Die Wassersucht und die Trunksucht
Niemals ist „Wassersucht“ eine Krankheit, am allerwenigsten eine Krankheit, die vom vielen Wassertrinken herrührt, stets ist sie nur eine Krankheits-Erscheinung, die noch dazu eine Menge der verschiedenartigsten, ebenso gefährlichen wie ungefährlichen Krankheiten ganz verschiedener Organe, wie: des Herzens, der Lunge, der Leber, der Nieren, des Blutes u. s. w., begleiten kann. Deshalb darf man, besonders aber der Arzt, auch nicht sagen: „jener Patient leidet an der Wassersucht“, sondern „er ist wassersüchtig in Folge dieser oder jener Krankheit“. – Freilich ist es sehr bequem für einen Heilkünstler, wenn er nicht weiß, was eigentlich ein Wassersüchtiger für ein Leiden hat, die Wassersucht selbst als das Leiden zu bezeichnen. Dazu braucht man aber wahrlich keinen medicinischen Verstand, wohl aber zur Ergründung der Ursache dieser Krankheitserscheinung.
Wassersucht wird von den Aerzten die krankhafte Ansammlung einer wässrigen Flüssigkeit ebensowohl in dem Gewebe der Organe (Oedem), wie in den Höhlen unseres Körpers (freie Wassersucht) genannt. Es stammt diese wasserhelle, wässrige Flüssigkeit, die übrigens manchmal in ganz enormer Menge (bis zu fünfzig Pfund) vorhanden sein und den ganzen Körper aufschwellen kann, stets aus dem Blute und zwar aus den feinern Blutgefäßchen, tritt bald schnell, bald langsam aus diesen aus, und besteht allerdings zum allergrößten Theile aus Wasser, enthält aber in Auflösung stets auch noch einige Antheile von anderen Bestandtheilen des Blutes (wie Salze, Eiweiß, Fett etc.). Sie bleibt entweder für immer unverändert, zumal wenn die Ursache der Wassersucht ein unheilbares Leiden eines der edleren Organe ist, oder sie wird ganz oder theilweise aufgesogen und wieder in das Blut zurückgeschafft, oder es bilden sich bei ihrem längeren Verweilen allmählich Fettkügelchen und Krystalle in derselben.
Daß eine bedeutendere Wasseransammlung im Körper an Stellen, wo sie nicht hingehört, Beschwerden und Störungen veranlassen wird, ist wohl natürlich. Die meisten Wassersuchten geben sich durch eine schon äußerlich am Körper wahrnehmbare Aufschwellung zu erkennen, die beim Beklopfen einen leeren (d. h. luftleeren, dumpfen) Ton hören und bisweilen, wenn die Spannung nicht zu stark ist, ein Schwappen (Fluctuation) fühlen läßt. Da wo in der Nähe des Wassers beweglich angeheftete Organe befindlich sind, werden diese durch das Wasser von ihrer Stelle verschoben, während unverschiebbare weiche Theile vom Wasser zusammengedrückt werden. So entstehen denn durch die Spannung, den Druck und die Verschiebungen, welche das Wasser veranlaßt, die mannigfachsten Störungen in der Ernährung, Empfindung und Thätigkeit verschiedener Organe.
Wenn also Wassersucht ein Symptom von vielen, sehr verschiedenartigen Entartungen ganz verschiedener Theile unseres Körpers ist, so versteht es sich wohl von selbst, daß über den Verlauf, den Ausgang und die Behandlung der Wassersucht im Allgemeinen gar nicht gesprochen werden kann und darf, sondern daß jeder einzelne Fall von Wassersucht seine besondere Beurtheilung verlangt. So verhält sich die Sache nicht blos dann, wenn der größere Theil (die untere Hälfte) des Körpers wassersüchtig geschwollen ist, sondern auch in allen Fällen, wo sich Wasser nur an einer kleinern Stelle, in einer einzelnen Höhle, angesammelt hat. Es ist deshalb ein Zeichen von Unwissenschaftlichkeit sonder Gleichen, wenn in homöopathischen Heilmittellehren Mittel gegen Brust-, Bauch-, Herzbeutel-, Kopf-, Haut- und andere Wassersuchten angegeben werden. Doch wer sucht und findet aber auch bei der Homöopathie, bei dieser Laienblödsinnsmedicin, nur eine Spur von Wissenschaftlichkeit?
Schließlich sei noch erklärt, daß es eine Brust- und Herzbeutelwassersucht, die viele Laien, ja sogar auch manche Aerzte, Personen andichten, die an starken Athmungsbeschwerden (Asthma) leiden, gar nicht gibt. Allerdings kann sich auch widernatürlich viel Wasser in den Brustfellen und im Herzbeutel ansammeln, allein dies ist in der Regel nur dann der Fall, wenn die Theile unterhalb der Brust, also der Bauch und die Beine, schon stark wassersüchtig angeschwollen sind, so daß also obige Wassersuchten nur der allgemeinen Wassersucht angehören und nicht für sich bestehen.
Weder eine Krankheit, noch eine Krankheits-Erscheinung ist die Trunksucht, d. i. der anhaltende und zur Gewohnheit gewordene Genuß größerer Mengen stark-geistigen Getränkes, sondern ein schwer zu bekämpfendes Laster, welches Krankheit erzeugt, indem es anfangs auf einzelne Organe (Magen, Leber, Herz, Lunge, Gehirn), endlich aber auf das Blut und durch dieses auf die Ernährung des ganzen Körpers feindselig einwirkt. Besonders ruft der zu reichliche oder zu häufige Genuß von fuseligem Branntwein, bei Sorge und Noth, bei wenig und schlechter Nahrung, schlechter Wohnung und Kleidung gefährliche Krankheitszustände hervor.
Der beim Genusse spirituöser Getränke in den Magen gelangte Weingeist (Alcohol, Spiritus) tritt, nachdem er den Magen widernatürlich gereizt und in feurige Röthe versetzt hat, in den Blutstrom ein und stört von hier aus, wenn er nicht etwa vorher [345] in den Lungen ausdampft, die Ernährung und Thätigkeit des Gehirns, gleich den betäubenden Giften. Er erzeugt zuerst die bekannten Symptome geistiger Aufregung, des Rausches, endlich aber bei höheren Graden von Betrunkensein Bewußtlosigkeit und Betäubung. Ja es kommt sogar vor, daß Personen während einer übermäßigen oder allzulange dauernden Berauschung rasch, fast schlagflußähnlich starben (d. i. die acute Weingeistvergiftung); dabei ist der Athem keuchend und röchelnd, das Gesicht bläulich roth und gedunsen. In solchen Rauschzuständen schwerer Art (Besoffenheit), die besonders dann schlimm ablaufen, wenn die Pupille sehr erweitert und gegen Licht unempfindlich ist, die Glieder schlaff sind und jeder Erweckungsversuch fruchtlos bleibt, sind zuvörderst die engen Kleider zu lösen, der Kopf hoch und kühl zu legen, und für frische Luft Sorge zu tragen; außerdem ist der Magen durch Erbrechen (mittels Kitzeln im Schlunde oder Brechmittel) oder von Seiten des Arztes durch die Magenpumpe zu entleeren. Gegen die Betäubung gebrauche man zuerst kalte Sturzbäder auf den Kopf und kalte Anspritzungen an Gesicht und Brust, sodann kalte Wasser- und Essigumschläge über den Kopf; man reiche starken schwarzen Kaffee und halte Salmiakgeist (englisches Riechsalz) vor die Nase. Nach Beseitigung der oben angegebenen gefährlichen Symptome bringe man den Betrunkenen in einem kühlen luftigen Zimmer mit erhöhtem Kopfe und Brustkasten zu Bette.
Führt die Trunksucht nicht plötzlich zum Tode, sondern ruft allmählich, unter reichlicher Bildung eines blassen schmierigen Fettes (besonders unter der Haut und im Bauche, in der Leber und am Herzen), Veränderungen einer Menge von wichtigen Organen (besonders des Magens, der Lunge, des Herzens und der Blutgefäße, der Leber, Nieren und des Gehirns) hervor und zieht den Tod durch Schlagfluß, Lungenentzündung und Lungenbrand, Herzzerreißung oder Wassersucht (besonders Bauchwassersucht in Folge von Leberverhärtung) nach sich, dann wird sie die chronische Säuferkrankheit genannt. In ihrem Verlaufe kann der sogen. Säuferwahnsinn zu öfteren Malen auftreten. – Die ersten krankhaften Erscheinungen bei der chronischen Säuferkrankheit äußern sich durch Verdauungsstörungen in Folge chronischen Magenkatarrhs: Appetitlosigkeit, Uebelkeit, saures Aufstoßen, Würgen und Erbrechen von wässerig-schleimiger Flüssigkeit im nüchternen Zustande; hierzu gesellt sich später Sodbrennen, Magenschmerz und selbst Blutbrechen. Die Haut, oft juckend, wird nach und nach schmutzig fahl, widernatürlich fettig-glänzend oder rauh und spröde; auf Wangen und Nase bilden sich bläulichrothe Gefäßnetze und Blüthen verschiedener Größe (die Gesichtssinne). Die Miene des gedunsenen Gesichtes ist beim Säufer verstört und wild oder schläfrig und mürrisch; das Ergriffensein des Gefäß- und Athmungsapparates gibt sich durch Herzklopfen, große Unruhe, Husten mit zähem Auswurfe, rauhe Stimme und Heiserkeit, beschwerliches Athmen (asthmatische Anfälle) zu erkennen. Daß das Gehirn- und Nervensystem, auf welches ja der Weingeist stets am ersten und heftigsten feindlich einwirkt, nicht ungestört in seiner Ernährung und Thätigkeit bleibt, ist wohl selbstverständlich. Das Ergriffensein des Hirn-Nervensystems äußert sich zuerst durch die den Trunkfälligen eigenthümliche sittliche Entartung, bald mehr als Wildheit, Rohheit, Streitsucht und Zornmüthigkeit, bald mehr als Mißmuth, Unentschlossenheit, Trägheit und Unordentlichkeit. Dann findet sich Muskelschwäche und Zittern, besonders des Morgens im nüchternen Zustande ein (d. i. das Säuferzittern), so daß der Kranke solange geistig und körperlich geschäftsunfähig ist, bis er seine gewohnte Portion Weingeist in sich hat. Nach und nach stellen sich immer mehr und mehr Störungen in den Bewegungen und Empfindungen ein, Sinnestäuschungen gesellen sich dazu und es kommt zu periodischen Anfällen des
Säufer- oder Zitterwahnsinns (delirium tremens). Es bricht derselbe bisweilen plötzlich durch irgend eine zufällige Veranlassung (in Folge einer Gemüthsbewegung, Verletzung, Erkältung u. s. w.) aus, manchmal aber nach und nach unter Vorangehen der eben genannten Nervenstörungen (Unruhe, Aengstlichkeit, Zittern, Schlaflosigkeit). Der Kranke zeigt außerordentliche Unruhe und Beweglichkeit, ängstliche Hast in Allem, was er vornimmt; er ist schlaflos oder schläft einen unruhigen Schlaf mit schreckhaften Träumen; er wird von Sinnestäuschungen (Hallucinationen) arg heimgesucht, denn er glaubt selbst im wachen Zustande kleine Thiere, Mäuse, Katzen, Schlangen, Spinnen u. dgl. zu sehen, hört allerlei Stimmen und Lärmen, hat sonderbare Geschmäcke und Gerüche und phantasirt von Dieben oder Gespenstern, von Reisen, Fliehen und von Furcht vor Strafe. Der Kranke ist sehr redselig, aber meist nicht boshaft, nur selten tobend und mit Neigung zum Zertrümmern; er schwatzt und lärmt; er antwortet selbst auf manche Fragen richtig, sogar mit Witz, meist mit lallender stammelnder Zunge und zitternden Lippen; er kennt bisweilen die Umgebung, beachtet sie aber auch dann nur wenig. Der Gesichtsausdruck ist bald ängstlich und furchtsam, bald dem Blödsinn ähnelnd, bald die höchste Sorglosigkeit und Fröhlichkeit ausdrückend, lachend, fast wie bei dem Wahnsinne; die Augen gläsern, schwimmend, leicht geröthet und in steter Bewegung. – Die Dauer eines solchen Wahnsinnanfalles ist kurz; er endet entweder in 3 bis 4 Tagen durch einen tiefen ruhigen Schlaf, worauf der Kranke keine Erinnerung mehr an das im Anfalle Vorgefallene hat, oder er zieht ein tödtliches Leiden eines der lebenswichtigen Organe, besonders der Lunge und des Gehirns, nach sich und führt so zum Tode, nicht selten auch zum Selbstmorde. Das delirium tremens kehrt gern nach einem kürzeren oder längeren Zeitraume zurück und wird in diesen Rückfällen immer heftiger und gefährlicher. Sehr ungünstige Zeichen sind: völlige Schlaflosigkeit, heftige Angst und Todesfurcht, sehr starkes Zittern, Furcht vor dem Hinfallen, Schielen, Lähmungen. – Die Behandlung des Säuferwahnsinns verlangt vor Allem Beruhigung des Kranken und deshalb ist Opium hier ein kaum zu entbehrendes Heilmittel. Uebrigens lasse man den Kranken ohne direkte Zwangsmittel und ohne viel Hin- und Herreden sich austoben und beschränke sich auf stete Beaufsichtigung desselben. Man entferne von ihm alle Sinnesreize (besonders helles Licht) und Alles, was seine Phantasie anregen könnte.
Was nun die Behandlung der chronischen Säuferkrankheit betrifft, so kann diese ohne alle Arzneien geschehen, Patient ist aber freilich an strenge Enthaltsamkeit von spirituösen Getränken und an regelmäßiges reizloses Essen zu gewöhnen. Anstatt der Spirituosen können leichte (bittere) Biere und Kaffee empfohlen werden; geregelte Bewegung (Turnen, Fußreisen), kräftiges und öfteres Einathmen frischer Luft und häufiges Reinigen der Haut (Bäder) beschleunigen die Herstellung. Zur Erzielung des nöthigen ruhigen Schlafes ist das Opium bisweilen ganz unentbehrlich. – Zur Abgewöhnung des Branntweingenusses hat man ekelerregende Mittel (Brechweinstein oder Ipecacuanha) in kleinen Mengen in den Branntwein gemischt, oder alle Speisen und Getränke mit Branntwein versetzt. Selten haben noch diese Methoden geholfen, öfter dagegen der feste Wille des Trinkers, das Trinken zu lassen. Freilich dürfte dieser wohl nicht bei Solchen gefunden werden, welche so denken, wie einer meiner Patienten, der im Delirium zu seiner Entschuldigung sagte: „wenn die Natur zum Saufen mich erschuf, was kann ich machen?“