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Die klassische Philologie der Gegenwart

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Textdaten
Autor: Richard Foerster
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Titel: Die klassische Philologie der Gegenwart
Untertitel: Rede zum Antritt des Rektorates der Königlichen Christian-Albrecht-Universität zu Kiel am 5. März 1886
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Universitäts-Buchhandlung (Paul Toeche)
Drucker: Schmidt & Klaunig
Erscheinungsort: Kiel
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Quelle: Google-USA*, Kopie auf Commons
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[1]
Die
klassische Philologie der Gegenwart.


Rede
zum Antritt des Rektorates
der
Königlichen Christian-Albrecht-Universität zu Kiel
am 5. März 1886
gehalten
von
Richard Foerster
Professor der klassischen Altertumswissenschaft.


Kiel 1886.
Universitäts-Buchhandlung.
(Paul Toeche.)

[2]

[3]
Hochansehnliche Versammlung!

Das Gesetz unserer Christian-Albrecht-Universität gebietet, dass der neue Rektor sich mit einer Anrede einführe. Indem ich dieser Vorschrift folge, wähle ich nicht einen Gegenstand aus meiner Wissenschaft – dazu findet sich für den Professor der Eloquenz öfter Gelegenheit –, sondern meine Wissenschaft selbst. Ich bitte Sie, dass Sie dasjenige, was ich Ihnen über die klassische Philologie[1] der Gegenwart als Wissenschaft und als Gegenstand des akademischen Unterrichts zu sagen habe, als dasjenige betrachten, was mich schon seit Jahren und nicht am wenigsten in der letzten Zeit bewegt hat. Und glücklich würde ich mich schätzen, wenn recht viele von Ihnen meine Ausführungen nicht für neu, wol aber für wahr halten sollten.

Verglichen mit dem Stande, in welchem der Meister der jetzigen Altertumswissenschaft, dessen Säkulargedächtnis am 24. November vorigen Jahres gefeiert worden ist, und dessen Andenken auch meine heutigen Worte geweiht sein mögen, August Böckh, dieselbe während einer mehr als fünfzigjährigen Forscher- und Lehrthätigkeit schaute, zeigt dieselbe vor allem eine grosse Erweiterung ihrer Gränzen.

Zunächst, um mit den Anfängen zu beginnen, konnte die klassische Philologie den Fragen nicht fremd bleiben, welche die vergleichende Sprachwissenschaft und deren jugendliche [4] Töchter, die vergleichende Religions-, Sitten-, Rechts-, Künstgeschichte, mit Einem Wort die vergleichende Kulturgeschichte angeregt haben. Die erste Frage, an deren Lösung sie Anteil nahm: wie beschaffen war die Sprache, welche die Vorfahren der Griechen und Italer zu der Zeit redeten, als sie noch mit den übrigen indogermanischen Völkern Eine Familie bildeten? – hatte bald die weiteren Fragen im Gefolge: wie lebte jenes Stammvolk? Speziell: auf welcher Stufe standen seine religiösen Anschauungen? Welches waren die Gegenstände seiner Verehrung? Hatte es bereits gewisse sittliche und rechtliche Normen? Kannte es bereits die Anfänge einer kunstmässigen Fertigkeit, vielleicht gar auch schon eine Form des Metrum? Fragen zu deren Lösung die Wissenschaft, sobald sie erkannte, dass Wortverwandtschaft zwar immer ein Schema, nicht aber immer ein mit zutreffendem Inhalt ausgefülltes Schema ergiebt, die Hülfe der vergleichenden Ethnologie suchen musste. Auf jene ersten Fragen: wo war die Heimat dieses Stammvolkes? In Asien oder in Europa? und in welcher Weise, etwa in der Weise der Aeste des Baumes oder nach Art der Wellen hat sich dasselbe geteilt, auf welchen Wegen sind die einzelnen Völkergruppen in ihre nachmaligen Wohnsitze gelangt? – folgten alsbald die weiteren Fragen: wo sind die nachweislich ersten Niederlassungen der Griechen und Italer nach ihrer Einwanderung in die Balkan- und Apennin-Halbinsel? Etwa in Mykenä? Etwa in jenen wunderbaren Resten primitivster Kultur, den Pfahldörfern in Ober-Italien, den sogenannten Terremare? Und welches wurde der Faktor für die Hebung dieser jedenfalls sehr niedrigen Kultur, welche zwar die Stufe des Nomadenlebens, aber nicht die Anfänge des Ackerbaus sowie der Geschlechterverfassung überschritten hatte? Die Beantwortung der letzten Frage brachte die klassische Philologie in unmittelbare Berührung mit der orientalischen. Denn es stellte sich sehr bald heraus, dass wenn auch in geringerem Maasse als die römische von der griechischen Kultur, letztere in Bezug auf technische Fertigkeiten, Maasse, [5] Gewichte, Buchstaben, Kunst, Kultus von der überlegenen orientalischen, besonders der ägyptischen und assyrisch-babylonischen beeinflusst worden ist. So hat in letzter Zeit besonders die Frage eifrige Behandlung gefunden: was verdankt Hellas in Bezug auf das Dekorationssystem der ältesten in seinem Boden gefundenen Gegenstände der orientalischen Kunst? Ist die sogenannte geometrische Dekoration, welche die Fläche mit lauter regelmässigen bald gerad-, bald kreislinigen Ornamenten bedeckt, indogermanischen Ursprungs? Oder ist sie nicht vielmehr jünger als jene ornamentlose oder willkürlich Linien und Punkte mischende Technik wie sie Gegenstände aus Thon, Knochen, Elfenbein und Bronce in Mykenä, Menidi und Spata aufweisen, mithin orientalischen Ursprungs? Sind überhaupt die in Mykenä, Troja, Cypern, Menidi, Spata gefundenen Gegenstände orientalischen oder einheimischen Ursprungs? Oder lassen sich besonders in denen von Mykenä zwei verschiedene Typen, ein mitgebrachter und ein angenommener, unterscheiden? Welches war die älteste Form des griechischen Wohn- und Gotteshauses? Ist der ionische und dorische Stein-Bau aus Holz- und Backsteinbau erwachsen?

Und welche Kultur-Stätten in Latium schliessen sich am nächsten an die jener Pfahldörfer an, sind mithin als älteste Niederlassungen der Italer nach ihrer Einwanderung in Latium anzusehen?

Nicht geringer ist der Zuwachs, welchen die Kenntnis der klassischen Stätten erfahren hat.

Wir lernten nicht blos kennen die Stätte des alten Troja, die Königsburgen von Mykenä und Tiryns, schauten in den Gräbern der ersteren auf die zum Teil noch erhaltenen Gerippe, blickten in die ‚Schatzhäuser‘ von Mykenä und Orchomenos; wir lernten auch kennen den Festplatz von ganz Griechenland, die Altis von Olympia, die altberühmten Kultusstätten von Ephesos, Delos, Samothrake, Cypern, die Heiligtümer des Asklepios nicht blos an der Burg von Athen, sondern auch das berühmteste, das zu Epidauros; grosse Strecken des Mauerzuges der Stadt Athen [6] sowie der Befestigung der Hafenstadt Peiraieus und der Verbindungsmauern, das Doppel-Thor, in seiner Nähe einen Friedhof, die Bettungen der Schiffshäuser, die Heiligtümer von Eleusis. Die Residenz der Attaliden in Pergamon erhebt sich in täglich wachsender Grossartigkeit und Anschaulichkeit vor unsern Augen; etruskische Nekropolen taten sich vor uns in völliger Unversehrtheit auf; das römische Forum ist beinahe vollständig ausgegraben. Und allen diesen Entdeckungen folgten alsbald ausgezeichnete kartographische Publikationen. Und welche Fülle von Kunstwerken haben diese und andere Ausgrabungen zu Tage gefördert, darunter um von den Terrakotten, Vasen, Reliefs nicht zu reden, Originalwerke, wie die Giebelfiguren des Zeustempels zu Olympia, die Nike des Paionios, den Hermes des Praxiteles, Köpfe von der Hand des Skopas, Werke der pergamenischen Kunst, Kopien der Parthenos des Pheidias, des Diadumenos des Polyklet u. a.

Inschriften liessen uns ungeahnte Blicke tun in die Eleusinien, in die Orakel und Heilsprüche von Dodona und Epidauros, in die Anlage und Einrichtung des Zeughauses der attischen Marine, in das älteste Recht der Insel des gerechten Minos und damit in das älteste griechische Privatrecht, in die drakonischen Blutgesetze, in die religiösen und dramatischen Genossenschaften; in altitalische Weiheformeln, in die Verfassung einer römischen Kolonie in Spanien zur Zeit Cäsars, in römische Bergwerksverwaltung, und zugleich gewannen wir damit Sprach-Denkmäler von höchstem Alter und von Mundarten, welche wir bisher nur unvollkommen kannten. Die Zahl der neuen Inschriften, welche nach den verschiedensten Seiten hin neue Ausblicke eröffnen, ist ins ungemessene gewachsen. Das Corpus der griechischen Inschriften von Böckh enthielt noch nicht ganz 1000, das neue unvollendete Corpus inscriptionum Atticarum bereits über 5700 attische Inschriften; im Corpus inscriptionum Latinarum sind bisher mehr als 72 000 lateinische Inschriften bekannt gemacht, und beinahe ein Drittel harrt noch der Veröffentlichung.

[7] Auch die Litteratur ist nicht ganz leer ausgegangen. Zwar ist kein vollständiges bedeutendes Litteratur-Werk zu Tage gekommen, wozu auch nach der Durchsuchung der Bibliotheken des Morgen- und Abendlandes wenig Aussicht ist, wol aber einzelne Stücke hohen Wertes von Lyrikern wie Alkman und Sappho, von Dramatikern wie Euripides, von Aristoteles’ attischer Verfassung, von Historikern sowie von Fachschriftstellern aller Art.

Die Zahl der Fragen, welche durch alle diese Funde zum ersten Male angeregt oder besser als bisher beantwortet wurden, ist ausserordentlich gross.

Endlich aber hat die Wissenschaft des klassischen Altertums ihr Reich auch an den Endgränzen desselben ausgedehnt, indem sie auch die Zeit des Unterganges der römischen Weltherrschaft und den allmälichen Uebergang der antiken in die mittelalterliche Kultur ins Auge fasste. So zog sie einerseits das Mittel- und Neugriechische heran und untersuchte das Fortleben von Alt-Hellas im heutigen Griechenland nach Sprache, Sitte, Glaube, Mährchen, Volkslied; andererseits unterwarf sie die Schriftsteller des untergehenden Roms, besonders diejenigen welche für deutsche Geschichte und deutsches Recht, für christliche Lehre und Kirche, oder für die Medicin von Wichtigkeit sind, kritischer Neubearbeitung, sowie lexikalischer, grammatischer, metrischer Ausbeutung und gewann damit wie mit der grösseren Beachtung der Volkssprache unmittelbaren Anschluss einerseits an die romanische Philologie, andrerseits an die Kirchen- und Rechts-Geschichte.

Dieser Erweiterung nach Aussen entspricht durchaus die Vertiefung nach Innen.

Man darf der klassischen[WS 1] Philologie der Gegenwart unbedenklich das Zeugnis ausstellen, dass sie sich nicht nur viel schwierigere Aufgaben und höhere Ziele stellt, sondern auch viel entsagender arbeitet als vordem.

[8] Da ist zunächst die Grammatik, welche einesteils sich in die Schule der Laut-Physiologie begeben hat und deren Lehren für ihre Zwecke nutzbar zu machen bemüht gewesen ist, andernteils dem Walten der Lautgesetze nachspürt, die Etymologie auf rein lautliche Normen gründet, ja in ihrer neuesten Richtung diesen Lautgesetzen die Unverbrüchlichkeit von Naturgesetzen zuschreiben und die Ausnahmen nur auf falsche Formübertragung oder mundartliche Besonderheit zurückführen will, durchweg aber gleichsam mit Loupe und Secirmesser arbeitet, nicht blos den Gebrauch eines Wörtchen, einer Struktur bei Einem Schriftsteller, sondern auch die ganze Geschichte derselben, ihr Aufkommen, Zu- und Abnehmen, Aufhören, Ersetzung durch andere mit statistischer Genauigkeit verfolgt und alle Phasen und Nuancen eines Bedeutungswechsels bloslegt.

Da ist die Metrik, welche den Bau der Verse bei den einzelnen Dichtern bis auf die Normen der Verbindung der Wörter zu Versfüssen, der Cäsur, und das Verhältnis von Wort- und Vers-Accent, die Verbindung der Verse zu Strophen, die Gesetze der strophischen Komposition und antistrophischen Responsion aufs sorgfältigste untersucht und die Bedingungen wahrer Symmetrie, das Wechsel-Verhältnis von Rhythmus und Stimmung, endlich auch das Wesen und die Erscheinungsformen des Rhythmus in Werken der Beredsamkeit zu ermitteln bemüht ist.

Da ist die Epigraphik, welche neben dem mechanischen Abdruck der Abschrift einer Inschrift nicht entraten zu können meint und in der getreuesten Wiedergabe einer Inschrift, wie beispielsweise in der letzten Ausgabe des Monumentum Ancyranum, wahre Triumphe feiert, welche aber auch in der Ergänzung von einzelnen Buchstaben wie ganzen Wörtern äussere Indicien wie die Beschaffenheit des Steins und die Abstände der Buchstaben nicht minder im Auge behält als den Inhalt und die Analogie anderer Denkmäler.

Und wie sie selbstverständlich auch die Form der Buchstaben historischer Untersuchung unterwirft und denjenigen, [9] welche nicht selbst mit den Steinen umgehen können, Abgüsse der Inschriften und typische Reproduktionen der Buchstabenformen zugänglich macht, so hat auch die Paläographie in letzter Zeit auf dem Wege der Photographie und der Heliogravüre nahezu vollendete Faksimiles von Handschriften der verschiedensten Jahrhunderte zu Stande gebracht.

Nie ist die Lesung der Papyrusrollen und der Palimpseste mit solch entsagungsvoller Ausdauer, aber auch nie mit solchem Erfolge geübt worden; nie sind Handschriften mit so peinlicher Sorgfalt bis auf alle Kleinigkeiten untersucht, die in ihnen tätigen Hände so genau geschieden, die Ergebnisse der Vergleichung so vollständig mitgeteilt worden; nie ist man so beflissen gewesen von allen Autoren sämmtliche Handschriften zu erlangen, die Beziehungen zwischen diesen Handschriften zu ermitteln, einen Stammbaum derselben aufzustellen, den Archetypus zu rekonstruiren, den Abstand desselben von der Hand des Autors zu ermessen, die Schicksale eines Werkes, dass Nachleben eines Autors zu verfolgen, mit Einem Worte die Aufgabe der recensio umfassend zu lösen, mustergültige kritische Ausgaben herzustellen; nie ist man so bemüht gewesen die sämmtlichen Bruchstücke und Nachrichten über verlorene Werke oder nur ein paar Mal genannte Persönlichkeiten zu sammeln und zu sichten, Prosopographien anzulegen, Corpora wie der Inschriften und Denkmäler, so der Vertreter desselben Litteraturzweiges zu schaffen, Lexika und Indices aller Wörter eines Schriftstellers auszuarbeiten, sämmtliche Versionen eines Mythos durch die gesammte Litteratur und Kunst zu verfolgen, sämmtliche Kunst-Typen eines Gottes oder eines Symboles nach Zeiten und Kunst-Gattungen geordnet vorzuführen, die Erzeugnisse Einer Künstlerhand, wie die Schalen der attischen Vasenmaler Brygos, Duris, Euphronios oder des Canoleios von Cales zusammenzustellen und wo möglich in eine zeitliche Abfolge zu bringen; nie hat man so versucht die Bedeutung eines staatsrechtlichen Ausdruckes oder einer Formel durch eingehendste Untersuchung sämmtlicher Stellen zu gewinnen.

[10] Unläugbar ist ferner, dass die Ziele, deren Erreichung nur dem Scharfsinn und der Kombination gelingt, heut höher gesteckt sind. Dies gilt namentlich von der Emendation. Eine Textverbesserung hat heut ganz anderen Ansprüchen zu genügen als vordem. Nicht selten wird, was Jahrhunderte lang als eine Verbesserung im Texte stand, unbarmherzig ausgestossen, und wie lange besinnt sich ein gewissenhafter Herausgeber, ehe er eine Konjektur in den Text einsetzt! Selbst darauf ob sie dem Verhalten eines Schriftstellers zum Hiatus entspricht oder nicht, wird sie streng geprüft.

Das Interpolationsgespenst, welches lange Zeit umging, ist wenigstens in sehr vielen Fällen glücklich beschworen worden. Und die einstmalige Panacee Schwierigkeiten einer Stelle dadurch zu heben, dass man dieselbe für untergeschoben erklärte, hat man als das was sie ist, als Scheinkur erkannt. Dies hat nicht am wenigsten zur Gesundung der lange Zeit selbst kranken Kritik geführt. Dieselbe ist im besten Sinne konservativ geworden. Nicht dass sie die Handschriften anbetete und alles geschriebene Wort auf Treu und Glauben annähme; aber sie prüft in erster Linie, was sie zuzulassen habe im Hinblick auf den Sprachgebrauch, die Individualität, die dem Talente eines Schriftstellers gesteckten Gränzen, die Tendenz desselben, den Geschmack seiner Zeit, die Beschaffenheit, in welcher er sein Werk hinterliess, Spuren von Ueberarbeitung seitens des Schriftstellers selbst oder anderer. Wenn die Urteilssprüche eines ‚Minos‘, ‚Aeacus‘ und anderer Todtenrichter schon zu der Zeit, da sie gefällt wurden, wenigstens bei besonnenen Forschern lebhaften Unwillen hervorriefen, wenn sich gegen die Athetese eines grossen Teils des Horaz, der Elegiker, des Juvenal, des Platon sogleich Widerspruch erhob, so hat selbst das Verdikt, welches ein Moriz Haupt über die Consolatio ad Liviam als ein Werk der Renaissance aussprach, sich nicht in Geltung erhalten können: das Gedicht ist zwar nicht als ovidisch, wol aber als ein Werk des ersten oder zweiten Jahrhunderts n. Chr. anerkannt worden, und [11] in dem Streite über den Briefwechsel zwischen Cicero und M. Brutus hat sich die Wagschale entschieden zu Gunsten der Echtheit geneigt.

Auf der andern Seite hat die energisch eindringende Analyse des Inhalts und Gedankenganges den Glauben an die Einheitlichkeit mancher Werke für immer beseitigt. Lachmanns Methode ist ein Erbe der klassischen Philologie geblieben; die von ihm in den ‚Betrachtungen über die Ilias‘ gezeigten Wege sind nicht nur, wenn auch teilweis mit ganz entgegengesetztem Erfolge, für die übrigen unter Homers und Hesiods Namen gehenden Gedichte, sondern folgerichtig auch für die Werke der Prosa, besonders der Philosophie, betreten worden und haben auch zu neuen Betrachtungen über einheitliche oder stückweise Abfassung historischer Kunstwerke, wie des Herodot und Thukydides, geführt.

Im engsten Zusammenhange damit steht die Frage nach der Entstehungszeit und der Reihenfolge der Werke eines Autors, für welche namentlich die Aufmerksamkeit auf Entlehnungen, Anspielungen, sowie sprachliche Beobachtungen überraschende Ergebnisse gezeitigt oder angebahnt haben. Wie gewisse Stellen des Sophokles als Komplimente für Herodot gefasst zwar eine eigentümliche Beleuchtung, aber doch eine Erklärung gefunden haben, so hat man gelernt auch Männer wie Platon nicht in olympischer Höhe und Einsamkeit thronend, sondern als mitten im Leben und im Kampf des Tages stehend zu fassen.

Wurden dadurch Koryphäen der Litteratur wie der Politik in eine zwar schärfere, aber auch gerechtere Beleuchtung versetzt, so gelangte man auch zu einer wahrhaft kritischen Litteratur- und Kunstgeschichte, indem man die Nachrichten über einen Schriftsteller oder Künstler zunächst an dem mass, was er selbst oder die Urkunden über ihn sagen. Gar viele Erzählungen haben sich dadurch als Erdichtungen der Komödie, Erfindungen leichtfertiger Pseudo-Historiker oder Fremdenführer, Epigrammen-Scherze, Verlegenheits-Interpretationen herausgestellt.

[12] Auch die eigentliche historische Kritik gelangte zu grösserer Reife. Je schärferem Verhör sie die Zeugen über ein Ereignis aussetzte, um so stärker wurden die Zweifel an dem, was bisher uneingeschränkt gegolten hatte. Je mehr sie sich aber der Schablone entwöhnte und sich zur Individualisirung erzog, um so mehr gewann sie nicht blos Einblick in die Entstehung einer Tradition, sondern auch um so gerechter, aber auch um so behutsamer wurde sie. Sie lernte die Personen und die Einrichtungen trennen und nicht mit den ersteren auch die zweiten preisgeben, sondern durch Anknüpfung an Beglaubigtes, durch Rückschluss vom Sicheren und durch Vergleichung mit andern Völkern schützen.

Aber auch die Urkunden werden vorurteilsfreier und schärfer zugleich geprüft. Wenn auf der einen Seite eine Vergleichung der in die attischen Redner eingelegten Urkunden vielfach zur Zurücknahme der über sie ausgesprochenen Verurteilung oder wenigstens zur Wiederaufnahme des Verfahrens gegen sie geführt hat, so ist deswegen die epigraphische Kritik nicht nachsichtiger geworden. Beweis dafür, wenn es eines solchen bedarf, ist ihr Verhalten sowol gegenüber den von François Lenormant publicirten griechischen Inschriften, als gegenüber auch solchen Inschriften des Pirro Ligorio, welche sich nicht blos in seinen Papieren, sondern auch auf Steinen finden; desgleichen der Umstand, dass die als gefälscht oder verdächtig bezeichneten stadtrömischen Inschriften jetzt einen ganzen Band von 3643 Nummern füllen.

Denselben Fortschritt zu methodischer Strenge weist auch die Archäologie auf. Sie verlangt zunächst genauesten Fundbericht über die Umstände der Auffindung, Fundstelle, Umgebung, Verwitterung, Erhaltung, indem sie an alle dem Anhaltspunkte für die ursprüngliche Aufstellung, Bestimmung, Anordnung eines Werkes zu gewinnen sucht; sodann beschreibt sie sorgfältigst ein Denkmal, indem sie darin die Grundlage der Deutung sieht, und lässt genaueste und schönste Abbildung desselben eine ihrer wichtigsten Aufgaben sein; in solcher Weise veranstaltet sie Kataloge von Sammlungen [13] und kritische Ausgaben von Denkmälern, indem sie auch Zeichnungen und Gips-Abgüsse von nicht mehr vorhandenen Originalen und Nachbildungen heranzieht; für die Deutung selbst beachtet sie ebenso den künstlerischen Sprachgebrauch wie den Ideen- und Bestimmungskreis, den Typus, welchem ein Denkmal angehört, indem sie das Verhältnis zwischen dichterischem und künstlerischein Schauen unbefangener als vordem auffasst und nicht mehr mit Vorliebe in den Denkmälern Illustrationen von Dichterstellen sieht. In kunstgeschichtlicher Beziehung scheidet sie schärfer die Zeiten, die Schulen, die Landschaften, die Stile, letzteres selbst auf einem Gebiete wie die pompejanische Dekorationsmalerei es ist; andererseits aber macht sie aus dem Stil eines Werkes nicht mehr sofort einen Schluss auf seine Zeit, da sie aus der Betrachtung lokaler Kunstübungen gelernt hat, dass der Uebergang von einem Stil zum andern sich nicht an allen Orten gleichmässig vollzieht; sodann beachtet sie viel mehr die Abhängigkeit einer Kunstgattung von der andern z. B. die der Marmorskulptur von der Zeichnung, von der Malerei, von der Holzschnitzkunst, von der Bronce-Technik; sie erwägt endlich, wenn es sich um die Rekonstruktion eines verlorenen Kunstwerkes aus verschiedenartigen Nachbildungen handelt, genauer die Frage, in wie fern die Besonderheit einer jeden derselben durch ihre Kunstgattung selbst bedingt ist.

Auch die Mythologie, das Schmerzenskind der Philologie, ist zu guter Letzt zur Mündigkeit gelangt. Sie ist der Rute jener Einseitigkeit entwachsen, welche bald die griechischen und römischen Mythen als Personifikation von Naturvorgängen, wo möglich, von Einem Naturvorgange, bald alle Götter als Repräsentanten ethischer Kräfte, bald alle Mythen als Abglanz historischer Ereignisse fasste. Sie hat auch hier durch Individualisirung allen diesen Standpunkten nur eine gewisse Berechtigung zuzugestehen vermocht. Sie hat sich ferner von der alten plan- und methodelosen Mythenvergleichung losgesagt und an deren Stelle wahrhaft historische Mythenforschung gesetzt. [14] Sie hat gefragt: Gibt es indogermanische, gräkoitalische Mythen, und welches sind ihre etwaigen Kennzeichen? Die überwiegende Mehrzahl hat sie als rein griechische erkannt und nun weiter gefragt: welche sind gemein-griechische, welche Stamm- oder Lokal-Mythen? Auf welchem Wege haben sich diese verbreitet? Inwiefern ist orientalischer Einfluss anzuerkennen? Welches sind national-italische im Gegensatz zu den gräcisirten Mythen? Was hat in ältester Zeit den religiösen Sinn zu Mythenschöpfung angeregt? Welche allgemeinen, welche besonderen oder lokalen Natur-Erscheinungen? Wann und wie ist die Umwandlung ursprünglicher Naturgottheiten in Vertreter sittlicher Mächte erfolgt? Welche historischen Vorgänge haben in Mythen ein Andenken hinterlassen? Wie hat das Mährchen, wie haben die Dichter, wie die Künstler, wie die Philosophen, wie die Küster die Mythen behandelt? Endlich in welchen Gestalten des christlichen Mythos und in welchen Formen des christlichen Kultus leben die griechischen und römischen, wenn auch verändert fort?

Füge ich, um zu Ende zu kommen, nur noch hinzu, dass wir durch Theodor Mommsen ein Römisches Staatsrecht, durch Heinrich Nissen eine italische Landeskunde, aus dem Nachlass von Karl Neumann eine physikalische Geographie von Griechenland erhalten haben, so wird sich die Behauptung keiner Uebertreibung schuldig machen, dass die klassische Philologie – so grosse Aufgaben, wie die Lösung des etruskischen Rätsels, ein attisches Staatsrecht, eine historische Syntax, ein griechisches und lateinisches Lexikon, auch noch der Zukunft vorbehalten sind – zu keiner Zeit so mächtige, so ungeahnte Fortschritte gemacht hat wie im letzten Menschenalter.


Und doch zu keiner Zeit mehr Klagen über die Beschäftigung mit dem klassischen Altertum als heut! Aller Orten, in gelehrten Werken, in Brochüren, Zeitschriften, Tagesblättern begegnet man ihnen. Nun weiss ich zwar: Angriffe gegen die klassische Philologie sind fast so alt wie sie selbst, und mit diesen [15] wechselten Klagen der Vertreter der Altertumsstudien über deren Vernachlässigung und Verfall, am lautesten vielleicht von keinem geringeren als dem praeceptor Germaniae, Philipp Melanchthon selbst erhoben. Und siegreich haben diese Studien sich behauptet, sich über den gebildeten Erdkreis verbreitet und sind immer von neuem zur Blüte gelangt. Auch weiss ich recht wol: mit gewissen Gegnern ist nicht zu rechten, nämlich mit denen, welche die klassische Philologie überhaupt nicht kennen und mit denen, welche Unmögliches von ihr verlangen und sie für allen Schaden der modernen Bildung verantwortlich machen. Aber noch nie haben die Klagen ein solches Gewicht erlangt durch die Stimme derer, welche sie erheben. Böckh selbst hat ihnen sowol in Bezug auf den Schulunterricht als auf den wissenschaftlichen Betrieb der Philologie nicht ganz Unrecht geben können.[2] Ein warmer Freund der klassischen Philologie, selbst ein anerkannter Meister in seinem Gebiet der Philologie und ein Mann von wunderbarer Vielseitigkeit[3], hat vor zehn Jahren den Ausspruch getan, dass die Philologie ihre Heimat bald nur noch in den Hörsälen der Archäologen haben werde. Ein angesehener junger Philosoph hat im vorigen Jahre eine Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland ausgehen lassen, deren Schlussbetrachtung darin gipfelt, dass er den Tag nicht mehr ferne sieht, wo der Unterricht in den klassischen Sprachen vom Gymnasium ziemlich verschwinden, wo Deutsch und Philosophie an deren Stelle treten werden. Zuletzt aber und zumeist von mehr als Einem erprobten Schulmanne kann man die Ansicht hören, dass das junge Philologengeschlecht wenigstens teilweis etwas und zwar das beste, Idealismus und wahre Vertrautheit mit den alten Schriftstellern, vermissen lasse.

Soll, ja kann der Professor der klassischen Altertumswissenschaft solchen Stimmen gegenüber gleichgültig bleiben und im Vertrauen auf die Fürsorge der Unterrichts-Behörden [16] ruhig in seinem φροντιστήριον sitzen und μετεωροσκοπεῖν? Er könnte es nicht, auch wenn er nur Forscher wäre. Nun aber ist er auch, ja in erster Linie Lehrer, Erzieher philologischer Lehrer und hat als solcher die Pflicht den Ursachen jener zum Teil wolgemeinten Klagen nachzuspüren und, wenn er sie nur einigermassen berechtigt findet, auf Mittel zur Abhülfe zu sinnen. Und gerade der Lehrer an einer kleineren Universität scheint zu solcher Prüfung berufen, da er seinen Schülern besonders nahe tritt und auch ihre künftige Entwicklung als Lehrer genau verfolgen kann, besonders wenn er selbst Schulmann gewesen ist und mit seinem Herzen noch an der Schule hängt.

Der Kern jener Klagen lässt sich meiner Meinung nach in derselben Wahrnehmung zusammenfassen, welche Göthe in Bezug auf die klassische Altertumswissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts in einem Briefe an Knebel[4] ausgesprochen hat, dass die klassische Altertumswissenschaft an ihrer Bedeutung als Humanitäts-Studium merkliche Einbusse erfahren hat.

Den ersten und hauptsächlichsten Grund für letzteres aber finde ich in dem Ueberwuchern der Spezialisirung.

Das Reich der klassischen Philologie hat einen solchen Umfang und eine solche Tiefe erreicht, dass es für Einen Menschen fast unmöglich ist dasselbe ganz zu beherrschen. Ein Johann Albert Fabricius konnte noch das ganze Gebiet, wenn auch nicht gleichmässig, umspannen. Selbst ein so umfassender Geist wie Böckh war doch schon vorzugsweis dem Griechentum zugewandt. Und heut sitzen auf den philologischen Lehrstühlen Deutschlands nur sehr wenige Männer, welche ihm an Vielseitigkeit nur nahe kommen. Von der Mehrzahl ist der eine Gräcist, der andere Latinist, der eine Kritiker, der andere Archäolog, der eine Antiquar, der andere Grammatiker, ja unter den letzteren gibt es bereits eine Spezies, welche sich nur mit Lautlehre und [17] Etymologie, höchstens noch mit Formenlehre beschäftigt und Grammatiken nicht aus lebendiger Kenntnis der Litteratur, sondern aus dem Lexikon oder höchstens aus Inschriften schreibt. Die durch solche Spezialisirung dem humanistischen Beruf der Altertumswissenschaft drohende Gefahr aber ist um so grösser, je imponirender die Spezialistik an sich auftritt, je begabter und anziehender als Persönlichkeiten und Lehrer ihre Vertreter sind. Für diese selbst ist die Gefahr gross; grösser aber ist sie für die Hörer und wächst in dem Masse, als diese sich mit Hintenansetzung von allem andern dem von ihrem Lehrer besonders kultivirten Zweige ganz zu eigen geben. So kann es kommen, dass die Adepten solcher Weisheit es nicht für ein Sakrileg halten den Aeschylus, Sophokles oder Homer zum linguistischen Versuchsfelde zu machen; so kann es kommen, dass Jünger, welche mit ihrem Meister auf die alleinseligmachende Kraft der diva critica schwören, auch ohne dass eine sachliche Nötigung vorhanden ist, mit den Schülern Wort-Kritik treiben; so kann es kommen, dass das Studium der alten Geschichte, welche in ihrer wunderbaren Regelmässigkeit und Grossartigkeit in wol gestimmten Seelen einen wahrhaft erhebenden Eindruck zurücklässt, in Quellenkritik oder in Hypothesen über prähistorische Verhältnisse oder in minutiösester Ermittelung eines winzigen Ereignisses aufgeht. Und wie kann jemand, welcher in der Chronologie, im Kalender, in antiquarischem Detail stecken bleibt, sich aber nicht bemüht Sinn für Komposition eines historischen Kunstwerkes, Sinn für Geschichtserzählung und Sprachgefühl sich anzueignen, im Stande sein andre die Schönheit eines Herodot oder Thukydides würdigen zu lehren! Selbst Epigraphik kann das Studium der alten Historiker in keiner Weise ersetzen, und wer der Jugend Inschriften statt historischer Werke bieten wollte, würde ihr Steine statt Brot reichen. – Gewis ist das Schicksal vielfach ungerecht gewesen und hat Werke von grösster Bedeutung untergehen lassen: die Sammlung ihrer Trümmer und Vereinigung zu einem Ganzen ist Pflicht der Wissenschaft; [18] aber das Studium dieser Fragmente kann niemals Lektüre der erhaltenen Werke ersetzen. – Wol interessirt an einem Kunstwerke Stil und Form in hohem Masse; wer aber an demselben nicht mindestens in gleichem Masse den Gehalt sehen und aufzeigen will, bringt sich und andere um den schönsten Genuss, um die tiefste Wirkung.

Soll mithin der Spezialisirung der klassischen Altertumswissenschaft auf der Universität der Krieg erklärt werden? Sollen die philologischen Universitätsstudien nur für den nächsten praktischen Zweck, auf Aneignung der für den Gymnasial-Unterricht im Griechischen und Lateinischen erforderlichen Kenntnisse eingerichtet werden? Das mag nach dem Geschmacke manches sein. Ich halte beides für vergeblich und verderblich zugleich. Spezialisirung ist für den Fortschritt der Wissenschaft, der uns ein unantastbares Palladium sein muss, unerlässlich; jede Erweiterung des Gesichtskreises, jede Erhöhung des Zieles, jede Vertiefung der Erkenntnis ist nur durch Spezial-Forschung zu gewinnen. Aber jeder besonnene Forscher kann und der akademische Lehrer soll den Blick wenigstens auf das Ganze gerichtet halten, soll ausserdem dass er ein Mehrer des Reichs seiner Wissenschaft ist, auch ein getreuer Haushalter des von seinen Vorfahren und Genossen erworbenen Besitztumes derselben sein – nicht blos im Interesse seiner eigenen Arbeiten, welchen die Weite des Blickes gewis nur zu Gute kommen wird, sondern auch im Interesse seiner Schüler, um sie vor einseitigem Studiengang zu bewahren und ihnen das für sie geeignetste Arbeitsfeld anzuweisen. Denn gerade die Vielseitigkeit philologischer Tätigkeit erfordert Aufmerksamkeit in der Wahl des Arbeitsfeldes. Wer nicht Verständnis für das Wesen von Glauben und Dichten hat, bleibt besser von der mythologischen Forschung weg, wer nicht poetischen Sinn hat, von der Kritik der Dichter, wer nicht Sprachgefühl hat, von der Grammatik, wer nicht politischen Sinn hat, von verfassungsgeschichtlichen oder staatsrechtlichen Untersuchungen.

[19] Und um zur zweiten der oben verneinten Fragen zu kommen, der akademische Lehrer der klassischen Philologie soll zwar in erster Linie künftige Gymnasial-Lehrer heranbilden, aber nimmermehr tut er das richtig, wenn er sie nur dazu anhält sich die für den Unterricht im Griechischen und Lateinischen erforderlichen Kenntnisse anzueignen. Vor allem soll er sie lehren wissenschaftlich arbeiten. Damit gibt er ihnen fürs erste und zum ersten Male das unersetzliche Gefühl der Schaffensfreudigkeit, aber auch einen für immer unverlierbaren Segen, der sie frisch erhält und Anfechtungen mannhaft bestehen lässt, der sie befähigt nicht nur Lücken in den eignen Kenntnissen und Fähigkeiten auszufüllen, sondern auch überhaupt erst in jugendlichen Gemütern Sinn für Wahrheit und Wissenschaft zu wecken. Keiner soll ein Exerzitienmeister, jeder soll Philolog werden.

Zu solcher selbstständigen Bestellung aber sind alle Gebiete der Philologie gleich gut; es kommt nur darauf an, dass die Aufgaben den Kräften entsprechen und unter richtigem Gesichtspunkt d. h. wieder im Hinblick aufs Ganze gestellt seien. Linguistische Studien führen in das Wesen der Sprachbildung, syntaktische in den Sprach- und damit in den Volksgeist, metrische in die Stätte dichterischen Wirkens ein; sie alle sind für den Philologen um so wertvoller, als sie die Grundlage seiner Forschung bilden und auf der von ihm sonst weniger geübten Methode der Induction beruhen. Kritik ist die ‚Wage und Hüterin der Wahrheit‘, macht den Kopf hell, übt den Scharfsinn und gibt, richtig betrieben, auch eine vorzügliche Anleitung zur Auffassung eines historischen Processes; Litteratur- und Kunstgeschichte führt in die Betrachtung der edelsten Schöpfungen des Menschengeistes ein, die Beschäftigung mit der alten Philosophie insbesondere mitten in die Probleme der Psychologie, Erkenntnistheorie und Ethik; Mythologie führt an die Wurzeln religiöser Vorstellung. Die Beschäftigung mit dem antiken Staate befähigt zur Auffassung des Werdeprocesses staatlichen Lebens überhaupt; die Vertiefung in das griechische und noch mehr in das römische [20] Recht lehrt die Entwicklung von rechtlichen Anschauungen und von Rechtsbildung überhaupt und die Bedeutung der Form im Rechtsleben insbesondere verstehen. – So ist die klassische Philologie ein weites Haus, in dem viele Wohnung machen können, und der Philolog soll, mit einem hochgeschätzten Fachgenossen zu reden, ein weites Herz haben, soll sich recht eigentlich als den Kulturhistoriker der griechisch-römischen Welt betrachten, auch in ihren Berührungen mit der Vorwelt und in ihren Nachwirkungen auf die Nachwelt, auf die Kultur des Mittelalters, auf die der Renaissance, auf die der Neuzeit. Ein Dante und ein Raffael fällt ebenso in den Gesichtskreis des Philologen wie ein Rabelais und Molière, ein Calderon und Shakespeare, ein Schiller und Goethe, ein Carstens, Thorwaldsen und Schinkel. Einengung dieses Gebietes wäre ebensosehr vom Uebel wie Geringachtung derer, welche nicht gerade die Bearbeitung des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. oder des augusteischen Zeitalters sich zur besonderen Aufgabe gesetzt, sondern mutig und entsagungsvoll bisher wenig oder gar nicht betretene Strecken zur Anbauung gewählt haben.

In non necessariis libertas!

Dem aber steht gegenüber: in necessariis unitas! Und damit komme ich zu dem Heilmittel gegen den andern Grund des Schadens, das Aufgehen in der philologischen Technik.

Ueber alle Spezialstudien sei gleichsam als Weihe ausgegossen die Versenkung in den Geist der Antike, als den Geist reinster Humanität, den Geist edler Einfachheit und stiller Grösse, tiefer Frömmigkeit, besonnener Masshaltigkeit, strenger Zucht, harmonischer Entfaltung der körperlichen und geistigen Kräfte. In diesen Geist die künftigen Lehrer edler deutscher Jugend nicht das eine oder andere Mal einzutauchen, sondern wirklich einzuweihen muss das Α und Ω der Tätigkeit des akademischen Lehrers sein und bleiben in Vorlesungen, Uebungen, Anweisungen, wie bei festlichen Gelegenheiten. Ihm diene besonders die Einführung in die Mythologie und Sakral-Altertümer, in [21] das öffentliche und häusliche Leben der Alten, vor allem aber die Auslegung der Litteratur- und Kunstwerke. Denn man kann den Alten Aberglauben, ihrer Politik hier und da Engherzigkeit und Selbstsucht, einzelnen Staatsmännern Schwächen, ihrem Leben gewisse Flecken, ihren wissenschaftlichen und technischen Bestrebungen Unvollkommenheiten nachsagen: die Werke ihrer Poesie und Kunst strahlen in hellstem und reinstem Glanze. Ihre Auslegung muss daher den Mittelpunkt alles philologischen Unterrichts bilden. Eine Vorlesung über eine griechische Tragödie wird selbstverständlich vom Leben des Dichters, den Einrichtungen der Bühne, der Feststellung des Textes zu handeln haben; nicht aber wird sie ihre Aufgabe lösen, wenn sie nicht vor allem die Tragödie als ganzes würdigt im Verhältnis zur Sage und deren Behandlung durch die Vor- und Nachwelt, zu den Ideen der Zeit und des Dichters selbst, zuletzt aber auch nach ihrem rein menschlichen Gehalte. Und ähnlich ist es mit der Erklärung eines lyrischen Gedichts, einer Rede, eines philosophischen Dialogs. Und in noch höherem Masse gilt dies von den Werken der bildenden Kunst, in welchen das Griechentum für alle Zeiten schlechthin vorbildliches geschaffen hat. Zwar wird auch eine Vorlesung über ein Kunstwerk von Auffindung, Erhaltung, Material, Entstehungszeit, Schule, Bedeutung und Bestimmung zu reden haben, aber auf halbem Wege würde sie stehen bleiben, wollte sie nicht nach Winckelmanns Vorbilde in dem Kunstwerke eine Aeusserung desselben griechischen Geistes nachweisen, welcher die homerischen Gesänge, die Lieder des Alcäus und der Sappho, die Tragödien des Aeschylus, die Dialoge Platons schuf, wollte sie dasselbe nicht auch nach seinem rein menschlichen Gehalte würdigen, an einer Niobe beispielsweis das Ringen des Stolzes und des Schmerzes der Mutter, an den attischen Grabreliefs den Geist seelenvoller Trauer, für welche der Tod nichts Bitteres bat, an den attischen Grabvasen den Geist ehrfürchtiger Pietät vor den Todten, an den attischen und tanagräischen Terrakotten den Geist beglückter [22] und beglückender Anmut aufzeigen. Nur so wird ein Vortrag nicht blos leuchtendes, sondern auch wärmendes Licht geben; nur so wird die klassische Philologie ihr letztes Ziel, das Beste an aller geschichtlichen Betrachtung, erreichen: Begeisterung, jugendfrische und andächtige Begeisterung für die Schönheit des Hellenischen Geistes erwecken, das Gemüt mit Liebe zu demselben erfüllen, den Willen zur Nacheiferung anspornen.

Schulen edlen Geschmackes, lebendigen Mit- und Nachempfindens, der Gemütserhebung sollen die Vorlesungen über Dicht- und Kunst-Werke sein.

Und unter diesem Gesichtspunkte, um der klassischen Altertumswissenschaft humanistisches Terrain zu erhalten und wiederzugewinnen, soll der Philolog sich durch einzelne Miserfolge nicht abschrecken lassen immer von Neuem auch dem Bedürfnis von Hörern andrer Fakultäten in besonderen Vorlesungen entgegenzukommen; denn es scheint nicht denkbar, dass die echte Naivetät Homers, die Erhabenheit eines Aeschylus, die fromme gedankenvolle und formvollendete Schönheit eines Sophokles, die dramatische Kunst eines Euripides, die schalkhafte Grazie eines Aristophanes, die warme Leidenschaft eines Catull oder Properz, der liebenswürdige Humor eines Horaz – der Anziehungskraft für Jünglinge und insbesondere für deutsche Jünglinge schon verlustig gegangen seien. Und noch leichter muss es dem Archäologen werden bei der Erklärung der Denkmäler des Museums Hörer aller Fakultäten um sich zu versammeln, nicht blos ihren Beobachtungssinn anzuregen, sondern sie in das Heiligtum griechischer Kunst einzuweihen, Sinn und Verständnis für Gehalt und Form von Werken höchster Kunst überhaupt zu wecken. Denn ich bin allerdings der Meinung, dass wenn, was ich nicht zu glauben vermag, die deutsche Jugend und somit die deutsche Nation einmal jenen Klassikern den Rücken kehren sollte, es den Werken der griechischen Kunst beschieden sein wird sie wieder zu jenen zurück zu führen. – Und ungerecht wäre es die lebhafte Teilname, mit welcher die Nation die auf Wiedererweckung [23] griechischer Kunst gerichteten Bestrebungen unsers erhabenen Herrscherhauses und des neu erstandenen Reiches begleitet hat und begleitet, zu verschweigen. Ein steter Antrieb zugleich für diejenigen, in deren Hände die Sorge für die Hochschulen gelegt ist, auch den archäologischen Museen Licht, Luft und Mittel zu gewähren. Die Lehrer der Archäologie aber zeigen sich würdig und dankbar für den Vorzug, nach welchem die grössten Geister, ein Raffael, ein Dürer, ein Winckelmann vergeblich getrachtet haben, so viele und solche Werke griechischer, menschlicher, höchster Kunst zu schauen und was sie reden, auszudeuten. Die Hüter des Kleinods der Humanität sehen zu, dass sie die Krone desselben behalten!

Wenn sich die klassische Philologie derart ihrer besonderen erziehlichen Bedeutung bewusst ist und erkannt hat, dass die bevorzugte Stellung auch besondre Pflichten auflegt, wird sie auch dem Zeitgeist wieder ihren Stempel aufdrücken.

Sie erziehe ein Geschlecht von Jüngern, in welchem philologische Tüchtigkeit als der Kopf und warme Begeisterung für die Ideale der Humanität als das Herz einen glücklichen Bund geschlossen haben; sie sorge im Besondern dafür, dass (wie es in Rostock, der kleinsten deutschen Universität, deren Seminar-Statuten von keinem geringeren als Gottfried Hermann ausgearbeitet sind, wenigstens bis vor kurzem geschah) ein Teil der Seminar-Uebungen dazu verwendet werde die Studirenden in angemessener Erklärung von Schulautoren und im Unterricht von Schülern zu üben; sie sorge dafür, dass wenn dann ‚der heilige Frühling‘ junger philologischer Mannschaft aus dem Heim der alma mater auszieht, er an gereifte und erfahrene Lehrer gewiesen werde, welche sich ihrer als ältere Freunde annehmen; sie achte darauf, dass die Ziele des Unterrichts in den klassischen Sprachen, als der besten und gesundesten Nahrung für jugendliche Gemüter, auch auf dem Gymnasium genau innegehalten und weder durch Kleinigkeitskram noch durch Liebhabereien noch durch zu viel Nebenfächer beeinträchtigt und eingeengt werden; endlich sie sorge [24] dafür, dass abermals nach hellenischem Vorbilde auch dem Körper die gehörige Gymnastik zu Teil werde: dann wird sie wahrhaft nationale, wahrhaft humane Pädagogik treiben.

Und damit genug. Denn alle andern in jüngster Zeit wieder erhobenen Vorwürfe, dass die klassische Philologie ihre Jünger zur Gleichgültigkeit gegen das Vaterland und gegen die moderne Kultur, zur Abneigung gegen das Christentum erziehe, sind nichtig. Die Griechen und Römer mahnen wie wenige durch Wort und Beispiel zur Vaterlandsliebe, nur wehrt die Beschäftigung mit ihnen dem falschen Chauvinismus, indem sie von Platon und dem alten Cato lernt, dass die Politik auf der Erkenntnis des Gerechten ruht und dass ein guter Bürger und Redner vor allem ein guter Mensch sein müsse. Willig verzichtet die klassische Philologie der Gegenwart auf den Anspruch vergangener Jahrhunderte im Altertum die Quelle absoluter Erkenntnis und Wahrheit zu sehen; neidlos erkennt sie die Ueberlegenheit der Jetztzeit über das Altertum in den mannichfachsten Beziehungen an; nur erinnert sie daran, dass die erstere auf den Schultern des letzteren steht und hebt hervor, dass in der Erkenntnis des Menschen und in der Ausgestaltung des Menschlichen die Alten unübertroffne Meister sind. Desgleichen betont sie, dass christliche Wissenschaft und christliche Kunst Kinder der Antike sind, dass wie das Christentum sich in seinen Anfängen an die griechisch-römische Kultur angelehnt hat, so der Humanismus der Vorläufer und Mitstreiter der Reformation und mit ihr der Freiheit der Wissenschaft gewesen ist; sie kann nicht zugeben, dass, wie immer wieder von gewisser Seite verlangt wird, das Neue Testament in griechischer oder lateinischer Sprache oder Kirchenväter als Lektüre auf den Gymnasien an die Stelle der Klassiker treten oder dass die letzteren christianisirt werden. Aber die fromme Sage, dass als der Stern über Bethlehem aufging, die Bilder der alten Götter zerbrachen und umstürzten, nimmt sie willig in dem Sinne an, dass die olympischen Götter fortan nur noch [25] dem Reich der Poesie und Kunst angehören; von den schwärmerischen Versuchen eines Gemisthos Plethon auf Wiederherstellung eines Polytheismus wendet sie sich ebenso entschieden ab wie von der Zügellosigkeit und Selbstsucht gewisser Richtungen des italienischen Humanismus jener Zeit; sie glaubt, dass die Hingabe an die grossen menschlichen Ideen durch die von Christus gewollte Gesinnung verklärt werde, indem sie erfolge in Demut und aus Liebe, als dem Abbilde der göttlichen Liebe.





Druck von Schmidt & Klaunig.

Anmerkungen des Originals

  1. Warum hier die Bezeichnung ‚klassische Philologie‘ im Böckh’schen Sinne beibehalten worden ist, wird sich dem kundigen Leser aus der Tendenz des Vortrags ohne weiteres ergeben.
  2. Encyclopädie und Methodol. der philol. Wissenschaften S. 306.
  3. Preuss. Jahrbücher 38, 599.
  4. I, 311: „Schon fast seit einem Jahrhundert wirken Humaniora nicht mehr auf das Gemüth dessen, der sie treibt.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: klassichen