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Die letzten Lebenstage der Sophie Albrecht

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Textdaten
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Autor: Friedrich Clemens Gerke
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Titel: Die letzten Lebenstage der Sophie Albrecht
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 399–400
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Sophie Albrecht
Blätter und Blüthen
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[399] Die letzten Lebenstage der Sophie Albrecht. Die Gartenlaube brachte unlängst eine biographische Skizze aus dem Leben der Freundin Schiller’s, welcher wohl Niemand ein höheres Interesse abgewinnen konnte als der Unterzeichnete, der den letzten jammervollen Lebenstagen jener interessanten Frau einen mindestens leidlichen Ausgang zu geben suchte und dennoch ein Zeuge des schaudervollsten Elends sein mußte, welches jemals einem fühlenden Wesen den Weg zum Grabe mit Dornen bestreute. Hat man aber die sonnenhellen Lebenstage einer „schönen Seele“ der Betrachtung werth gefunden, warum sollte man das Gemälde unvollendet lassen, indem man die schauerlich düstern Schattenseiten kurz vor dem Ende dem Anblick zu entziehen suchte? –

Anfangs der vierziger Jahre hatte Streicher, der treue Freund und Begleiter Schiller’s auf seiner Flucht aus Stuttgart, die Erzählung dieser interessanten Abenteuer aus dem Leben unsers großen Dichters veröffentlicht. Noch frisch unter dem Eindruck dieser Lectüre, saß ich eines schönen Sommernachmittags in Hamburg in der Laube eines Freundes beim Kaffee, als ein Dienstmädchen hereintrat und ihm einen Brief überreichte. Als er ihn erbrochen und gelesen, blickte er ziemlich verdrossen und sichtlich unangenehm berührt auf die Bringerin und sagte unwirsch zu ihr: „Grüßen Sie Ihre Madame, und ich müsse sie bitten mich von jetzt an mit Zuschriften zu verschonen; ich kann nichts mehr für sie thun. Der ärztliche Verein, zu dem ich gehöre, hat sie jahrelang unterstützt, aber man ist der Sache überdrüssig geworden, sie muß sehen, wie sie sich sonst durchhilft. Addio!“

Sehr bestürzt und erschreckt entfernte sich das Mädchen. Als es gegangen war, bat ich den Arzt um nähere Aufklärung der Scene. „Es handelt sich um die Doctorin Albrecht,“ erwiderte er. „Sie müssen ja von ihr gehört haben, denn sie war einst eine ziemlich berühmte Schauspielerin, und da ihr verstorbener Mann einstmals Arzt gewesen, ehe er Schauspieldirector wurde, so haben wir die alte Dame unterstützt. Allein es hat Alles seine Grenzen, und es giebt Menschen, die auch dem wärmsten Mitleid zu lange leben!“

Anfangs konnte ich vor Bestürzung die Sprache kaum finden. Gestern erst hatte ich im Streicher die bekannte Episode von Schiller’s Verhältniß zu dieser Frau gelesen, und heute wurde sie hier als Bettlerin abgewiesen! „Um Gottes willen!“ fuhr ich auf und griff nach Hut und Stock, „wo wohnt die Frau? ich muß sogleich zu ihr; ihr soll, ihr muß geholfen werden! So etwas kann und wird die deutsche Nation nicht dulden!“ – Gesagt, gethan! Sie wohnte ganz in der Nähe im Hinterhause eines Maurermeisters, der ihr, ich weiß nicht durch welche Verkettung von Umständen, eine Freiwohnung zu geben verpflichtet war. Ich fand die alte Dame, zwar großmütterlich verschrumpft, wie es einer Achtzigerin geziemt, jedoch noch geistig leidlich frisch und wohl empfänglich für meinen Vortrag bezüglich ihrer desperaten Lage an so spätem Lebensabende und nunmehr verlassen von jeder Hülfe; denn an die Armenanstalt sich zu wenden hatte sie – abgesehen von der bekannten Geringfügigkeit der dort gewährten Gaben – im Gefühl ihrer Würde doch nicht über sich gewinnen können. Zu meinem Bedauern scheiterte aber hieran auch mein wohlgemeinter Vorschlag, mit Hinweis auf ihren einstmaligen Freundschaftsbund mit Schiller bei der deutschen Nation für sie zu collectiren; und so blieb mir vor der Hand nichts weiter übrig, als eine meinen Verhältnissen angemessene Gabe (einen Gulden) mit wohl motivirter Entschuldigung in ihre dürre Hand. zu legen, den sie dankend entgegennahm, um dann von alten classischen Zeiten zu plaudern, von ihren glücklichen Tagen in Dresden, wo sie mit ihrem Freunde unter Einem Dache wohnte und die schönen Töchter einer pensionirten Wittwe ihre Netze um ihn woben und seine kleine Baarschaft verschlangen, so daß er beständig Vorschüsse von seinem Buchhändler erbitten mußte, bis seine Freunde ihn endlich halb mit List aus der Nähe jener Sirenen entfernten, u. dergl. m. Für alle diese längst vergangenen Dinge hatte sie eine lebhafte Erinnerung und durchlebte im Geiste mit sichtbarer Erhebung noch einmal jene sonnigen Tage, mit denen das Heute, ach, so schmählich contrastirte. Ich schied endlich mit der Zusage von ihr, daß, wenn sie etwa, von Noth gedrängt, bezüglich der Collecte andern Sinnes werden sollte und mir Botschaft sende, ich jeder Zeit gern zu ihrer Verfügung stehen würde.

Leider war ich nur zu sicher, daß diese Botschaft nicht lange auf sich warten lassen werde, und dennoch hatte die bittere Noth vierzehn Tage gebraucht, um den edlen Stolz der armen Frau zu brechen; dann aber ließ sie mich bitten, zu ihr zu kommen, und unter Thränen gab sie mir jetzt die Erlaubniß, der Welt ihr bitteres Leid an’s Herz zu legen.

Die Hamburger Nachrichten waren gleich bereit, sich zum Organ meines Aufrufs an edle Herzen zu machen, und am nächsten Morgen war ich noch nicht in den Kleidern, als es schon an meine Thür klopfte und kleine Geldpäckchen für die Freundin Schiller’s einliefen. Das ging denn nun so einige Wochen fort; von fern und nah kamen die blanken Gulden heran, Genannte und Ungenannte, mit und ohne Grüße, ja bis in die Schweiz hinein thaten sich die milden Herzen auf; so taucht in einem Winkel meines Gedächtnisses u. A. noch die freundliche Zuschrift der Frau Birch-Pfeiffer auf, welche damals Directorin eines Stadttheaters daselbst (in Zürich) war. Genug, einige hundert Thälerchen kamen im Fluge zusammen, und gleich die ersten trug ich hin, um die erste bittere Noth zu stillen und namentlich für Wäsche zu sorgen, an der es gänzlich gebrach.

Ich mußte indeß meinen kleinen Schatz wohl zu Rathe halten und spärlich eintheilen, denn die gute Alte war zäh, das sah man ihr wohl an, und zum andern Mal durfte ich wohl, ohne Verdacht des Eigennutzes zu erregen, nicht bittend wiederkommen. So theilte ich ihr denn wöchentliche Rationen von zwei Thalern zu. Das ging denn nun so einige Jahre fort und die Alte befand sich leidlich wohl dabei. Indeß, mein kleiner Schatz ging nun auf die Neige und die Sorge um das Weitere veranlaßte mich, meinen Freund, den vorhin erwähnten Arzt, zu ersuchen, nunmehr wieder an meiner Statt einzutreten, was auch geschah. Ein halbes Jahr darauf, eines schönen Morgens, erschien der Hauswirth bei mir, um mir die Besorgniß auszusprechen, es möchte wohl bei der Alten nicht recht richtig sein. Sie schreie oft die ganze Nacht hindurch, und er fürchte, das Mädchen behandle sie schlecht und werde bald ganz davonlaufen. Ob ich denn nicht einmal dort nachsehen wolle? Ganz erschreckt, machte ich mich sofort auf den Weg, um die Sachlage zu erkunden, wurde aber abgewiesen, weil Frau Doctorin schliefe, und dieses zu dreien Malen, bis mir endlich der Geduldsfaden riß, ich die freche Thürhüterin zur Seite stieß und den Eingang erzwang. Und siehe, da lag nun die jammervoll wimmernde Alte in einen Knäuel zusammengewunden, zitternd vor Kälte, vielleicht sogar vor Hunger, auf einem zerfetzten und beschmutzten Lager, das einst ein Bett gewesen war, und schon das Aeußere ließ erwarten, welcher Jammer darunter verborgen sein mochte? Ich war auf das Schlimmste gefaßt, als ich mit spitzen Fingern die Decke lüftete. Was aber mein Auge jetzt sah, überstieg alles Gefürchtete und die Schrift sträubt sich, dem Leser auch nur andeutungsweise eine Vorstellung zu verschaffen von dem erbarmungswürdigen Elend, in dem die einst so gefeierte Künstlerin jetzt vor meinen erstaunten Blicken dalag. Glücklicherweise hatte sie kein Bewußtsein von ihrem Elend mehr, denn der Jammer hatte sie wahnwitzig gemacht. Das Scheusal von Mädchen hatte ihre hülflose Herrin so verkommen lassen und meine schneidenden Vorwürfe glitten an der Entschuldigung dieses versteinerten Herzens ab, daß sie keine Mittel zur Pflege gehabt habe. Bekannt war es aber, daß sie die noch immer nicht versiechten Gaben mit einem Geliebten verjubelt hatte, mit dem sie bald darauf nach Amerika entfloh.

Was war nun zu beginnen? Nach verschiedenen vergeblichen Anfragen [400] trug der Landherr, Senator Dammert, an, mich ex officio zum beständigen Curator für die Alte zu machen und sie so meiner Verfügung gänzlich anheim zu geben. In meiner ängstlichen Besorgniß war ich zu Allem bereit und eilte mit meiner Vollmacht in der Tasche zu meiner Frau. „Holen wir sie hierher!“ rief diese entschlossen; „die Alte muß zuvörderst gereinigt werden, dann geben wir ihr Speise und Trank, und Du sollst sehen, sie wird schon wieder vernünftig werden.“ Das war auch mein Gedanke! Eine Droschke fuhr des Weges und wurde engagirt, eine große, wollene Decke mitgenommen, die Alte hineingewickelt, wie sie dalag, und fort ging’s auf dem Arm des Kutschers in den Wagen und weiter in meine kleine Behausung. Aber ach, alle Sorge, alle Reinlichkeit, alle Pflege war zu spät! Zu schrecklich tief hatte das Elend an diesen Trümmern genagt: sie schrie und jammerte fort und fort, Speise und Trank wurde verschmäht, kein Schlaf kam mehr in ihre Augen. Das allgemeine Krankenhaus blieb nun die letzte Zufluchtsstätte; dorthin ließ ich sie bringen, und nach weitern vierzehn Tagen erlöste der Tod die arme, unglückliche Dulderin von ihrem grenzenlosen Elende.

Von der Herausgabe einer Anthologie ihrer Gedichte auf Subscription hatte ich abermals ein kleines Sümmchen für sie in petto, wenn die ärztlichen Gaben etwa wieder erschöpft sein möchten. Von diesem ließ ich ihr einen anständigen Sarg anfertigen, sie hübsch einkleiden und so fuhren wir Drei, meine Frau, mein Pflegesohn, und ich, eines Tages zum Lübecker Thor hinaus und geleiteten die endlich glücklich gewordene Freundin Schiller’s als einziges Gefolge zu ihrer letzten Ruhestätte und warfen die erste Erde auf ihren Sarg.

Wer in Hamburg einmal die jetzige sogenannte Sechslingspforte an der Alster passirt, der sieht dort ein mit Pappeln eingehegtes, mit niedern Hügeln bedecktes Viereck, einstmals der Friedhof des allgemeinen Krankenhauses. Dort schlummert Sophie Albrecht, die Freundin Schiller’s, der die Kieler Studenten einst als gefeierter Künstlerin Abends die Pferde ausspannten und die nun am Abend ihres Lebens, vom bittersten Elende zu Tode gemartert, kaum noch einem menschlichen Wesen glich. Sanft ruhe ihre Asche!

Fr. Clemens.