Die Wirren auf Kreta
Die Wirren auf Kreta.
Als Gott die Welt geschaffen hatte, nahm er Blumen und Steine und füllte damit die Falten seines Gewandes. Die Blumen bedeuteten Glück und Freuden, die Steine dagegen Trauer und Unheil. Gott schwebte nun im Fluge über die Erde und ließ auf die verschiedenen Länder Blumen und Steine in gleichen Mengen fallen, als er aber über Kreta kam, riß die Falte seines Gewandes, in der sich die Steine befanden, und diese fielen auf das Eiland. Gott vergaß, Blumen zu streuen – und damit war Kretas Verhängnis besiegelt. –
Also erzählt eine Legende, die im Christenvolke auf Kreta von Mund zu Mund geht und auch in vieler Beziehung auf die letzten hundert Jahre kretischer Geschichte paßt – aber doch nicht ganz wahr ist wie alle Märchen, Fabeln und Gleichnisse. Kreta ist heute unglücklich, aber von jeher war es nicht zum Unheil verdammt. Die Schöpfung hat das Eiland keineswegs stiefmütterlich behandelt. Felsen giebt es auf ihm freilich in wildester Fülle, aber nicht immer ragten sie so kahl zu dem blauen südlichen Himmel empor. Einst war Kreta vielmehr berühmt durch seine herrlichen Wälder, der Ruf seiner würzigen Kräuter drang nach drei Weltteilen und von dieser Insel holten einst Asien, Afrika und Europa wertvolle Heilmittel. Kreta war die Schatzkammer der „Apotheker“ und Aerzte des Altertums. So herrlich war die Natur, so mild waren die Lüfte, die über den grünen Bergen und blühenden Thälern strichen, daß man Kreta die „glückliche Insel“ nannte. Von ihr sang Homer:
„Kreta heißet ein Land in der Mitte des dunkelen Meeres,
Fruchtbar und anmutvoll, umwogt rings; siehe darin sind
viel’ unzählbare Menschen, die neunzig Städte bewohnen.“
Ja, das alte Kreta erfreute sich eines herrlichen Wohlstandes, feurige Weine gediehen auf seinen Hügeln und feurig waren die Lieder kretischer Dichter. Soll doch Thaletas von Gortyna einst die Spartaner durch seine Weisen von einer schweren epidemischen Krankheit befreit haben! Auf dieser Insel hat die Wiege vieler hervorragender griechischer Künstler und Philosophen gestanden. Gewiß, die herrlichsten Blüten, welche Menschen beglücken, haben sich einst auch auf Kreta üppig entfaltet, und daß sie heute verwelkt und verdorrt sind, daran ist nicht die Schöpfung schuld, sondern der Mensch allein. Nur zu häufig wurde die Insel durch Kriegsstürme heimgesucht, sie wechselte im Laufe der Geschichte oft die Herren, und das Maß des Elends ward voll, als sie vor etwas mehr als zweihundert Jahren von den Türken erobert wurde.
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Damals zählte Kreta, das etwa halb mal so groß ist wie das Königreich Württemberg, gegen eine Million Einwohner, heute beträgt die Einwohnerzahl nur etwa eine Viertelmillion. Ehemalige Städte liegen in Trümmern, die fruchtbaren Thäler sind zum Teil verödet. Wahr ist ja das Sprichwort, daß unter der türkischen Herrschaft selbst das Gras nicht wachsen will – wenigstens nicht in den Ländern, wo das Kreuz sich unaufhörlich gegen den Halbmond erhebt. Und Kreta ward von den Türken niemals gänzlich unterjocht. Die Balkanvölker haben ihre „Schwarzen Berge“ in dem kleinen Montenegro, das alle Stürme der Muselmanen tapfer zurückschlug. Kreta ist stolz auf seine „Weißen Berge“, in denen stets eine Schar unbezwungener Kreter ihre Unabhängigkeit zu wahren wußten. In jenen Bergen im Südwesten der Insel, die während der Wintermonate den glänzend weißen Schneemantel tragen, in den wildzerklüfteten Hochthälern der Landschaft Sphakia sann man seit zwei Jahrhunderten auf Rache, träumte den Traum der goldenen Freiheit, nährte den Haß gegen den Türken, der die christliche Bevölkerung in das Joch der Sklaverei gespannt hatte. Mochten noch so viele der kretischen Griechen in den Städten und Dörfern an der Meeresküste sich vor dem Sieger gebeugt und das Kreuz verleugnet haben, die Söhne der Berge blieben dem Glauben ihrer Väter treu und kannten nur eine Losung: den Kampf gegen die fremden Bedrücker. Ein ewiger Krieg mildert nicht die Sitten. Das zeigte sich auch vielfach bei den kretischen Christen, sie wurden hart und grausam, aber ihrer Tapferkeit, ihrer zähen Ausdauer muß man die vollste Anerkennung zollen.
Die Aussichten der Kreter auf endliche Abschüttelung des verhaßten Joches erhielten zu Anfang dieses Jahrhunderts neue Nahrung, als der Aufstand in Morea ausbrach und das Volk der Hellenen erfolgreich um seine Freiheit kämpfte. Im Maimonat des Jahres 1821 entfalteten auch die Sphakioten ihr Kriegsbanner und ihrem Beispiel folgte der Rest der christlichen Bevölkerung. Die Mohammedaner wurden in die befestigten Küstenstädte zurückgedrängt, jahrelang tobte der Kampf, aber Europa sah sich nicht bewogen, Kreta mit dem befreiten Mutterlande zu vereinen. Es wurde den Türken überliefert und der Vicekönig von Aegypten übernahm die Beruhigung der Insel. Die Christen wurden besiegt, aber die Bedrückungen, denen sie ausgesetzt waren, ließen den Haß stets von neuem auflodern. Aufstände folgten auf Aufstände, der Vernichtungskampf tobte auf Kreta in den Jahren 1833, 1841, 1858, 1866 bis 1869, 1887 und 1889. Selbstverständlich wurden die Aufständischen stets vom Mutterlande unterstützt.
Die letzte Erhebung der Kreter, die im vorigen Jahre stattfand, steht noch in frischer Erinnerung; sie gab den europäische Großmächten Anlaß zu einem diplomatische Einschreiten; die Türkei wurde genötigt, der vielgeprüften Inselbevölkerung Erleichterung zu gewähren, es sollten Reformen eingeführt werden und man hoffte, daß bei der neuen Gestaltung der Dinge Christen und Mohammedaner friedlich nebeneinander leben würden. Leider wurden diese Reformen nicht rasch genug ins Werk gesetzt und die Unruhen brachen auf Kreta von neuem los, ja, sie gewannen eine Bedeutung wie kaum einer der früheren Aufstände.
Bereits Ende Januar dieses Jahres kam es zu Reibungen zwischen der christlichen und der mohammedanischen Bevölkerung und Anfang Februar wurden die Parteien miteinander handgemein, Kanea, die wichtigste an der Nordküste gelegene Hafenstadt Kretas, die gegen 12 000 Einwohner zählt, wurde zum Schauplatz wütender Straßenkämpfe.
Am 5. Februar stand das christliche Viertel in Flammen, die gefüllten Oelspeicher gaben dem Feuer mächtige Nahrung, während türkische Haufen plündernd und sengend einbrachen und den Schrecken vermehrten. In dieser Not griffen die europäischen Kriegsschiffe, die im Hafen von Kanea ankerten, helfend ein, sie landeten Mannschaften, um das Feuer zu löschen und den Rückzug der Christen aus der bedrohten Stadt zu decken. Zu ähnlichen Zusammenstößen kam es auf anderen Punkten der Insel. Das waren Flugfunken, die einen längst aufgehäuften Zündstoff in Brand steckten.
Alle Erhebungen der Christen auf Kreta haben stets den lebhaftesten Wiederhall in Griechenland gefunden. Auch diesmal arbeitete eine starke Volkspartei dahin, Kreta mit dem Königreiche zu vereinigen, und der Geheimbund „Ethnike Hetairia“ verstand es, die öffentliche Meinung derart aufzuregen, daß die Volksmassen selbst die Vereinigung der Insel mit Griechenland stürmisch verlangten. Diese Patrioten, die auf die Befreiung aller Griechen von der türkischen Herrschaft hinarbeiten, machten dadurch den verzweifelten Versuch, die orientalische Frage aufzurollen, den Krieg mit der Türkei anzuzetteln und somit den Weltfrieden zu bedrohen. Die griechische Regierung konnte ihnen nicht widerstehen. Man hoffte, daß einige Großmächte aus verwandtschaftlichen Rücksichten auf die Familie des Königs von Griechenland der Einverleibung Kretas zustimmen würden.
König Georg ist ein Däne; er wurde am 24. Dezember 1845 als Sohn Christians IX., Königs von Dänemark, geboren und, als er achtzehn Jahre alt war, zum König von Griechenland gewählt. Im Jahre 1863 bestieg er den Thron und im Jahre 1869 heiratete er die russische Großfürstin Olga Konstantinowa, sein ältester Sohn, Kronprinz Konstantin, Herzog [218] von Sparta, ist seit 1889 mit einer Schwester des Deutschen Kaisers, Prinzessin Sophie, vermählt. Besondere freundschaftliche Bande bestehen ferner zwischen dem zweitältesten Sohne König Georgs, dem Prinzen Georg, und dem Zaren. Prinz Georg machte im Jahre 1890, als Kaiser Nikolaus noch Thronfolger war, dessen bekannte Orientreise mit. Er war es, der in Japan, als ein Fanatiker auf den Zarewitsch ein Attentat versuchte, diesem das Leben rettete. Prinz Georg hat die Marine zu seinem Beruf erwählt, er ist ein gewandter Seemann und dabei der populärste Prinz in Griechenland. Er steht jetzt im Alter von 27 Jahren und gewinnt die Herzen schon durch seine äußere Erscheinung.
Auf die Nachsicht der mächtigen Verwandten und Freunde mag wohl König Georg gerechnet haben, als er dem Drängen seines Volkes nachgab und thätig in die Gestaltung der Geschicke Kretas eingriff. Am 8. Februar hatten die Aufständischen in Chaleppa, einer Vorstadt Kaneas, die griechische Flagge gehißt und die Vereinigung mit Griechenland proklamiert. Dieses Vorgehen wurde in Athen gutgeheißen; in der Nacht vom 11. Februar verließ Prinz Georg mit einer Torpedoflottille den Hafen von Piräeus und dampfte nach Kreta, um dort die Landung türkischer Truppen zu verhindern, ihm folgte Oberst Vassos mit einem Kommando griechischer Truppen um im Namen seines Königs Besitz von der Insel zu ergreifen; zugleich rüstete Griechenland zu Lande und zog an der türkischen Grenze Truppen zusammen. Die Admirale der europäischen Kriegsschiffe, die im Hafen von Kanea lagen, ließen indessen Marinesoldaten landen und hißten auf den Wällen der Stadt neben der türkischen die Flaggen der von ihnen vertretenen fünf Großmächte, zu denen sich später, nach erfolgter Ankunft der „Kaiserin Augusta“ auch die deutsche Flagge gesellte.
Groß war der Jubel der kretischen Freischaren, als Oberst Vassos bei Platania in der Nähe von Kanea landete. Nicht weit davon liegt am Meeresufer das Kloster Gonia, das seit jeher jede aufständische Bewegung eifrig gefördert hat. Die Mönche hießen ihn von Herzen willkommen denn die Klosterbrüder auf Kreta sind stets der nationalen Bewegung ergeben gewesen. Viele von ihnen haben im Freiheitskampfe die Flinte geführt, aus ihren Reihen ist auch der angesehenste Führer der gegenwärtigen Erhebung hervorgegangen: Pappa Maleko, dessen Bildnis wir S. 217 bringen. Er ist oft über das Meer nach Athen gefahren, um den Kriegszug gegen die Türken zu predigen, er besorgte Wassereinkäufe und zog in den Kampf, die Flinte in der einen, das Kreuz in der anderen Hand. In das Lager von Platania strömten die Insurgenten herbei, setzten dort das griechische Käppi auf und rückten mit dem Obersten gegen kleinere türkische Festungen vor. Die Stunde der Vergeltung schien gekommen. Von dem Taumel des Uebermuts erfaßt, achteten die Aufständischen nicht auf die Warnungen der Admirale der fremden Kriegsschiffe, die vor Kanea lagen, und schickten sich selbst zum Sturm gegen die Stadt an, die von europäischen Marinesoldaten besetzt war und von deren Wällen die Flaggen der Großmächte neben der türkischen wehten. Da wurde ihnen durch den Mund der Kanonen der Wille Europas verkündet.
Dort aber, wohin die Geschütze der Kriegsschiffe nicht reichten, sah es auf Kreta traurig aus. Zwischen den Mohammedanern und den Christen entbrannte ein wahrer Vernichtungskampf. Vor den Hafenstädten Kandia und Retimo rötete sich der Himmel von der Lohe brennender Dörfer. Die untere Abbildung auf dieser Seite zeigt das dicht am Strande gelegene Retimo. Die Stadt wird von einer Festung, überragt die auf trotzigem Felsen erbaut ist. Als Vorlage zu dieser Abbildung sowie der des Klosters Gonia sind die stimmungsvollen Landschaften Joseph Wincklers in Elpis Melenas Werke „Erlebnisse auf Kreta“ benutzt worden.
Inzwischen wurde erfreulicherweise eine Einigung der Großmächte erzielt. Dieselben forderten Griechenland auf, seine Truppen aus Kreta und seine Kriegsschiffe aus den kretischen Gewässern zurückzuziehen und versprachen zugleich, der vielgeprüften Insel von der Türkei die Selbstverwaltung auszuwirken. Während wir diese Zeilen niederschreiben, dauern die diplomatischen Verhandlungen noch fort. Die Hoffnung ist nicht ausgeschlossen, daß Griechenland mit den Forderungen der Großmächte Europas einen Kompromiß schließen werde, ohne dieselben zu nötigen, Zwangsmaßregeln zu ergreifen. Alle Freunde des Friedens sind in diesem Wunsche einig.
Ob auch die Kreter sich mit der Entscheidung der Mächte zufrieden geben werden? Ihre Insel wird ja keine Provinz des griechischem Königreichs, aber sie wird trotzdem vom türkischen [219] Joche befreit. Eine weitgehende Autonomie ist dem Lande gesichert und somit sollte man hoffen dürfen, daß der Grund zu weiteren Aufständen beseitigt sei. Im Besitze der freien Selbstverwaltung, unter dem Schutze Europas, soll die Insel die Wohlthaten des Friedens genießen. Wenn aber eine wirkliche Wendung zum Besseren erzielt werden soll, muß der Kreter freilich auch an sich selber arbeiten. An Stelle des unauslöschlichen Hasses muß Nächstenliebe und Achtung des Nachbarn treten. Vom Türkenjoche wird der Kreter wohl befreit werden, aber wird er nicht auch dann noch unter dem Joche der Barbarei seufzen? In den Bergen herrscht noch die Sitte der Blutrache und fordert schreckliche Opfer, das Volk ist von düsterem Aberglauben befangen, nach seinen Vorstellungen treiben sich dort Menschen als Vampire umher und oft werden die vermeintlichen Zauberer und von bösen Geistern Besessenen unter schreckliche Qualen hingemordet. Das sind die inneren Feinde Kretas, die bezwungen werden müssen, wenn jemals wirklicher Friede auf dem Eilande herrschen soll. Gegen diese müssen jetzt die wahren Freunde der Inselbevölkerung helfen. – Gelingt es ihnen, Bildung zu verbreiten, Duldung in die Herzen zu pflanzen, die Sitten zu bessern, dann wird Kreta aufblühen. Heute erzeugt das Land wenig, Sphakia liefert vorzüglichen Käse, der als „die Blume des Käses weit und breit“ in der Levante bekannt ist, hier und dort wird vortreffliche Seide gebaut, der Hauptartikel ist das Olivenöl, aber es ist so schlecht, daß es zumeist zur Seifenfabrikation verwendet wird, auch der Wein wird so urwüchsig bereitet, daß er außerhalb des Landes kaum Abnehmer findet. Kreta, das früher viermal so viel Menschen ernährte, muß heute Getreide einführen.
Hoffen wir, daß nunmehr ein dauernder Friede hergestellt wird. Wenn dann der Kreter die Flinte beiseite legt, die neugewonnene Freiheit weise ausnutzt und fleißig hinter dem Pfluge einhergeht, so wird auch ihm aus dem verödeten Boden reichlich der Segen des Friedens emporsprießen.