Die erste Rede des Antiphon
[194] DIE ERSTE REDE DES ANTIPHON.
Die erste Rede des Antiphon hat die verschiedenste Beurtheilung erfahren, natürlich auch die Verurtheilung. Ich beabsichtige nicht mich mit dieser modernen Litteratur einzulassen, da sie sich von selbst erledigt, sobald die Grundlage gewonnen ist, auf welcher das Urtheil allein aufgebaut werden kann, die Einsicht in den Rechtshandel, für den die Rede verfasst ist. Diese gewinnen wir nothgedrungen allein aus der Rede; aber es bleibt keine Unklarheit, da der Verfasser zwar die Thatsachen in ein seinem Interesse entsprechendes Licht gerückt hat, aber in keinem Punkte die Unwahrheit sagt. Der Rechtsfall ist folgender. Ein Athener, nennen wir ihn N., hatte in der Stadt ein Haus, das er mit seiner Familie bewohnte; im Oberstock war eine Wohnung an einen gewissen Philoneos vermiethet. Ausserdem besass er ein Landlos auf Naxos. Dort vielleicht, wie man nach bekannten Fabeln der neuen Komödie annehmen mag, oder sonstwo, hatte er mit irgend einem Weibe ein Verhältniss angeknüpft, aus dem ein Sohn hervorgegangen war. Diesen hatte er nicht nur anerkannt[1], sondern er hielt ihn in Athen ganz ebenso wie seine eheliche Nachkommenschaft. Wie natürlich, empfand seine Ehefrau die Kränkung schwer, und standen ihre Kinder auf ihrer Seite. Von diesen war mindestens der älteste Sohn schon längere Zeit volljährig, der Bastard war es noch nicht lange geworden, da kam der Vater plötzlich durch die Schuld seiner Gattin zu Tode. Er hatte nach Naxos fahren wollen und war einer Einladung des [195] Philoneos gefolgt, der im Peiraieus gerade ein Opfer zu bringen hatte. Da reichte ihnen nach Tisch die aufwartende Sklavin einen Trank, an dessen Folgen Philoneos sofort, N. nach zwanzig Tagen verstarb. Die Polizei schritt ein[2], verhörte die Sklavin, wie sich gebührte, auf der Folter, und liess sie dann hinrichten. Nach ihrer Aussage hatte sie in den Wein ein Mittel gemischt, das ihr die Ehefrau des N. übergeben hatte, mit dem Bedeuten, es wäre ein Liebestrank, welcher den beiden Weibern die verlorene Zuneigung der Männer wiedergewinnen sollte. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage ward von niemandem bestritten, sie muss also als thatsächlich begründet gelten. Somit war die Ehefrau des N. des unvorsätzlichen Mordes geständig und hatte die Folgen ihrer That zu tragen, auch ohne dass ein Wahrspruch des für solche Verbrechen zuständigen Gerichtes der Schöffen am Palladion erfolgt war. Zunächst also musste sie sich von heiligen und den heiligen durch das Gesetz gleichgestellten Orten fernhalten, dann aber mindestens auf ein Jahr[3] das Land meiden und bei ihrer Rückkehr sich selbst entsühnen und mit dem zur Blutrache verpflichteten Geschlechte versöhnen. So viel garantirte der Staat dem Bluträcher, weiteres wehrte er ihm: sein Eingreifen in Blutsachen ist ja überhaupt nichts als eine gesetzliche Regelung der Selbsthilfe. [196] Aber eben darum war in einem Falle wie dem vorliegenden der Thäter in Wahrheit ganz straflos. Denn wenn es zwischen dem Thäter und den zur Blutrache verpflichteten zu einer feierlichen Aussöhnung kam, so gab es keinen Kläger und folglich keinen Richter. So war es hier. Die geborenen Bluträcher des Getödteten standen ja auf Seiten der Mörderin, voran der älteste und allein erwachsene Sohn, in dessen Hand die Mutter nun war. Von ihrer guten Absicht überzeugt that er nicht nur nichts wider sie, sondern liess sie neben sich weiter wohnen und übernahm ihre Vertheidigung, als ein anderer Bluträcher auf den Plan trat. Der Vater hatte ganz anders über seine Gattin geurtheilt. Er glaubte, dass sie ihm wissentlich den Tod bereitet und nur die arglose Sklavin des Philoneos durch die Vorspiegelung eines Liebestrankes zu dem Werkzeuge ihrer eigenen Tücke gemacht hätte. So liess er sich denn auch weder von ihr und ihren Söhnen, noch von seinem Hausgesinde verpflegen, sondern hielt sich ausschliesslich an seinen unehelichen Sohn, theilte diesem seinen Verdacht mit, den er weiter damit begründete, dass er seine Frau schon früher bei ähnlichen Vergiftungsversuchen betroffen hätte, wobei sie die gleiche Ausrede eines Liebestrankes gebraucht hätte, bezeichnete die Sklaven, welche um jene früheren Versuche wissen sollten, und legte endlich, als er zum Sterben kam, dem Sohne die feierliche Verpflichtung ans Herz, ihn zu rächen, d. h. beim Könige eine Klage auf vorsätzlichen Mord einzubringen. Der Bastard kam dieser Verpflichtung nach, während die Angehörigen des Philoneos sich bei dem Tode der Sklavin beruhigten. ‘Der König nahm die Klage an. Die Voruntersuchung war einfach da beide Parteien das Zeugniss der Sklavin des Philoneos anerkannten, über die That selbst also keine Meinungsverschiedenheit bestand. Die Mörderin entzog sich auch nicht dem Urtheilsspruch, sondern liess nur durch ihren Sohn und Vertreter die Qualification der That bestreiten. Da sich nach dieser der Gerichtshof bestimmte, welcher das Urtheil zu finden hatte, so stand bei dem Könige ein sehr wichtiges Vorurtheil. Es fiel zu Gunsten des Klägers aus, und die Sache kam vor den Rath auf dem Areshügel.[4] [197] Minder günstig fuhr er mit dem Antrage auf peinliche Vernehmung der Sklaven, welche ihm der Vater als Zeugen für die früheren Mordanschläge seiner Gattin bezeichnet hatte. Diese Sklaven befanden sich jetzt in den Händen der Gegenpartei, da der uneheliche Sohn auf das Erbe des Vaters keinen Anspruch hatte, und die Gegenpartei machte von ihrem Rechte Gebrauch und versagte die Vernehmung. Obwohl ihm so jeglicher Zeugenbeweis abgeschnitten war, bestand der Kläger auf der Verhandlung und liess sich die Anklagerede von dem gefeiertesten Sachwalter der damaligen Zeit verfassen. Es ist dessen Rede die wir lesen, zunächst also steht man in dem Banne seiner sachwalterischen Geschicklichkeit. Entzieht man sich aber demselben und sieht die Sache selbst an, so kann man nicht umhin, auch ohne die Vertheidigung zu hören, ein freisprechendes Urtheil zu fällen. Nichts als die moralische Ueberzeugung [198] des Getödteten belastet die Frau, und dieser war zwar zu der Anwendung eines Liebestrankes vollauf Veranlassung gegeben, aber nicht einmal der Kläger macht den Versuch zu zeigen, was sie zu einem Mordplane vermocht hätte. Was aber gar die früheren Anschläge betrifft, so giebt der Klager zu, dass auch bei ihnen die Frau das einen Liebestrank genannt hatte, was nach des Mannes unbewiesener Ansicht Gift gewesen war, und die mörderische Absicht ist vollends nichts als eine nackte Behauptung. Indessen der Klager handelte wie er musste, unter dem Drucke des väterlichen letzten Willens, und den Redner reizte wohl die Schwierigkeit. Seine Sache war es, dem moralischen Eindruck eine solche Gewalt zu verleihen, dass das Fehlen des juristischen Beweises dadurch verdeckt ward. Man kann in dieser Hinsicht den ἀμάρτυρος des Isokrates und Lysias vergleichen, wie denn auch dieser Rechtsfall in den Philosophenschulen weiter behandelt ist[5], allerdings losgelöst von den persönlichen Verhältnissen, welche in Wahrheit erst ein menschliches Interesse erwecken. Wir haben nicht den mindesten Anhalt, die Zeit der Rede, welche freilich den Stempel des antiphontischen Geistes in jeder Zeile trägt, irgendwie genauer zu bestimmen; nur dass die Tetralogien älter als die drei wirklichen Reden sind. Meinem subjectiven Gefühle nach scheint sie zwischen den Tetralogien und den beiden grösseren Reden zu stehen. Auf jeden Fall verdient sie eine Zergliederung, welche freilich auch für die vorgetragene Erzählung des Rechtsfalles die Belege nachbringen wird. Aber nicht zu dem Behufe habe ich sie geschrieben; die Analyse der ältesten attischen Gerichtsrede darf sich selbst Zweck sein. Diese Schriftstücke sind mindestens so sehr Kinder der Theorie, der bewussten Kunstübung, wie des Lebens. Aber die Theorie ist verloren; höchstens die Analyse der erhaltenen Stücke kann sie herzustellen helfen. Dann aber muss dieselbe die spätere Rhetorik und ihre Lehren durchaus fern halten; die anaximenischen Kunstausdrücke, welche ich anwende, sind auch lediglich aus Bequemlichkeit gesetzt. Das προοίμιον (1—4) konnte nicht umhin, die persönlichen Beziehungen der streitenden Parteien zu einander zu berühren; stand doch Bruder gegen Bruder, und hatte doch der nächstverpflichtete Bluträcher des Getödteten vielmehr die Vertheidigung [199] seiner Mörderin übernommen. Aber gerade hier war für den Kläger eine gefährliche Klippe. Er, der Bastard, war der lebende Beweis dafür, wie schwer die Angeklagte von ihrem Gatten gekränkt war, und wie sehr sie Theilnahme verdiente, wenn ihre arglose Absicht, sich die verlorene Liebe desselben wieder zu gewinnen, durch die entsetzliche Wirkung des Zaubers Blutschuld auf sie geladen hatte. Der Bastard, der dem Weibe, dessen Eheglück seine Existenz untergraben hatte, nun an das Leben wollte, konnte von vornherein nicht auf die Sympathie der Richter rechnen. Er mochte in Wahrheit von glühendem Hasse beseelt sein: Antiphon liess ihn andere Saiten anschlagen. Kein Wort von dem Zwiste der Gatten, dem Gegensatze zwischen dem Bastard und den echten Söhnen. Geflissentlich sind diese Verhältnisse verschleiert; wir erschliessen dieselben auf Umwegen, daraus dass der Ankläger der jüngere Sohn ist und doch die Mutter seiner Brüder noch lebt, daraus dass der Vater sich in der letzten Krankheit allein an ihn gehalten hat, endlich daraus dass er keinen Antheil an dem väterlichen Erbe hat. Die Richter waren mit der Sachlage vertraut: wohl mochten sie staunen, als der Kläger in bescheidenster Weise begann, wie sehr er den Conflict bedaure, in welchen er zu seinen nächsten Verwandten gerathen sei, und nur bitten könne, falls er seine Behauptungen beweisen würde, dem Rechte die Ehre zu geben, und dem Vater, den die Seinen verrathen hätten, so wie auch ihm, dem gänzlich Verwaisten, beizustehen. Das Recht und die von den Göttern eingesetzten Richter, die Nachfolger der Götter und der Ahnen, welche an dieser Stätte gerichtet hätten, seien seine einzige Zuflucht.[6] So wird auf das nachdrücklichste die Grundstimmung der Rede eingeführt: δίκαιον ist ihr Stichwort, und [200] die unverbrüchliche Heiligkeit des areopagitischen Richteramtes[7] ist es, was die menschlichen Sympathien aufwiegen soll, die nun einmal der Gegenpartei gehören. Der Nachweis des wissentlichen Mordes ist versprochen; der heutige Leser wie einst der Richter erwartet nach dem προοίμιον die διήγησις und dann die βεβαίωσις zu hören. Allein über das Thatsächliche bestand keine Differenz und ein eigentlicher Beweis war nicht zu führen, da dem Kläger weder Zeugenaussagen noch Indicien zu Gebote standen. Die Aufgabe der Rede war also vielmehr, diese missliche Lage zu verhüllen, und so schob Antiphon die Erzählung zunächst hinaus und versuchte aus dem Umstand, der die Lage seines Clienten so misslich gestaltet hatte, eine ἔντεχνος πίστις zu gewinnen. Die Gegenpartei hatte die Vernehmung einiger Sklaven abgelehnt. Darin ein Indicium für ihr schlechtes Gewissen zu finden lag nahe, und da ähnliche Verhältnisse unter attischem Recht überaus häufig vorkamen, waren sie wohl schon zu einem Gemeinplatz verarbeitet. Aber der sophistische Redner geht weiter. Die Vernehmung sollte sich nur auf frühere vereitelte Mordanschläge beziehen; selbst eine günstige Aussage konnte also für den vorliegenden Fall nichts beweisen: trotzdem thut er so, als wäre durch die Verweigerung des Zeugnisses die Constatirung der Schuld überhaupt verhindert, d. h. die Schuld mittelbar eingestanden. Für unser Gefühl ist diese Partie wohl zu breit ausgeführt; sie gewinnt aber, wenn man sie richtig disponirt. Die moderne Kritik hat gemeint streichen zu müssen: meines Erachtens ist nur eine Interpunction zu ändern. Zweimal wird es ausgesprochen, dass die verklagte Partei das Zeugniss verweigert hätte, weil sie gewusst hätte, wie es ausfallen müsste, § 8 und 13. Die zweite Schlussreihe ist im ganzen wohl verständlich. ‘Mein Gegner kann die ἀντωμοσία, er sei von der Unschuld seiner Mutter fest überzeugt, nicht mit gutem Gewissen geschworen haben, denn er hat die Folterung seiner Sklaven abgelehnt, während ich dieselbe [201] forderte und zwar in durchaus gesetzlicher und zuvorkommender Weise (was in einzelnen ausgeführt wird).[8] Läge die Sache umgekehrt, hatte ich die Vernehmung ihrer Sklaven abgelehnt, so würden sie sich dieses Indicium meines schlechten Gewissens nicht haben entgehen lassen. Dasselbe muss nunmehr in gleicher Weise zu ihren Ungunsten gelten.’ Dies scheint genügend, und die erste Darlegung, die zu demselben Schlüsse führt, tautologisch. Aber dem ist nicht so. Der Redner hält zunächst seine Anschuldigungen ganz im allgemeinen, und zieht daraus mit höhnischem Witze einen überraschenden Schluss, der als solcher wirkt; die ernsthafte Begründung bringt die zweite Schlussreihe nach. ‘Mein Bruder kann unmöglich behaupten, dass er genau wisse (εὖ οἶδε), seine Mutter wäre unschuldig. Denn er hat das Mittel, die Wahrheit zu erfahren, die Folter nämlich, verschmäht, und nur zu dem sich geneigt gezeigt, wodurch er sie nicht erfahren konnte.’ Das letzte Glied ist lediglich von rhetorischem Werthe, denn es hat gar keine bestimmte Handlung im Sinne. Das kann der Hörer aber hier noch gar nicht wissen, erfährt er doch über das Factische hier nichts weiter als das eine Wort ‘Folter’, bei dem er sich zunächst noch nichts denken kann. ‘Er hätte aber doch der Wahrheit auf den Grund gehen müssen[9]; denn hätten die Sklaven gegen mich [202] ausgesagt, so würde er auf Grund von sicherem Wissen (εὖ εἰδώς) gegen mich haben auftreten können, und seine Mutter wäre gerettet. Nun aber, wo er die Erforschung des Thatbestandes vereitelt hat, wie ist es möglich, dass er genau wisse, was er nicht hat untersuchen wollen? Wie ist das also? Es ist anzunehmen, ihr höchst gerechten Richter, dass er gerade das weiss, dessen Wahrheit er nicht festgestellt hat. Was will er mir zu seiner Verteidigung erwidern?[10] Sie wussten nämlich ganz genau, dass es nach dem Verhöre der Sklaven für sie keine Möglichkeit der Rettung gab, und sahen ihre Rettung in der Verhinderung des Verhöres. Denn dadurch, glaubten sie, könnte das Geschehene vorborgen bleiben.’ Ich hoffe, der plötzliche Angriff, der scheinbare Selbstwiderspruch, thut seine Wirkung. Die Anrede der Richter hebt den Satz als das Wichtigste hervor, der Zwischensatz mit seiner überlegenen Zuversicht, gönnt dem verwunderten Hörer eine Pause zum Besinnen. Der Fechterstreich ist geschickt: man vergesse aber nicht, dass es ein durchaus sophistisches Spiel ist. Kein Hörer kann ahnen, dass das Verhör der Sklaven den vorliegenden Handel nicht das mindeste angeht; das kommt ganz bei wege in § 9 heraus. Nachdem so wenigstens ein scheinbarer Ersatz eines Beweises gewonnen ist, erklärt der Redner, er wolle nun die Wahrheit erzählen, und Dike selbst solle seine Schritte lenken.[11] Es folgt die Erzählung, für uns die anziehendste Partie. Da halte man zunächst fest, dass strenggenommen nichts zu erzählen war. Die Thatsachen [203] standen fest und lehrten nichts weiter; das Detail des Verbrechens konnte niemand wahrheitsgetreu schildern, denn die Betheiligten waren alle todt. Es kam also auf die Färbung an, die doch so gehalten werden musste, dass die Bahn der Wahrheit, in welcher Dike die Bede halten sollte, nicht verlassen würde. Dazu helfen zunächst Eingeständnisse der freien Ausmalung nach Massgabe der Wahrscheinlichkeit. Nachdem die unschuldige Proposition berichtet ist, welche die Angeklagte der Sklavin des Philoneos machte, heisst es ‘und diese ging darauf ein, sofort, wie ich glaube.’[12] Es war ja etwas Harmloses, und das arme Ding wurde schändlich betrogen. ‘Als sie im Peiraieus waren, da opferten sie, wie man sich schon denken kann’. ‘Und als sie gegessen hatten, wie man sich schon denken kann’ (οἷον εἰκός). Das sind gleichgiltige Dinge, aber die Vorsicht, die der Redner hier anwendet, gewinnt ihm auch Glauben für das, was er ohne dieselbe aus eigener Phantasie dazwischen stellt ‘und als sie das Opfer gebracht hatten, da überlegte das Frauenzimmer, wie sie ihnen den Trank geben sollte, ob vor Tisch oder nach Tisch.[13] Und das Ende ihrer Ueberlegung war, dass es besser wäre, ihn nach Tisch zu geben — damit folgte sie ja auch der Regel Klytaimnestras.’ ὡς βοῦς ἐπὶ φάτνῃ ist ja Agamemnon erschlagen.[14] Die harmlose Kebse, die von sich abwenden[204] den wollte in ein Bordell verkauft zu werden, hatte nichts von der Heroine an sich, konnte sich der Aehnlichkeit nicht bewusst sein und hatte die Ueberlegung schwerlich angestellt, noch viel weniger auf der Folter bekannt. Aber wir stehen auf dem Areopag, der einst dem Orestes Recht gegeben hat, als er seine leibliche Mutter erschlagen: der Name Klytaimnestras in diesem Zusammenhange und an dieser Stelle ist ein Meisterzug. Man bedenke nur, dass im fünften Jahrhundert eine heilige Geschichte ist, was in der horazischen Satire nichts als einen gelehrten Scherz bedeutet. Unmittelbar darauf folgt die Versicherung ‘im Uebrigen das Mahl zu schildern würde für euch und für mich nur langweilig sein; ich will also möglichst kurz nur erzählen, wie das Gift gegeben ward’. Hier steht die Figur der παράλειψις um den Eindruck zu erwecken, als würde etwas weggelassen: sie deckt die Blösse. Oft bewundert ist der ganz in tragischem Stile gehaltene Satz, der die That selbst erzählt. ‘Und als sie gespendet, den Becher, ihren Mörder, in der Hand, da tranken sie ihn aus — es war ihr letzter Trank.’[15] Stark hyperbolisch, denn Philoneos starb zwar gleich, aber der Vater zwanzig Tage nachher. ‘Dafür hat die, welche die Vermittlerin gewesen ist, den Lohn empfangen, den sie verdiente, obwohl die Schuld nicht die ihre war: sie ist gefoltert und dem Schinder übergeben. Die aber, deren die Schuld war, Gedanke und Ausführung, wird den Lohn jetzt empfangen, so nur ihr es [205] wollet und die Götter.’[16] Sentimentale Gemüther haben einen Widerspruch darin gefunden, dass in einem Athem die Schuldlosigkeit der Sklavin zugestanden wird und doch ihre Hinrichtung für angemessen erklärt: gleich als ob für die Sklavin, die den Tod des Herren herbeigeführt hat, eine andere Behandlung möglich wäre. Die Stelle ist vielmehr dafür bezeichnend, dass nicht einmal in solchem Falle die Herrschaft das Recht über Leben und Tod der Sklavin hat, sondern wie die peinliche Vernehmung nur vor einem staatlichen Organe denkbar ist, so wird das Urtheil für die κακοῦργος durch den öffentlichen Henker vollstreckt. Ernsthafter kann der Anstoss scheinen, dass der Verklagten nicht blos der Gedanke, sondern auch die Ausführung des Mordes zugeschrieben wird (καὶ ἐνθυμηθεῖσα καὶ χειρουργήσασα), obgleich sie in Athen war, als der Gatte das Gift im Peiraieus aus fremder Hand empfing. Freilich ist die Uebertreibung stark, aber doch lange nicht so stark, wie die Behauptung, dass der Mord βίαιος wäre, die § 26 folgt. Ebenda steht die Erklärung πέμψασα τὸ φάρμακον καὶ κελεύσασα ἐκείνῳ δοῦναι πιεῖν. In dem Bereiten und Einhändigen des Giftes liegt das χειρουργεῖν: dem Redner kommt es darauf an, die Schuld einzig und allein auf die Gattin zu wälzen; wie weit er die sophistische Uebertreibung gesteigert hat, haben wir ihm nicht vorzuschreiben, sondern zu lernen.[17] [206] Dies die Erzählung, die eigentlich die Richter nichts Neues lehrt. Noch weniger war eine wirkliche Schlussfolgerung daraus möglich. So tritt sofort eine Art ἐπίλογος ein; aus der Stimmung, die durch die Erzählung erregt ist, soll so viel Capital geschlagen werden wie möglich. Das Recht (δίκαιον) und das hohe Amt der Richter ist es, woran appellirt wird. In drei parallelen Satzgefügen wird der Antrag des Klägers dem des Vertheidigers entgegengesetzt, um dann in ganzer Strenge und breiter Ausmalung vorgetragen zu werden: ‘ich trete für den Getödteten ein, jener für die Mörderin: ihr aber seit die Helfer der Getödteten, nicht der Mörder.[18] (21. 22) Er tritt dafür ein, dass die Lebende nicht gerichtet werde, ich dafür, dass der Todte gerächt werde: ihr aber seid zum Richten und Rächen da; das sagt euer Name.[19] Ich trete für die Gesetze ein, er gegen sie. Entspricht es ihnen mehr, dass der Schuldige büsse oder nicht? Entspricht es ihnen mehr, dass man den Getödteten bemitleide oder die Mörderin? Das göttliche und menschliche Gesetz fordert für den Getödteten das Mitleid. So fordere ich denn für sie die Strafe, die sie verwirkt hat, und wenn ihr den Tod über sie verhängt, so geschieht ihr nichts als ihr Recht.’[20] [207] Man meint am Ende zu sein; man ist befremdet, wenn noch ein Abschnitt folgt, in welchem ohne Wortprunk Dinge ausgeführt werden, die sehr nebensächlich scheinen. ‘Wie kann mein Bruder behaupten, sicher zu wissen, dass seine Mutter die That nicht gethan habe? Wer ein Verbrechen plant, der betreibt das doch ohne Zeugen, so dass kein Mensch darum weiss.[21] Der, gegen den es geplant wird, weiss zunächst freilich nichts davon, aber im Momente des Todes, da wird er inne, wer sein Mörder ist, ruft die Seinen herzu, nennt ihnen den Mörder und legt ihnen die Verpflichtung der Rache auf. Das hat mein Vater mit mir gethan, der ich sein Sohn bin. Nur wenn sie das nicht erreichen können, dann machen sie es schriftlich und rufen die Sklaven zu Zeugen und klären die über den Thäter auf. Mein Vater hat es trotz meiner Jugend mir lieber als seinen Sklaven auferlegt, ihr Herren Richter: ich habe gesprochen; ich bin für den Todten und das Recht eingetreten: das weitere steht bei euch, gerecht zu richten. Und auch die Götter der Tiefe werden darüber wachen: denn sie sind verletzt.’[22] [208] Es wird sich nicht bestreiten lassen, dass der Uebergang von dem vorigen Theile zu diesem hart ist, noch auch dass die Gedanken mit unzureichender Fülle und Klarheit zum Ausdruck kommen. Da muss man um so schärfer aufhorchen, damit man zunächst durchschaut, was der Redner sagen will. Das wird deutlich werden, wenn seine Gedanken in anderer Anordnung und ohne schonende Hülle nachgesprochen werden. ‘Es ist wahr, ich habe keinen Zeugen, auch keinen Beweis als meines Vaters Wort. Darauf wird sich mein Bruder in der Vertheidigungsrede berufen. Er wird auch der Verwunderung Ausdruck geben, dass der Vater vor seinem Tode keinem einzigen von seinem Gesinde, sondern mir allein Mittheilung von seinem Verdachte gemacht hat. Und endlich wird er die moralische Ueberzeugung des Vaters von der Schuld seiner Frau als genügenden Beweis nicht gelten lassen. Allerdings hat der Vater sich nur mir anvertraut: aber das genügte; war ich doch sein leiblicher Sohn, sein geborener Bluträcher. Allerdings ist seine moralische Ueberzeugung der einzige Beweis: aber das genügt: hat denn mein Bruder nicht lediglich auf seine moralische Ueberzeugung hin die Unschuld seiner Mutter beschworen? Des sterbenden Mannes Seele ist hellsichtig; in der Todesstunde erkennt der Gemordete seinen Mörder. Deshalb ist des Vaters Angabe durchschlagend, und ich bin für sie glaubwürdig als der durch die heiligste Pflicht zur Rache aufgerufene Sohn. So trete ich denn für das Recht ein und die Erinyen, die in den Schlüften dieses Berges wohnen: denn auch ihnen ist zu nahe gethan, weil mein Bruder nicht gehandelt hat wie Orestes, sondern sich mit der vatermörderischen Mutter versöhnt.’ Die Metaphrase bedarf wohl nur in dem letzten Satze eine Begründung. Die θεοὶ οἱ κάτω sind freilich nicht allein die Erinyen, sondern alle die Mächte der Unterwelt, zu der an der Ostseite des Areshügels die Pforte offensteht, und die dort ebenso wie die Σεμναί verehrt werden. Aber die Erinyen sind die Vollstrecker des Willens der χθόνιοι, so weit diese des Rechtes walten, und uns ist ihre Nennung bezeichnender. Wissen wir doch, dass gegen die Gattenmörderin Klytaimnestra die Erinyen nicht eingeschritten sind, dass aber den Orestes die Erinyen des Vaters zur Rache ebenso jagten, wie die der Mutter nach vollbrachter That. Gattenmord ist eben für die Hellenen kein besonderes Verbrechen; der Mord als solcher thut den Mächten der Finsterniss [209] am wenigsten zu nah: aber das vergossene Verwandtenblut schreit um Rache. Daraus folgt, dass die θεοὶ οἱ κάτω im vorliegenden Falle durch den Mord, den die Gattin am Gatten begangen haben soll, nicht verletzt sind, noch verletzt werden konnten. Also müssen die Worte des Redners auf etwas anderes zielen, und die Parallele des Orestes zeigt deutlich genug, wohin. Wie aber hier der Redner seine Gedanken verhüllt, so auch vorher. Mich dünkt, der Grund ist einleuchtend. Einmal scheut sich der Bastard gegen den Bruder gehässig vorzugehen; er behält eine Anzahl Pfeile im Köcher, die schlimmsten Falles in der zweiten Rede zu verwenden sind. Zum andern aber sind es die schwachen Seiten seiner Sache, die er vorbeugend sichern will, es ist eine Art προκατάληψις, aber darum hütet er sich wohl, rund heraus zu reden. Er würde ja sonst die Sophismen des oben versuchten Beweises selbst offenbar machen. Oben hat er so gethan, als wäre eine βεβαίωσις gegeben: hier muss er mittelbar zugestehen, dass überhaupt kein Beweis versucht werden kann. Hat man also erst verstanden, was den Redner vermocht hat, seine Gedanken nicht rund heraus zu sagen, so versteht man auch, wie dieser Theil hierher gerathen ist. Wohl gehörte er zur βεβαίωσις, also nach der sonstigen Anlage dieser Rede vor die Erzählung. Aber dann gerieth das dicht nebeneinander, was sich gegenseitig widerspricht. Die natürliche Ordnung musste also verlassen werden. Indem der Redner aber diesen seinen letzten Theil mit einer Wendung an die Gegenpartei begann, mit einem Appell an die Richter schloss, glaubte er wohl durch die Ruckbeziehung auf den Eingang (1 und 4) wenigstens den Schein eines geschlossenen Kunstwerkes hervorzubringen. Es ist ja ein seltsames Gebilde, diese Rede, welche entweder gar keinen Epilog, oder einen debattirenden Theil nach dem Epiloge hat. Aber das erhöht geschichtlich angesehen ihren Werth, nicht blos, weil sie ein Erzeugniss der Jugendzeit ist, wo die Beredsamkeit noch nicht in die spanischen Stiefel der Rhetorik eingezwängt war, sondern weil sich bei einiger Aufmerksamkeit sehr wohl erkennen lässt, was den Redner zu seiner seltsamen Anordnung zwang. Ob dabei etwas absolut gutes oder schlechtes herausgekommen ist, das ist eine andere Frage. Ich für mein Theil halte die Rede für die beste des Antiphon, weil sie am meisten ἦθος hat, aber ich weiss ja, dass sie ziemlich allgemein sehr hart verurtheilt ist. Das will ich auch nicht bezweifeln, dass ihre überlegenen [210] Kritiker, vorab der Geschichtschreiber der attischen Beredsamkeit, an Antiphons Stelle es unvergleichlich besser gemacht haben würden. Dass sie aber des Antiphon Rede, mag sie nun gut oder schlecht sein, auch nicht von ferne verstanden haben, ist mindestens ebenso unzweifelhaft. Und das Ziel der λόγων κρίσις ebensowohl wie der Conjecturalkritik ist doch wohl nicht das Bessermachen, sondern das Verständniss. Göttingen, 20. October 1886.ULRICH von WILAMOWITZ-MÖLLENDORFF.
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