Die masurischen Seen
Die masurischen Seen.
Im südöstlichsten Winkel unserer Ostmark, hart an der russischen Grenze, zieht sich ein Landstrich hin, der nach Bodenbeschaffenheit und Art der Bewohner scharf von seiner Nachbarschaft geschieden ist, das Ländchen der Masuren. Es umfaßt sieben Kreise des Regierungsbezirkes Gumbinnen: Angerburg, Johannisburg, Sensburg, Lötzen, Lyck, Oletzko, Ortelsburg und einen Theil des Kreises Goldap. Als seine Hauptstadt gilt das an dem See und Flusse gleichen Namens gelegene Städtchen Lyck. Der uralisch-baltische Höhenzug mit seinen ausgedehnten Wäldern, den weiten Strecken Heideland giebt ihm sein eigenartiges Gepräge: herb wie der Duft des Kiefernwaldes im Sonnenschein und schwermüthig wie Bruchland im Oktobernebel. Den eigentlich bestimmenden Zug in seinem Landschaftsbild bringen jedoch die zahlreiche Seen und Gewässer aller Art hervor, die fast jede tiefer gelegene Bodensenkung ausfüllen.
Von dem mehr als eine Quadratmeile großen Mauersee, der mit seinen kreuzförmigen Verzweigungen von der Stadt Angerburg bis Lötzen reicht und dort durch einen Kanal mit dem kaum minder umfangreichen Löwentinsee verbunden ist, zieht sich südwärts in fast ununterbrochener Folge eine Kette größerer und kleinerer Gewässer hin bis zu dem gewaltigen Spirdingsee, der mit seinen weitauslaufenden Buchten mehr als zwei Quadratmeilen bedeckt. Durch den masurischen Kanal ist unter diesen Gewässern, die nordwärts mit dem Pregel, südwärts durch den Abfluß des Spirdingsees mit den Weichselzuflüssen in Verbindung stehen, eine verkehrsreiche Wasserstraße geschaffen, die hauptsächlich zur Beförderung der aus den masurischen Forsten stammenden Flöße dient. Ostwärts zweigt sich hiervon ein anderes, in breitem Zuge verlaufendes Seenband ab, das seinen Abschluß in dem theilweise bereits auf russisches Gebiet hinüberreichenden Raigrodsee findet.
Eine Fülle von Naturschönheiten ist über dieses wald- und wasserreiche Stückchen Erde verstreut, Schönheiten, an denen der Einheimische achtlos vorübergeht und von denen keines der gangbaren Reisehandbücher erzählt. Und doch dürften sie sich getrost so manchem an die Seite stellen, was „draußen im Reiche“ von naturschwärmenden Touristen bestaunt und gepriesen wird.[1]
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[498] Der schwermüthige Skomentnersee, an dessen flachen Ufern sich der einsame Kegel der Biala Gora mit den Resten der sagenhaften Skomandburg erhebt, die von schweigenden Kiefernwäldern umrahmten, terrassenförmig sich folgenden Selmentseen, der lieblich gelegene Schwentainersee mit dem wie ein Schwalbennest am steilragenden Ufer hingeklebten Dorfkirchlein, der langgestreckte Laszmiaden-, der blaue Muckersee, und wie sie sonst noch heißen mögen – an ihren Ufern giebt’s manch weltverlorenen Platz, wo sich’s gut träumen läßt unter dem heimlichen Rauschen der Kiefernwipfel, indeß der Wind im raschelnden Schilfe seine alten Märchen raunt und die blauen Wellen leise schwatzend auf dem hellen Ufersand ihr nimmer endendes Spiel treiben. Und erst der gewaltige Spirdingsee, das masurische Meer! Ob auf seiner weiten Fläche sich die Sommersonne gleißend spiegelt, die dampfenden Herbstnebel brauen, ob er vom Sturme gepeitscht die schaumgekrönten [Well]en langausrollend durch das dichte Geröhricht zum Ufer wälzt [od]er in Frühjahrsnächten unter Brüllen und Tosen d[ie] [F]esseln des Winters sprengt: stets trägt sein Bild den Stempel [d]er majestätischen, überwältigenden Größe.
Der landschaftliche Reiz, das ist nun aber auch so ziemlich der ganze Reichthum des Masurenlandes. Es geht ihm wie dem Mädchen in dem Liede, von dem der Bursche singt:
„Schön bist du, Herzallerliebste,
Wie die Blum’ im Wiesenlande.
Aber arm bist du, mein Mädchen,
Wie der Stein am Wegesrande."
Masuren ist ein wenig ergiebiges Land. Sein Boden liefert nur mäßigen Ertrag, und die angebauten Strecken werden reichlich aufgewogen durch das unfruchtbare Heidenland, auf dem nichts weiter gedeiht als die Krüppelkiefer und der Wachholderstrauch.
Mit dieser Kärglichkeit des Bodens geht freilich eine fast beispiellose Bedürfnißlosigkeit der Bewohner Hand in Hand. Der masurische Bauer bescheidet sich zufrieden mit dem mäßigen Ertrag seines Grundstückes. Denselben durch eine rationellere Bewirthschaftung zu verbessern, wie es seine deutschen Dorfnachbarn thun, kommt ihm nicht in den Sinn. Er bebaut seinen Acker, wie er’s vom Vater und Großvater gelernt hat, der liebe Gott wird dann schon wachsen lassen. Und wenn der Himmel einmal nicht gnädig ist, die Ernte mißräth, so ist dabei eben nichts zu machen. Das Mittelfeld unseres Bildes giebt eine Anschauung von einem masurischen Anwesen: das niedrige Holzhaus und die Wirthschaftsgebäude strohgedeckt, ein schlecht gepflegter Garten mit Küchenpflanzen und ein paar verkümmerten Nelken und Resedastöcken, daneben in einiger Entfernung der altväterische Ziehbrunnen, der das Wasserholen zu einer beschwerlichen Arbeit macht. Nichts eintöniger und trostloser als der Anblick eines masurischen Dorfes! Wie zerlumpte Bettler stehen die niedrigen Hütten mit ihren verwitterten Holzwänden, den windverzausten grauen Strohdächern und den grün angelaufenen blöden Fensterscheiben zu beiden Seiten der Straße.
Das Innere dieser Hütten entspricht durchans dem Aeußeren. Schmucklos, oft mit ungetünchten Wänden und ungedieltem Fußboden, enthält es meistens nur den nothdürftigsten Hausrath – einen Tisch, ein paar Bänke und Stühle, einen in die Wand eingelassenen Herd; in den Häusern der wohlhabenderen Bauern wohl auch einen Sims an den Deckbalken mit aufgestellten Thonkrügen und Porzellantellern, an den Wänden ein paar grellbunte Bilder oder einen aus dem Kalender stammenden Holzschnit.
Von der Bescheidenheit der Lebensansprüche, die unter der breiten Masse der masurischen Bevölkerung, unter den Tagelöhnern, Waldarbeitern und Fischern herrscht, kann man sich im Westen Deutschlands schwerlich eine Vorstellung machen. Der Verdienst dieser Leute, nach Mark und Pfennigen gerechnet, ist ein so gerinfügiger, daß es schier unmöglich scheint, damit eine oft zahlreiche Familie zu ernähren. Es wird nur erklärlich durch das Stück Diogenesnatur, das in dem masurischen Volkscharakter steckt, das freilich mit Stumpfheit und Trägheit nahe genug verwandt ist.
Ein Stück Brot, ein bißchen Speck zum Schmälzen der Suppe, ein Gericht Fische, ab und zu ein Stück Fleisch, reichlich Kartoffeln und Schnaps, mehr braucht es nicht, um den Masuren zufrieden zu machen. Der Schnaps freilich gehört leider dazu. ihn glaubt er so nöthig zu haben wie die Luft zum Athmen. Der Schnaps ist sein Tröster, wenn er traurig ist, er stärkt ihn bei der Arbeit, wärmt ihn in der Kühle und kühlt ihn in der heißen Sommerzeit, er ist mit seinem ganzen Lebensgang aufs innigste verwachsen. Die Mutter, die sich durch ein Gläschen erquickt, verfehlt nicht, dem Kinde auf ihrem Schoße das Restchen mit dem Finger auf die Lippen zu wischen und dem Sterbenden wird die letzte Medizin – gewöhnlich der in jedem Bauernhaus anzutreffende „Pain-Expeller" – in einem Glase gewärmten Branntweins gereicht.
Eines Tages – es war um die Weihnachtszeit – begegnete ich der Frau unseres Holzhauermeisters auf dem Wege zur Stadt. „Nun, Michalska, woher des Weges?“ fragte ich.
„Aus der Stadt, junger Herr, ich habe eingekauft für die Feiertage. Zwei Pfündchen Mehl, ein Stückchen Fleisch und vier Stof Spiritus.“
Vier Stof Spiritus geben mit Wasser verdünnt etwas mehr als acht Liter Schnaps; daraus können Volkswirthschaftler – freilich unter Berücksichtigung der gehobenen Feiertagsstimmung – ungefähr das Verhältniß berechnen, in welchem der Branntweinverbrauch zu dem der übrigen Nahrungsmittel steht. Wer jedoch daraufhin die Leute des Alkoholismus zeihen wollte, würde sich eines bitteren Unrechts schuldig machen. Der Schnaps ist ihnen – leider – mehr ein nothwendiges Nahrungsmittel als ein Genußmittel. Und daß dem so ist, daran tragen diese armen Stiefkinder des Daseins nicht allein die Schuld.
Eine nicht minder große Rolle in dem Leben der masurischen Bevölkerung spielt das Wasser, freilich nicht als Getränk. Fast jeder männliche Bewohner der zahlreichen Seedörfer ist auch ein leidenschaftlicher Fischer, gleichgültig, ob er dazu berechtigt ist oder nicht. Die Frage der Berechtigung ist dabei eine sehr wichtige, denn fast alle Gewässer sind fiskalischer Besitz und verpachtet. Nur vereinzelt haben die grundbesitzenden Seeanwohner das noch dazu durch allerhand Klauseln beschränkte Recht, für ihren Hausbedarf mit kleinem Gezeuge, d. h. mit Angel und Verstelluetz, zu fischen. Der Masure sieht darin jedoch eine Beschränkung seiner natürlichen Menschenrechte. Es will ihm nicht in den harten Kopf, daß er auf das Wasser und ebenso auf den Wald, die beide doch ebenso ein von Anbeginn der Welt allen Menschen gegebenes Gottesgeschenk seien wie die freie Luft, kein Anrecht haben solle. Darum sieht derselbe Mann, dem es nicht einfallen würde, sich am privaten Eigenthum eines anderen zu vergreifen, in der Ausübung der Fischerei oder in dem Aneignen einer Last Brennholz kein Vergehen. Beides ist verboten, dagegen ist nun einmal nichts zu machen, und wenn er dabei erwischt wird, dann muß er Buße zahlen, Strafarbeit leisten oder auch ins Gefängniß wandern, je nach der Größe des „Objekts"; aber eine „Sünde“ kann er trotzdem nicht darin finden.
Daß in dieser „Beschränkung seiner Menschenrechte" eine weise Maßregel liegt, daß ohne dieselbe in Bälde in den masurischen Seen kein Fisch mehr schwimmen, in den Forsten kein Baum mehr stehen würde, das sagt er sich nicht, soweit denkt der Masure überhaupt nicht.
In den königlichen Forsten ist nun die Bethätigung solcher kommunistischen Ideen schon wegen der zahlreichen Aufsichtsbeamten eine erheblich schwierigere als auf dem Wasser. Die den einzelnen Fischereiaufsehern unterstellten Bezirke sind zu groß, als daß in ihnen eine erfolgreiche Ueberwachung durchgeführt werden könnte, und dann liegt es in der Natur der Sache, daß Fischdiebstähle schwerer zu entdecken sind als Holzdiedstähle. Der „Ofzér“, so hat der Masure sich das Wort Ausseher mundgerecht gemacht, „kann zu gleicher Zeit nicht auf drei Hochzeiten sein“ – das masurische Sprichwort lautet etwas derber – „und ebensowenig kann er die Fische im Wasser zählen.“ So blüht denn die Raubfischerei in allen Seedörfern, am meisten in der Regel dort, wo der Aufsichtsbeamte seinen Wohnsitz hat, und trägt einen Theil der Schuld an dem Rückgang des einst so reichen Fischbestandes der masurischen Gewässer. Das gegenwärtige Verpachtungssystem und die theilweise Aufhebung der strengen Schonzeit thun das übrige, so daß die masurische Fischerei schon längst abgewirthschaftet hätte, wenn nicht der ostpreußische Fischereiverein durch das Anlegen von Schonrevieren und Aussetzen von Fischbrut der gänzlichen Erschöpfung der Gewässer einen Riegel vorschieben würde.
Die Art und Weise der Fischerei ist unter den drei Generalpächtern, welche bis jetzt dieses ausgedehnte und gewinnbringende [499] Geschäft betrieben haben, so ziemlich dieselbe gebliebett, d. h., sie besteht in einer rücksichtslosen Ausbeutung des Fischbestandes in den gepachteten Gewässern. Sommer und Winter wird mit fünf bis sechs großen Schleppnetzen zu gleicher Zeit gefischt und soviel als möglich aus den Seen herausgeholt. Für die Erneuerung des Fischbestandes mag der Himmel sorgen, die Regierung und der Fischereiverein, der sich bei dem Pächter einer besonderen Unbeliebtheit erfreut; denn seinem Wirken schreibt er es hauptsächlich zu, wenn er in seinem Geschäftsbetrieb von allerhand lästigen Kontrollmaßregeln behelligt wird.
Die Haupterntezeit des Pächters fällt in die zweite Hälfte des Winters; einmal wegen des leichteren Betriebes der Fischerei auf dem Eise, andererseits weil während der „post“, der großen Fastenzeit, der stärkste Absatz nach Polen ist.
Der Ertrag der masurischen Seen wandert daher zu seinem größten Theile über die Grenze, im Winter in leichte Holzfässer, sogenannte Solanken, verpackt, im Sommer in großen eisgefüllten Bütten. So kommt es, daß im Inland ein ordentliches Gericht Fische oft ein seltener Leckerbissen ist. In der Stadt Lyck z. B., am fischreichen Lycksee und in der Nähe des Hauptquartiers des Generalpächters, ist es der Hausfrau zu Zeiten ganz unmöglich, ein Gericht Fische zu kaufen, falls sie nicht in einer Käthnersfrau aus den Seedörfern eine Lieferantin besitzt, die morgens vorsichtig im Korbe das Erträgniß des nächtlichen von ihrem Gatten unternommenen Beutezuges zur Stadt trägt. Die Ursache dieses bedauerlichen Zustandes liegt zum Theil darin, daß der Pächter in Polen weit höhere Preise erzielt als im Inland, zum Theil wohl auch darin, daß der ganze Betrieb seines Geschäftes auf einen Kleinverschleiß der gewonnenen Fische nicht eingerichtet ist.
Zu der Bedienung eines großen „Niewod“, eines Schleppnetzes, gehören außer einem Pferdegespann etwa zwanzig Mann und der Dienst dieser Fischer ist kein leichter. Er fordert wetterharte Gesellen, denen es gleichgültig sein muß, ob der rauhe Nordwind ihnen den Schnee ins Gesicht treibt, ob sie in schneidender Kälte mit frostgerötheten Händen die nassen Stricke schleppen oder im Frühjahr auf dem bereits morschen Eise in steter Gefahr bis an die Knie im Wasser waten.
Frühmorgens, wenn der Tag zu grauen beginnt, geht es hinaus auf das Eis. Der Fischmeister läßt im Eise die erforderlichen Löcher, die „Wuhnen“, schlagen, das Netz wird kunstgerecht versenkt und an langen Stangen werden die Schleppstricke unter dem Eise fortgeleitet bis in die Nähe der großen Oluga, der Auszugswuhne. Dort stehen tonnenförmige Winden, fest verankert; die Taue werden umgelegt, und nun beginnt die langwierige und beschwerliche Arbeit des Schleppens. Die Stricke ziehen an, die mächtigen Netzflügel breiten sich aus und langsam streicht der sich blähende Sack am Grunde hin, alles aufnehmend, was in seinen Bereich gelangt.
Allmählich wird die Umschlingung enger. Die Taue werden von den Winden gelöst, die Fischer scharen sich um die große Wuhne und vierzig Hände greifen zu, um das Netz an die Oberfläche zu schaffen. Jetzt erscheinen die Flügel, der Fischmeister tritt in die Mitte der beiden Männerreihen und läßt in kurzen Zwischenräumen den „Trimp“, eine geschmeidige Stange mit einem glockenförmigen Aufsatz am unteren Ende, in die Wuhne sausen, um durch das dröhnende Geräusch die vor dem Zuge fliehenden Fische in den Sack zurückzuscheuchen.
Ein gewaltiges Lärmen und Schreien, das unumgänglich zur Sache zu gehören scheint, begleitet die Arbeit. Die Fischer streiten um die ihnen zufallenden Fische aus den Netzflügeln, die sie behende während des Schleppens herauslesen und den hinter ihnen stehenden Weibern und Kindern zuwerfen oder in der bastgeflochtenen Umhängetasche bergen; dazwischeu schilt und poltert der Fischmeister und drängt zur Eile, das Eis um die große Wuhne beginnt sich unter dem Gewicht des durchnäßten Netzes und der drängenden Menschenmenge zu senken, so daß die Fischer bis über die Knöchel im Wasser stehen – endlich kommt der Sack. Mit einem kräftigen Zuge wird er auf das Eis gehoben, die Bindeschnur gelöst, und unter stetem Fluchen und Zetern des Fischmeisters, der Mühe hat, den diebisch von allen Seiten zugreifenden Händen zu wehren, wird die zappelnde Beute in den Solanken geborgen.
Eine kurze Ruhepause tritt ein. Die Männer verschnaufen ein paar Minuten von der anstrengenden Arbeit, die ihnen trotz der Winterkälte den Schweiß auf die Stirne getrieben hat, und stärken sich mit einem herzhaften Schlucke. Dann werden die Netze, Taue und Stangen auf die Schlitten geladen und die ganze Fischerkarawane setzt sich in Bewegung zum nächsten Zuge.
So geht es fort bis zur hereinbrechenden Dunkelheit. Der Abend findet dann meistens die harten Gesellen in der Schenke des Dorfes. Dort sitzen sie in ihren wasserverschlissenen Kleidern, den hohen Thranstiefeln, um die weißgescheuerten Holztische, qualmen aus ihren kurzen Pfeifen und lassen die grüne Flasche im Kreise wandern. Hier spielt unter schmetterndem Faustschlag ein Paar Sechsundsechzig mit Karten, deren Bedeutung infolge der starrenden Schmutzschicht nur ganz Eingeweihten klar ist, in einer Ecke hat sich eine dichte Gruppe gebildet, in deren Mitte ein Musikverständiger die Ziehharmonika handhabt, und bei alledem wird viel, sehr viel Schnaps getrunken. Wer möchte es den armen Teufeln verargen, daß sie sich die wenigen Stunden, in denen sie nicht Lastthiere sind, auf ihre Weise versüßen? Am anderen Morgen, bei Tagesgrauen, geht es wieder hinaus auf das Eis, an die Arbeit.
Von den zahlreichen sonstigen Arten der Fischerei kennt der Pächter nur noch das Stellen der Säcke zum Fang der Schleien und Karauschen sowie das Fischen mit der „Klepp“, einem dem großen Niewod ähnlichen Netze, nur von geringerem Umfang. Die „Klepp“ findet auf den kleinen Gewässern Verwendung, wie dies unsere Abbildung (rechts unten) veranschaulicht. Die übrigen Arten, das Fischen mit den „Ganten“, den Stellnetzen, der Angel, überläßt er, als zu wenig lohnend, den sonstigen Berechtigten und Unberechtigten. Und doch liegt gerade in ihrer Ausübung ein Zauber, der die Thatsache erklären hilft, daß ein großer Theil der Raubfischer mehr aus Leidenschaft seinem verbotenen Handwerk nachgeht als um des oft kärglich anfallenden Gewinnes willen.
Die stete Gefahr, dem auf der Streife befindlichen Aufseher in die Hände zu fällen, das Gefühl, nicht nur Jäger, sondern zu gleicher Zeit auch Gejagter zu sein, erhöht dem echten Raubfischer nur noch den Reiz seiner nächtlichen Fahrten. Stets auf der Hut zu sein, auf jedes verdächtige Geräusch zu passen – wie sich da die Ohren schärfen und die Augen das Dunkel der Nacht zu durchdringen suchen! Und ist es dem Aufseher einmal gelungen, sich an die Fischenden anzupürschen, und ertönt sein Ruf: „Halt, wer da?“, dann fliegt die Spitze des Kahnes herum nach dem offenen Wasser, und der Bursche an den Schlagrudern legt sich hinein, daß das Wasser gurgelnd am Buge schäumt und der schlanke Kahn wie ein Vogel über die Wellen streicht. Der Aufseher muß schon einen tüchtigen Ruderknecht haben, wenn er die Fliehenden einholen will, denn diese rudern um ihre Haut! Und wie die Burschen dann lachen, wenn sie, der Hetzjagd glücklich entronnen, daheim am Herdfeuer sitzen. Das Gefühl, dem verhaßten „Ofzer“ ein Schnippchen geschlagen zu haben, ist ihnen mehr werth als ein gelungener Fischzug.
Nicht immer verläuft jedoch ein solches Zusammentreffen so glimpflich. Es kommt vor, daß die Ueberraschten, in die Enge getrieben, sich zur Wehre setzen und, wenn sie in der Mehrzahl sind, dem Aufseher sammt seinen Gehilfen übel mitspielen. Die harten Strafen, mit denen das Gericht solche Vergehen ahndet, haben es jedoch zu Wege gebracht, daß dieselben immer seltener werden.
Weit harmloser sind diejenigen „Contravenienten“, die der Fischerei mit der Angel nachgehen. Sie begnügen sich damit, beim Erscheinen des Aufsehers ihr Geräth auf die Schulter zu nehmen und auszureißen, so schnell sie ihre Beine tragen wollen. Der Beamte läßt sich auch selten auf ihre Verfolgung ein, denn der Schaden, den sie dem Fischbestand zufügen, ist wahrlich kein großer.
Außer den zahlreichen Fischen aller Art, vom mächtigen Wels bis zum winzigen Stichling, bergen die masurischen Seen noch einen Bewohner, dem Berechtigte und Unberechtigte mit gleichem Eifer nachstellen, den Krebs.
Auch die Krebsfischerei ist verpachtet, und zwar an einen besonderen Generalpächter, der die Ausbeute der masurischen Seen nach Berlin und selbst bis nach Paris versendet. Da aber das schmackhafte Krustenthier von einheimischen Feinschmeckern nicht minder geschätzt wird als von den Berlinern und Parisern, so wird in allen Seedörfern der Krebsfang, natürlich der unerlaubte, [500] ebenso eifrig betrieben wie das Fischen. Unter den zahlreichen Arten, auf die dem harmlosen Panzerträger nachgestellt wird, erfreut sich das auf der Abbildung (links in der Mitte) dargestellte Krebsen bei Fackellicht einer besonderen Vorliebe, obwohl gerade darauf „im Betretungsfall“ eine empfindliche Strafe steht.
Gewöhnlich thun sich drei Mann zusammen. Der eine trägt den „Ganganiec“, die Leuchte, der zweite das erforderliche Kienholz, der dritte fängt die Krebse. In lauen und dunkeln Sommernächten, wenn der Krebs seine Schlupfwinkel verlassen hat und auf Beute lauernd im seichten Uferwasser sitzt, dann geht es hinaus an den schweigenden waldumrahmten See. Die Fackel wird entzündet, und vorsichtig waten die drei am Ufer entlang, gemächlich die von dem hellen Scheine geblendeten Krebse auflesend. Dem Kienträger liegt noch die Aufgabe ob, sich und seine Gefährten vor unliebsamen Ueberraschungen zu sichern. Scharfen Auges späht er den Waldrand ab, und nur selten gelingt es dem Aufseher, seine Wachsamkeit zu täuschen. Steht dieser aber wirklich einmal unvermuthet zwischen der überraschten Gesellschaft, dann fährt die Leuchte zischend in das Wasser, eine Handvoll nassen Sandes fliegt dem Häscher in die Augen und ein Knacken und Brechen in dem Unterholz belehrt ihn, wo er die Flüchtlinge zu suchen hätte, falls er Lust verspüren sollte, ihnen zu folgen. Gegen eine nachträgliche Ermittlung haben dieselben sich wohlweislich durch Schwärzen ihrer Gesichter geschützt.
Man würde jedoch irren, wollte man aus diesen häufigen Uebertretungen gewisser gesetzlicher Bestimmungen einen ungünstigen Schluß auf den masurischen Volkscharakter im allgemeinen ziehen.
Es ist oben bereits ausgeführt worden, daß der Masure in dem Holz- und Fischdiebstahl kein Vergehen sieht. Er glaubt eben damit, ein ihm zustehendes und zu Unrecht entzogenes Recht auszuüben, er befindet sich nach seiner Auffassung den Gesetzen gegenüber in dem Zustand erlaubter Nothwehr.
Im übrigen ist der Masure ein ehrlicher Kerl, gutmüthig und gastfreundlich wie ein Pole, der selten einen Bettler hungrig von der Schwelle weisen wird, nicht einmal dann, wenn er selbst kaum etwas zu brechen und zu beißen hat.
Der masurische Volkscharakter weist überhaupt viele verwandte Züge mit dem blutsverwandten polnischen auf. Hier wie dort dieselbe Leichtlebigkeit, dieselbe Sorglosigkeit gegenüber der Zukunft, dasselbe leicht aufbrausende und ebensoschnell wieder versöhnliche Temperament, schließlich auch dieselbe Vorliebe für den Spiritus in jeder Form, sei es, daß man ihn diesseit der Grenze „Gorzalka“ oder drüben „Wodka“, „Prosti“ oder „Okowit“ (aqua vitae) nennt. Ein Unterschied nur besteht zwischen den beiden stammverwandten Völkerschaften, das ist das religiöse Bekenntniß. Die Polen sind katholisch, die Masuren evangelisch.
Auch in der Sprache drückt sich die Stammesverwandtschaft aus. Das Masurische ist ein polnischer Dialekt, der sich zum reinen polnisch etwa verhält wie das Plattdeutsche zum Hochdeutschen. Der größte Theil der Worte ist beiden gemeinschaftlich, das Masurische unterscheidet sich nur durch die Aussprache, die breiter und lässiger ist als die polnische. Die Sprache der Masuren ist außerdem vielfach mit deutschen Worten durchsetzt, die nur oberflächlich der slavischen Zunge mundgerecht gemacht worden sind.
Die Zahl jener Masnren, die der deutschen Sprache vollkommen fremd gegenüberstehen, ist in stetem Rückgang begriffen. Die deutsche Schule und der Dienst beim Militär sind zwei gewaltige Förderer nicht nur der deutschen Sprache, sondern des Deutschthums überhaupt. Die Städte sind längst schon deutsch, auf dem flachen Lande vollzieht sich ebenfalls ein unaufhaltsamer Germanisierungsprozeß, der um so leichter von statten geht, als der Masure dem deutschen Wesen durchaus freundlich gegenübersteht.
Die Verdeutschung Masurens ist kein Kampf wie anderwärts, wo Deutsche und Slaven zusammenstoßen – vielleicht weil es an Elementen fehlt, die einen Vortheil davon haben könnten, die beiden Nationalitäten zu verhetzen – sondern wie bei den Wenden eine friedliche Durchsetzung der slavischen durch die deutsche Bevölkerung, ein Prozeß, bei welchem allerdings die unfähigen und untüchtigen Elemente abgestoßen werden und untergehen.
Schon heute erhält man vielfach von dem Masuren auf die Frage. „Was bist Du?“ die Antwort: „Jestem Prussak“ (ich bin ein Preuße). Die Zeit, in der er diese Antwort auf deutsch geben wird, ist nicht mehr so fern.
- ↑ In neuerer Zeit ist eine lebhafte Bewegung im Gange, Masuren auch dem Touristenverkehr zu erschließen. Es hat sich eine „Gesellschaft zur Erleichterung des Personenverkehrs auf den masurischen Seen“ gebildet, die zunächst ein kurzes Schriftchen erscheinen ließ, „Wie bereist man das masurische Seengebiet“ (gedruckt bei J. van Riesen in Lötzen), und mit deren Unterstützung A. Hensel kürzlich einen ausführlicheren Wegweiser durch das Seengebiet von Masuren und seine Nachbarschaft veröffentlicht hat (Königsberg, Hartungsche Verlagsdruckerei). Auch Dr. K. E. Schmidt in Lötzen hat unter dem Titel „Von Masurens Seen“ historische und landschaftliche Schilderungen aus dieser Gegend herausgegeben (Wien, Hartleben). Den beidem letztgenannten Schriften sind auch zweckmäßige Spezialkarten beigefügt.