Die erste amerikanische Volksoper
Es wäre zwar nicht richtig, George Gershwins „Porgy and Bess“ als die erste amerikanische Oper zu bezeichnen, denn es gibt bereits eine ganze Reihe amerikanischer Opern. Aber das Amerikanische an ihnen beruht hauptsächlich darauf, dass sie von Amerikanern komponiert wurden – Louis Gruenbergs „Emperor Jones“ ausgenommen, der gegenüber der meist italienisch konventionellen Tonsprache seiner Landsleute ausgesprochen modernistische Haltung zeigt. Aber alle diese Amerikaner hielten doch mehr oder weniger an dem üblichen Begriff der Oper fest, und darum wurden mehrere von ihnen auch des Vorzugs teilhaftig, in der Metropolitan Opera aufgeführt zu werden. Gershwins „Porgy and Bess“ musste sich eine Aufführungsstätte in einem der Broadway-Theater suchen. Aber das Werk, sozusagen eine Gassenbuben-Oper, hat dafür einen Vorzug, den bisher keine der anderen amerikanischen Opern aufweisen konnte: es ist ein Riesenerfolg, und die „Theatre Guild“, eine grosse Theaterbesucher-Organisation, die sonst nur Schauspiel pflegt und gegenwärtig in etwa vier Theatern zugleich spielt, darf rechnen, auf viele Monate, wenn nicht noch länger, mit dieser Oper eingedeckt zu sein.
Das Buch ist einem schon vordem sehr erfolgreichen Schauspiel von der DuBose[1] Heyward nachgebildet. Es behandelt einen Stoff, der grosse Aehnlichkeit mit „Tiefland“ hat – die Frau zwischen dem brutalen und dem naiven Mann, wozu hier noch ein dritter kommt, der bis auf weiteres die Braut endgültig heimführt. Das ist die Handlungslinie, von aussen gesehen. Die amerikanische Färbung ergibt sich daraus, dass das Ganze im Neger-Milieu spielt und das Leben der Neger mit den dunklen, tiefen Leidenschaften, mit den Feindschaften gegeneinander und dem Zusammenhalten aller gegen die Weissen – diese treten nur in Nebenrollen episodisch auf – schildert. Da gibt es Genrebilder von idyllischem Reiz, kindlichem Humor, dumpfe Grausamkeiten, rabiaten Uebermut und dann jene mystische Religiosität, wie sie in den „Spirituals“ ihren eigentümlichen, aus afrikanischen Reminiszenzen und westlichen Einflüssen gemischten Ausdruck gefunden haben.
Das alles bot dem Musiker ein herrliches Spielfeld. Der etwa 30jährige Gershwin ist bisher hauptsächlich als Song- und Schlager-Komponist bekannt geworden. Nun fand er hier einen Stoff, der ihm Gelegenheit gab, diese Art Begabung an einem dramatisch wirksamen Objekt zur Geltung zu bringen. Damit hat er sich selbst einen Schwung gegeben, der ihn weit über sein bisheriges Niveau hinaustrug. Die Oper besteht aus einer Folge von Spirituals, Tänzen und Songs, kontrastreich[2] und geschickt gruppiert, sofern man eine gewisse Ueberfülle als Fehler des Erstlingswerks in Kauf nimmt. Musikalisch[3] am bedeutsamsten sind die Spirituals. In zwei grossen Chorszenen: einer Totenklage als Finale des 1. Aktes und der Schilderung eines Sturmes als Finale des 2. Aktes bilden sie die beiden Höhepunkte des Werkes. Die anderen Stücke ordnen sich in verschiedenen Abstufungen um diese Hauptszenen, sie sind nicht gleichwertig, aber stets charaktervoll. Gershwin[4] hat die Gabe, mit einer zweitaktigen Melodie oder mit einem knappen Rhythmus gleichsam ein Schnellporträt hinzuwerfen, das sich als dramatisches Element dem Verlauf des Ganzen einfügt. So bleibt diese Art amerikanisches Liederspiel stets bühnenmässig lebendig. Die Fülle episodischer Figuren wirkt nicht hemmend, sondern kennzeichnet gerade die Besonderheit dieses Volksopern-Typus.
Farblos ist nur die Instrumentation – ein Mangel, der einer modernen Oper gegenüber fast sympathisch berührt. – Schlecht sind ausserdem einige andere Abschnitte der Partitur, in denen Gershwin in die übliche Oper zurückgeglitten ist, namentlich die Liebesduette, die einen stark verwässerten Puccini zeigen. Aber diese Einzelheiten trüben nicht den Eindruck des Ganzen. Er ist theatralisch sehr stark und musikalisch zum mindesten originell, indem sich hier ein amerikanisches Gesicht in der Musik zeigt.
Ein Kapitel für sich ist die Aufführung. Nur Neger wirken mit, abgesehen von Alexander Smallens, der dirigierte und von Rouben Mamoulian als überlegenem szenischen Leiter. Aber diese Darsteller! Leute, die bisher kaum oder ganz selten auf der Bühne gestanden haben, singen und spielen mit einer Vehemenz, die dem Hörer den Atem benimmt. Es fällt ihnen gar nicht ein, auf den Dirigenten zu sehen, und doch klappt jeder Einsatz des oft komplizierten Ensemble-Dialoges, als gäbe es gar keine Möglichkeit des Irrtums. Die Darstellung ist in keinem Augenblick posiert, sie ist von einer rührenden Echtheit und dabei nicht im mindesten aufdringlich. Nahezu unglaubhaft ist die Musikalität des Chors, der etwa im Ensemble chromatische Dreiklangs-Skalen singt, und zwar absolut korrekt singt, wie sie ein europäischer Komponist nicht zu schreiben wagen würde. Vielleicht beruht ein grosser Teil der Wirkung des Werkes darauf, dass es zum erstenmal den Blick öffnet für ein bisher kaum gekanntes Gebiet. – Man wird diese Oper in Europa kaum geben können, weil man sie nicht aufführen kann. Sie muss ohne Schminke gespielt und gesungen werden, so einfach, naiv und inbrünstig, wie eben nur die Neger sich selbst spielen und singen können.