute giebt es überdies einen Privatgelehrten Namens Loquin, der in zwei Büchern behauptet hat, Moliere sei nicht im Jahre 1673 nach einer Vorstellung des „Malade imaginaire“ gestorben, sondern auf Betreiben der Jesuiten wegen des „Tartuffe“ in die Bastille gesperrt und als Eiserne oder Sammetne Maske im Jahre 1703 begraben worden.

Noch mehr als das beängstigende Rätsel der Eisernen Maske haben die Memoiren von Latude im achtzehnten Jahrhundert die Bastille mit Schrecken und Grauen umgeben. Der vierundzwanzigjährige Chirurg Jean Henry Aubrespy, der Sohn einer armen Nähterin von Montagnac in Languedoc, hatte in Paris seine bei der Armee gemachten Ersparnisse verpraßt und verfiel nun auf den Gedanken, den Lebensretter der Marquise de Pompadour zu spielen, um eine königliche Belohnung zu erhalten. Zu diesem Zwecke schickte er durch die Post ein kleines, scheinbar explodierbares, in Wahrheit ganz ungefährliches Paket an die Geliebte des Königs, kam aber dessen Ankunft in Versailles in eigener Person zuvor und denunzierte dort zwei unbekannte Attentäter, die er in Paris auf der Straße belauscht haben wollte, wie sie die Absendung ihrer Höllenmaschine beschlossen. Die Geschichte klang so verdächtig, daß sich die Polizei zuerst des Denunzianten bemächtigte und in seiner Wohnung eine Haussuchung anstellte. Diese ergab sehr klar, daß Aubrespy, der sich damals Jean Danry nannte und sich erst später in der Gefangenschaft den Titel eines Vicomte de la Tude beilegte, gleichzeitig Attentäter und Denunziant war.

Trotz dieser Aufklärung zeigte sich die Pompadour, die eben damals den Minister Maurepas hatte in Ungnade fallen lassen und seine Rache fürchtete, sehr beunruhigt. Sie argwöhnte hinter dem Bubenstreich des jungen Feldschers irgend ein Komplott ihrer vornehmen Gegner, und deshalb wurde das einfache Vergehen von der Polizei als hochpolitisches Geheimnis behandelt und Danry wie ein Verbrecher von Rang und Stand am 1. Mai 1749 in die Bastille gebracht. Er selbst leistete diesem Irrtum durch lügenhafte und widerspruchsvolle Aussagen Vorschub, und so kam es, daß sich sein Prozeß ungebührlich in die Länge zog.

Am 28. Juli wurde Danry nach der Festung von Vincennes in der Nähe von Paris übergeführt, die ebenfalls ein Gefängnis für die feine Welt war. Am 15. Juni des folgenden Jahres entwich er von dort auf die einfachste Art. Beim Spaziergang im eingeschlossenen Garten sah er, wie ein großer Hund durch bloßes Anstoßen eine Thüre öffnete, die sonst fest verschlossen war. Durch sie gelangte er ins Freie und floh nach Paris.

Die Freiheit dauerte jedoch nicht lange. Von allen Mitteln entblößt, schrieb Danry an den Leibarzt der Pompadour, den später als Nationalökonom berühmt gewordenen Dr. Quesnay, der ihm einiges Interesse gezeigt hatte. Die Polizei fing den Brief auf und entdeckte so das Versteck des Flüchtlings, der alsbald in die Bastille zurückgebracht und zur Strafe in eines der Kellerverließe gesperrt wurde.

Lange dauerte diese Strafe übrigens nicht. Danry erhielt bald darauf eine gemeinsame Zelle mit dem Marseiller Mathematiker Allègre, der in der Bastille saß, weil er ebenfalls durch die Denunziation eines falschen Komplotts die Pompadour beunruhigt hatte. Danry und Allègre reizten sich gegenseitig auf, da sie beide heftigen Charakters waren, und galten alsbald bei ihrem Wärter für halb oder ganz verrückt. Danry schrieb abwechselnd unterwürfige und beleidigende Briefe an die Pompadour, und als man ihm Tinte und Papier entzog, malte er mit seinem Blut Buchstaben auf Leinwandstücke. Er fand diese Beschäftigung so interessant, daß er sie noch fortsetzte, als man ihm sein Schreibzeug wiedergegeben hatte. In der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1756 entflohen endlich Danry und Allègre, indem sie durch das Kamin auf die Plattform stiegen und sich von dort an einer Strickleiter hinunterließen, die sie mit großer Kunst aus ihren Bettdecken gefertigt hatten und die noch heute im städtischen Museum Carnavalet zu Paris zu sehen ist. Allègre, der später wirklich ganz verrückt wurde, gelangte nur bis Brüssel, weil er die Thorheit beging, von dort seine mächtige Feindin brieflich zu beschimpfen. Danry wurde am 1. Juni in Amsterdam entdeckt und als Ausreißer vom Bürgermeister ohne Bedenken der französischen Polizei ausgeliefert.

Diesmal mußte er drei Jahre im Verließ der Bastille zubringen; aber die haarsträubende Beschreibung, die er in seinen durch und durch lügenhaften Memoiren davon macht, ist stark übertrieben, wie zahlreiche Aktenstücke des Archivs der Bastille, [33] die jetzt gesichtet und katalogisiert in der Arsenalbibliothek zu Paris liegen, darthun. So will er z. B. diese ganze Zeit an Händen und Füßen gefesselt zugebracht haben, während ein Bericht darthut, daß ihm schon nach sechs Monaten die Fußschellen abgenommen wurden. Daß die Nahrung gut blieb, zeigt eine Notiz, wonach sich Danry lebhaft darüber beklagt, daß man ihm Geflügel vorsetze, das nicht gespickt sei. Auch in der Kleidung war er sehr anspruchsvoll. Einmal verlangte er einen blauen Schlafrock mit roten Streifen, und der Bericht eines Offiziers erklärt umständlich, warum dieser kühne Wunsch nicht befriedigt worden sei.

Am 19. April 1764 starb die Pompadour, die man mit Recht die schwerste Last Frankreichs genannt hatte. Der sehr humane Polizeidirektor de Sartine bemühte sich nun ernstlich um Danrys Freilassung. Der Gefangene wurde wieder nach Vincennes gebracht, wo er häufiger ins Freie gehen konnte. Hier verwandelte er sich in den Vicomte Masers de la Tude, weil er gehört hatte, daß in seiner Heimat ein Marquis dieses Namens gestorben war, den er nun ohne weiteres als seinen Vater annektierte. Als Vicomte verlangte er neben seiner Freilassung auch eine Entschädigung von 150 000 Franken und das Ludwigskreuz.


Die Bastille.


Trotz dieser neuen Extravaganz war Sartine auf dem Punkte, seine Befreiung durchzusetzen, als Latude, wie wir ihn von nun an nennen wollen, die Thorheit einer neuen Flucht beging, als er in starkem Nebel von einem Soldaten spazieren geführt wurde. Er wurde alsbald wieder eingefangen, weil er in Paris blieb und von dort aus allerlei technische Erfindungen verschiedenen berühmten Persönlichkeiten anbot. In der neuen Gefangenschaft vermehrten sich seine Wutanfälle, so daß er im September 1775 in die Irrenanstalt von Charenton versetzt wurde. Sein Zustand besserte sich dort rasch, und am 5. Juni 1777 wurde ihm endlich die langersehnte Freiheit unter der Bedingung geschenkt, daß er in seine Heimat Languedoc zurückkehre. Latude blieb aber in Paris, schrieb Drohbriefe und Bettelbriefe an alle Welt und wurde am 16. Juli 1777 wieder gefangen gesetzt, weil er in Saint-Bris bei Auxerre in das Haus einer alleinstehenden Edelfrau eingedrungen war, um von ihr durch Drohungen Geld zu erpressen. Diesmal wanderte der selbstgeadelte Vicomte weder nach der Bastille, noch nach Vincennes, sondern in das Diebsgefängnis von Bicêtre. Aus Rücksicht auf seine usurpierten Ahnen nahm denn auch Latude hier den bürgerlichen Namen Jedor an. Die fünf ersten Jahre in Bicêtre waren in der ganzen Reihe der dreiunddreißig Kerkerjahre allein wirklich bitter zu nennen. Latude hatte immerhin auch hier Gelegenheit, Bittschriften über Bittschriften in die Welt zu schicken. Im Jahre 1782 fand nun zu seinem großen und unverdienten Glück die Händlerin Legros eine solche Bittschrift auf der Straße, wo sie ein Gefangenwärter von Bicêtre verloren zu haben scheint. Diese Frau Legros und in geringerem Grade ihr Mann sind die wahren Helden der Geschichte des zwar beklagenswerten, aber höchst unwürdigen Latude. Von seinem Schicksal tief gerührt, setzte diese einfache Frau aus dem Volke alle Hebel zu seiner Erlösung in Bewegung.

„Es ist ein erhabenes Schauspiel,“ sagt Michelet nicht mit Unrecht, „diese arme Frau in bescheidenem Gewand von Thüre zu Thüre gehen zu sehn, wie sie die Lakaien zu gewinnen weiß, um in die vornehmen Häuser zu dringen und vor den Großen ihre Sache zu verteidigen.“ Dank der Frau Legros entstand in kurzer Zeit in Paris eine allgemeine Bewegung zu gunsten des unglücklichen Latude, an deren Spitze sich die junge Königin Marie Antoinette und die Gattin des Ministers Necker stellten. Am 24. März 1784 verfügte endlich der König, von allen Seiten gedrängt, obschon er den Fall genau kannte, die Freilassung und bewilligte obendrein dem Opfer der Pompadour eine Pension von 400 Livres (nach heutigem Geldwert gegen 1000 Mark).

Der befreite Latude wurde nun erst recht der Held des Tages. Die königliche Pension war bald nur noch der kleinste Teil seines Einkommens. Mochte sein Adel noch so schwindelhaft sein, er erhielt aus der Kasse für arme Edelleute eine Pension von 600 Livres, von der Herzogin von Kingston ebensoviel, vom Präsidenten Dupaty 500, vom Herzog von Ayen 300 Livres, und zwar immer als laufende Pension. In allen vornehmen Gesellschaften war er der begehrteste Gast. Seine lügenhaften Memoiren waren das gelesenste aller Bücher und trugen ihm ebenfalls viel Geld ein. Trotzdem konnte sich der alte Adam nicht ganz verleugnen: bei einer Versteigerung versuchte er mit einem falschen Goldstück zu zahlen und leugnete dann, daß es von ihm herkomme. Bei einem Besuch in England strengte er von dort aus eine Klage an, um von den Erben der Pompadour und andern Leuten 1 800 000 Livres Entschädigung zu fordern. Unter der Republik zog der Vicomte de la Tude seinen Namen vorsichtigerweise in Latude zusammen und gerierte sich als eifriger Sansculotte, um seine Pension zu retten. Im Jahre 1791 wagte es der Abgeordnete Voidel trotzdem, vor der Nationalversammlung die wahre Geschichte Latudes zu enthüllen, und infolgedessen wurde die Pension unterdrückt. Noch war aber die Schwärmerei für den berühmten Gefangenen so groß, daß das Parlament dem Drucke der öffentlichen Meinung nachgeben und die Pension wenige Tage nachher wiederherstellen und auf 2400 Livres erhöhen mußte. Latude erreichte in trefflichster Gesundheit, die dem Regime und der Kost der Bastille ein gutes Zeugnis ausstellt, sein achtzigstes Jahr und starb am 1. Januar 1805 plötzlich an einer Lungenentzündung.

Dies ist die wahre Geschichte des „rührendsten Opfers“ der Bastille. An ihrem üblen Anfang ist die Maitressenwirtschaft am Versailler Hofe schuld und an ihrer langen Dauer die unvernünftige Aufführung des Opfers selbst. Sie hat dennoch das meiste dazu beigetragen, die hochragenden finsteren Mauern am Ende der Rue Saint-Antoine so verhaßt zu machen, daß sich der aufrührerische Pöbel am 14. Juli 1789 nicht mit der ursprünglich beabsichtigten Plünderung des Waffenvorrats begnügte, sondern, wie erwähnt, den Gouverneur und einen Teil der Besatzung niedermachte und das ganze Gebäude zerstörte. Ein eigentlicher Kampf fand dabei nicht statt. Nachdem das Volk über die erste Zugbrücke, die ein geschickter Beilschlag niederfallen ließ, in den Hof des Gouverneurs eingedrungen war, wurde parlamentiert, aber trotz des bewilligten freien Abzugs gleich darauf der Gouverneur de Launey, einige Offiziere und einige Invaliden niedergemacht. Beinahe hätte man in der Verwirrung die Gefangenen vergessen. Man fand ihrer im ganzen Gebäude nur sieben, und wie wenig Teilnahme verdienten sie! Vier davon waren Wechselfälscher, die man keineswegs dem gewöhnlichen Gericht entzogen hatte, sondern deren Prozeß regelrecht instruiert wurde. Der Fünfte hatte sich an einem Attentat auf Ludwig XV indirekt beteiligt und war schon seit langen Jahren geisteskrank. Der Sechste war bereits als Narr in die Bastille gekommen, da seine Familie sie einem [34] Irrenhause vorzog. Diese beiden wurden nach der Zerstörung nach Charenton gebracht, wo sie sicher schlechter aufgehoben waren als in der Bastille. Der Siebente war der Graf von Solages, der als ganz junger Mann ein an Wahnsinn grenzendes abscheuliches Verbrechen begangen hatte und auf Wunsch und Kosten seines Vaters seit 1784 gefangen gehalten wurde. Nach dem damaligen Recht hätte er hingerichtet werden sollen. Er blieb aber als Gefangener der Bastille geheiligt und starb erst 1825 in seiner Familie in Languedoc. Da diese sieben Opfer wenig interessant waren, so erfand die geschäftige Phantasie ein achtes, einen ehrwürdigen Greis und Freiheitshelden, den man den Grafen de Lorges nannte. Er sollte in einem der Kellerverließe gefunden worden sein, aber niemand hat diesen alten Herrn je mit eigenen Augen gesehen. Trotzdem fehlte in der 1888 in Paris aufgestellten sehr interessanten, aber etwas freien Nachbildung der Bastille auch das Verließ mit der Wachsfigur des Grafen de Lorges nicht! Eine konfiszierte Buchdruckmaschine, die man in der Bastille fand, und ein mittelalterlicher Panzer wurden als Folterwerkzeuge ausgegeben. Die Gebeine der im katholischen Kirchhof nicht geduldeten und daher auf der Bastei beerdigten Protestanten, die unter Ludwig XIV in der Bastille ziemlich zahlreich waren, wurden ebenso leichtsinnig als Beweise geheimer Hinrichtungen angesehen. Das alles war freilich thöricht, aber es zeigt wie die ganze Geschichte der Bastille, daß das französische Königtum mit seiner Heimlichthuerei nur das eine erreichte, daß die harmlosesten Dinge zu Ungeheuerlichkeiten aufgebauscht wurden und die geschäftige Fabel die nüchterne Wirklichkeit zu einem phantastischen Zerrbild machte.



  1. Sie sind vortrefflich zusammengestellt worden von F. Funck - Brentano in seinen „Légendes et Archives de la Bastille“ (Paris, librairie Hachette 1898).