Die mohammedanischen Fakire und ihre „Wunder“

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Autor: August Ullrich
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Titel: Die mohammedanischen Fakire und ihre „Wunder“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 659, 662–664
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Dhikr des islamischen Sufi-Ordens al-Isāwīya bei der Pariser Weltausstellung 1889 und Parallelen zu hypnotischen Zuständen
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Die mohammedanischen Fakire und ihre „Wunder“.

Von Dr. A. Ullrich.

Bei dem lebhaften Interesse, welches für die Erscheinungen des Hypnotismus und ihre naturwissenschaftliche Erklärung gegenwärtig in allen Kreisen besteht, mußten auf der letzten Pariser Weltausstellung die grausigen Vorführungen der mohammedanischen Fakire um so sensationeller wirken, als gerade neuerdings die Wissenschaft diese Erscheinung mit den geheimnißvollen Gesetzen des Hypnotismus in Zusammenhang gebracht hat.

So klein und bescheiden das marokkanische Kaffeehaus war, das unter den echt orientalischen Bauten der höchst malerischen „Straße aus Kairo“ fast verschwand, so groß war doch die Anziehungskraft, die es auf Hunderte von Gelehrten aller Fakultäten und auf Tausende von Laien aller Berufsklassen übte. Sie alle wollten Zeugen sein der wunderbaren Macht des Menschengeistes über den Menschenleib, Zeugen der erstaunlichen Leistungen der Aïssawîjja oder Aïssaua, welche, thatsächlich und unbezweifelbar, wie sie sind, allen bekannten Naturgesetzen zu widersprechen scheinen.

Die Vorstellungen der Aïssaua fanden allabendlich um 9 Uhr in dem genannten marokkanischen Kaffeehaus statt, vor welchem tagsüber die Programmzettel an die Vorübergehenden vertheilt wurden. Der Inhalt eines solchen Programms war vielversprechend, aber gruselig zu lesen. Am Schlusse befand sich die tröstliche Bemerkung: „Um den Eindruck zu verwischen, welchen diese verschiedenen Vorführungen hinterlassen, wird der Abend durch ein Konzert beschlossen, an welchem die berühmten Almehen (Tänzerinnen) theilnehmen.“

Dieser Hinweis des Programms auf das Grausenhafte des von der Schaustellung zu erwartenden Eindrucks war eine Rücksicht auf das Publikum, welche Anerkennung verdient. Es lag darin ein gewisses Zugeständniß, daß öffentliche Vorführungen derartiger aufregender Abnormitäten ungehörig sind. Denn wenn auch die Fakire selbst mit ihren Uebungen zunächst nur religiösen Zwecken dienen wollten, wenn die Folterqualen, die sie sich dabei auferlegten, in ihrer Ekstase von ihnen auch nicht empfunden wurden, so wurde doch jene Schaustellung vom Unternehmer zum Zwecke der Sensation vor das Publikum gebracht, das jene Martern unwillkürlich als wirklich empfundene ansehen mußte. Vorführungen dieser Art gehören allein vor das Forum der Wissenschaft.[1]

Punkt 9 Uhr stieg ich hinauf in das erste Stockwerk, wo ich, dem Eintrittsgelde von 3 Franken angemessen, nur Leute aus den besseren Ständen aller Nationen antraf. Gleich an der Treppe links vom Eingang befand sich ein etwas über 2 Meter langes und ungefähr 11/2 Meter breites, mit einem verschossenen Teppich belegtes Podium, in dessen Hintergrunde vier Aïssaua mit untergeschlagenen Beinen Platz genommen hatten. Vor ihnen, dem Zuschauer zur Rechten, stand ein großer Stachelkaktus und ein Becken mit glühenden Kohlen, in welches von Zeit zu Zeit Räucherwerk hineingeworfen wurde; zur Linken bemerkte man eine eiserne Schaufel, ein Schwert, eine verdeckte Schachtel, in der sich Schlangen befanden, und einen kleineren mit Skorpionen gefüllten Behälter; in der Mitte lagen dünne Glasscherben, ein etwa handlanger, kleinfingerdicker, runder, spitzer Dolch mit ganz gewöhnlichem hölzernen, kugelartigen Griff und einige stählerne Nadeln von der Dicke und Länge der gebräuchlichen Stricknadeln. Ich nahm auf der ersten Bank unmittelbar vor dem Podium Platz, um alle Vorgänge genau beobachten und prüfen zu können. Die Aïssaua begannen unter Begleitung eines trommelartigen, mit Schellen besetzten Instrumentes ihren eintönigen Singsang, dessen einfache Textesworte die immer wiederkehrende Anrufung Allahs und des Ordensstifters Ben Aïssa bildete. Zunächst war das Tempo langsam, die Melodie dumpf und leise, dann wurde die Musik immer schneller, lauter und schreiender. Als der scheußliche Gesang nach einigen Minuten zu einem markerschütternden Gebrüll angewachsen war und damit seinen Höhepunkt erreicht hatte, sprang plötzlich einer der Aïssaua empor und vorwärts auf das Podium, wobei er unabsichtlich das Becken mit den glühenden Kohlen auf den Teppich umstieß, sodaß sich alsbald ein brandiger Geruch im ganzen Raum verbreitete. Er warf sein Oberkleid ab, stemmte beide Arme in die Hüften und begann den vorgeschriebenen religiösen Tanz, bei welchem er taktmäßig ein Bein um das andere erst langsam, dann immer rascher emporhob und den Oberkörper und Kopf vor- und rückwärts beugte oder vielmehr schleuderte, das Gesicht immer seinem ihm gegenüber sitzenden Scheich, den Rücken den Zuschauern zugewandt.

Die Verbeugungen und Schwankungen des Körpers werden unausgesetzt heftiger und tiefer. Da erschallt ganz plötzlich ein durchdringendes, fürchterliches Geheul. Der vom Schwindel ergriffene Aïssauî stürzt wie ein Thier nieder auf alle Vier, weißen Geifer vor dem Munde; mit seinen stieren Augen wie toll um sich blickend, dreht er den Kopf nach allen Seiten, als ob er etwas suche. Jetzt ist die Verzückung auf ihrem Gipfelpunkt angelangt, jetzt ist der Fanatisierte nach dem Glauben der Moslims vom Geist des heiligen Aïssa besessen und durch diese Einwohnung gefeit gegen Hieb und Stich, gegen Feuer und Gift. In diesem Zustande spielt er nun auf Geheiß des Scheichs die Rolle eines Straußes, Kameles, Löwen etc. und verrichtet alles, was ihm geboten wird. Auf einen Wink seines Vorgesetzten fährt er schnell mit der Hand in die Kohlenpfanne, nimmt einige brennende Kohlen heraus, steckt sie in den Mund, haucht sie so stark an, daß die Funken sprühen, kaut und verschluckt sie dann. Hierauf reißt er von dem stacheligen Kaktus ein Blatt weg, beißt ein Stück davon ab, zermalmt es mit den Zähnen und verschlingt es unter jämmerlichem Gestöhn. Der übrig gebliebene größere Theil wurde von dem französischen Impresario zum Zwecke genauer Prüfung herumgereicht. Das Blatt war ungemein zäh und die Stacheln so fest und scharf, daß man sich leicht die Haut damit ritzen konnte. Mit der gleichen Gier zerkaut er das ihm vom Scheich hingeworfene dünne Glas; man hört bei dem Zerkleinerungsprozeß ganz deutlich das Krachen und Knirschen, sieht aber nichts von irgend welcher Verwundung der Zunge und des Mundes; und doch ist es wirkliches, nicht etwa aus durchsichtigem Wachs nachgemachtes Glas, wie sich jeder durch den Augenschein überzeugen konnte, da die übrig gebliebenen Brocken ebenfalls bereitwilligst jedem in die Hand gegeben wurden.

Kaum hat er wieder unter Grunzen und Heulen alles hinuntergewürgt, als er auch schon zähnefletschend nach einer ihm hingehaltenen Schaufel schnappt, deren eiserner Theil bis zum Rothglühen erhitzt worden war. Um jeglichen Zweifel auszuschließen, nahm der die Schaufel hereinbringende Diener ein Stück Papier, legte es darauf, und sofort flammte dasselbe lichterloh; auch saß ich so nahe, daß ich die ausstrahlende Hitze ganz deutlich verspürte. Der Fakir nahm die Schaufel mit der rechten Hand beim hölzernen Stiel und schlug mit der linken ein paarmal auf die glühende Platte, dann leckte er dieselbe ganz behaglich an, als ob ihm dies das größte Vergnügen gewähre, und stellte sich schließlich mit beiden nackten Füßen darauf, bis das Eisen wieder ganz schwarz war, wobei sich ein unangenehmer Geruch wie von verbranntem Horn verbreitete. Jetzt wurde ihm ein haarscharf geschliffenes Schwert gegeben, dessen Schärfe man dadurch bewies, daß darüber hinweggezogenes Papier im Nu entzwei geschnitten wurde. Er stemmte es abwechselnd mit der Spitze und Schneide scheinbar mit aller Kraft gegen den Hals, gegen die nackte Brust und Seite, ohne sich im geringsten zu verletzen. Alsdann wurde das Schwert mit der Schneide nach oben, ungefähr 3 Fuß vom Boden, wagrecht emporgehalten, und zwar an der mit seidenen Tüchern umwickelten Spitze von dem Diener, am Knauf von einem andern Aïssauî. Indem sich nun der Fakir an den Schultern der beiden Männer festhielt, sprang er barfuß mit einem Satz auf die Schneide und richtete sich senkrecht auf. Alsdann entblößte er seinen Leib von den Kleidern und legte sich quer über die Schneide des Schwertes, so daß der Oberkörper nach vorn, der untere Theil des Körpers mit den Füßen nach hinten überhing, ohne daß jedoch die letzteren den Boden berührten, und dabei drückte ihn der Scheich mit seiner eigenen ganzen Körperlast noch [662] kräftig gegen die Schneide. Das Schwert grub sich förmlich in den Bauch hinein, und doch war nach der Prozedur keine Spur von Verwundung zu sehen. Den oben beschriebenen Dolch erfaßte der Aïssauî am hölzernen Griff und stieß ihn vom Innern des Mundes aus durch die Wange, sodaß die Spitze einen Zoll lang daraus hervorragte; mit den Nadeln durchstach er sich die Ohrläppchen und die Haut an der Gurgel. Niemals jedoch floß ein Tropfen Blut, und als ich ihn später, d. h. gleich nach seinem Auftreten, gegen ein besonderes Trinkgeld genau untersuchte und betastete, konnte ich nicht die geringste Wunde oder die winzigste Narbe erspähen.

Endlich öffnete der Scheich auch noch die Schachtel, nahm eine Schlange heraus und reichte sie dem Aïssauî hin. Als dieser sie erblickte, geberdete er sich wie ein wildes Vieh, stieß rohe, gräßlich gellende Töne hervor, stierte wie ein Verrückter die Schlange an, packte sie, schlug und mißhandelte sie so lange, bis sie in die größte Wuth gerieth, bis ihre Aeuglein vor Zorn blitzten und ihr Doppelzünglein nach ihm hervorschnellte. Dann ließ er sich von ihr an den nackten Körperstellen des Gesichtes, des Halses und der Brust beißen. Er warf sie auf den Boden, fiel selbst nieder auf Hände und Füße, spielte mit ihr wie die Katze mit der Maus, schnappte nach ihr mit den Zähnen, faßte sie im Genick, schüttelte sie so wie es ein Hund mit einer Ratte thut, zerfleischte sie, biß ihr den Kopf ab und fraß sie unter beständigem Ausstoßen eines kläglichen Geheuls bei lebendigem Leibe zur Hälfte auf. Nach dieser letzten Leistung tanzte der Fakir wieder in der schon geschilderten Weise, wobei aber das Tempo immer langsamer wurde, bis er, nachdem er den gelben Turban des Scheichs mit seinen Lippen berührt hatte, wieder ganz zu sich kam und sich ruhig auf seinen Platz setzte.

Auf die Frage einer Dame, ob eine solche Schlangenmahlzeit wohlschmecke, sprang sogleich ein anderer Derwisch auf das Podium, wurde in wenigen Sekunden vom Taumel ergriffen und verzehrte noch einige Schlangen und Skorpione, die er zuvor ebenfalls in die äußerste Wuth gebracht hatte.

Den Schluß bildete das Auftreten des Scheichs selbst. Merkwürdigerweise bemerkte man an ihm keine Verzückung, wenigstens that sich dieselbe nicht auffällig und geräuschvoll kund. Er schien ganz bei gesundem Verstande zu sein. War er vielleicht schon soweit in seiner geheimnißvollen Kunst vorgedrungen, daß er zu seinen Schaustücken der Verzückung nicht mehr benöthigte? Kurz, er nahm aus dem Behälter einen Skorpion, legte ihn auf das Kalbfell der Trommel, reizte und drückte ihn mit seinen Fingern unbarmherzig, bis das Thierchen zornig seinen Stachel emporstreckte. Dann ließ er sich an Lippe, Nase und Zunge stechen und verspeiste ihn endlich ganz. Auch mit dem Dolche brachte er sich verschiedene scheinbare Verletzungen bei und führte denselben sogar schließlich in die Augenhöhle, aber ohne die geringste Spur von Aufregung oder Schmerz. Ganz ruhig und gelassen, als ob er gar keine besondere Leistung vollbracht habe, begab er sich wieder auf seinen Sitz.

Der grauenerregende, düstere Eindruck, den diese gräßlichen Vorstellungen auf mich gemacht hatten, war ein ganz gewaltiger und nachhaltiger, und das um so mehr, als ja Sinnestäuschung oder Betrug völlig ausgeschlossen war. Wohl waren die Vorführungen, als religiöse Uebungen betrachtet, so abschreckend und bestialisch, daß man sich von einem derartigen Gottesdienste als von einer rohen Verirrung des menschlichen Geistes mit Schauder abwenden muß, aber doch nöthigte die dabei bekundete Herrschaft über die bisher bekannten Lebensgesetze gleichzeitig dem Forscher eine mit Grausen gemischte geheime Bewunderung ab.

Wer sind nun aber jene Aïssawîjja oder Aïssaua, deren schauerliche Künste wir hier beschrieben haben? Es sind, kurz gesagt, eine Art „heulender Derwische“, Angehörige einer mohammedanischen religiösen Gesellschaft mit geheimer Organisation, die im Maghrib, d. h. im nordwestlichen Afrika, namentlich in Marokko und Algerien, weit verzweigt ist, in hohem Ansehen steht und einen großen, gefürchteten Einfluß ausübt. Die Zahl derartiger Brüderschaften beläuft sich in Algerien allein auf ein Dutzend, im ganzen Islam aber auf etwa hundert, von denen die bedeutendsten in Afrika die Marabuts, die Aïssawîjja, der Rufai- und der Snussiorden sind. Der Orden der Aïssaua hat nicht, wie man vielleicht meinen könnte, Aehnlichkeit mit unsern christlichen Mönchsorden. Seine Mitglieder leben nicht beisammen in Klöstern, sich nur religiöser Beschaulichkeit und Andachtsübungen hingebend, sondern sie gehören den verschiedensten Gesellschaftsklassen an, stehen mitten im bürgerlichen thätigen Leben als Kaufleute, Handwerker etc. und kommen für gewöhnlich nur einmal wöchentlich zur Hadra (d. i. Vereinigung der Brüder) in die Zauîa (d. i. die als Versammlungsort dienende Moschee), um dort durch Gebete und religiöse Ceremonien, durch Erfüllung des vorgeschriebenen Rituals oder durch Vorstellungen wie die beschriebenen das Andenken ihres Stifters zu feiern und zu ehren. Die Gründer der verschiedenen Sekten sind alle ohne Ausnahme hochangesehene, verehrte, ja vergötterte Heilige des Islam, von deren Leben und Wirken viele Wunderdinge berichtet werden.

Das hohe Interesse für diesen Gegenstand erfordert es wohl, etwas näher auf Entstehung, Einrichtung und Zweck dieser Brüderschaften, hauptsächlich aber der Aïssaua, einzugehen, wodurch zugleich auch ein gründliches Verständniß für die geschilderten Vorgänge angebahnt werden dürfte. Bei dieser Darstellung werde ich mich unter genügender Berücksichtigung der deutschen und englischen Autoren im wesentlichen an die neuesten Schriften der weitgereisten, zuverlässigen französischen Forscher und Gelehrten Henri Duveyrier, Louis Rinn und Nap. Ney halten.

Die Orden sind alle ausnahmslos wirkliche „geheime Gesellschaften“. Ursprünglich einen rein moralischen und religiösen Zweck verfolgend, haben manche in letzter Zeit infolge der Bedrängung des Islam von seiten der christlichen Völker auch die Politik in ihr Programm aufgenommen. Wie ein Netz umspannen sie die gesammte mohammedanische Welt und ihre Sendboten eilen mit geheimen Weisungen vom Sudan bis zum Kaukasus, vom Atlas bis zum Ganges.

Jeder Orden hat seine besonderen Aufnahmeförmlichkeiten, Grade, Paßworte und Erkennungszeichen. Wer in einen Orden aufgenommen werden – oder wie die Muselmänner sich ausdrücken: „die Rose nehmen oder empfangen“ – will, der hat zunächst eine mehr oder weniger lange Prüfungszeit zu bestehen, die bei manchen Gesellschaften „tausend und einen Tag“ dauert. Bei andern, wie z. B. bei den Kaderya, ist die Einführung leicht und die Prüfungen sind kurz. Hat der Aufzunehmende diese bestanden, so wird er als „Chuan“, d. i. Bruder, in die Geheimnisse des ersten „Grades“ eingeweiht und erhält das entsprechende „Paßwort“, den „Dzikr“, der gewöhnlich Anrufungen Gottes enthält und sich aus ganz bestimmten Versen des Korans zusammensetzt, die in einer gewissen Ordnung gegenseitig abgefragt werden. Außerdem erkennen sich die „Eingeweihten“ oder „Wissenden“ an ihrem ganzen Auftreten, an der Farbe der Kleider, an unmerklichen Zeichen am Gewande und an der Kopfbedeckung, und schließlich an einem ganz besonderen Handgriff, so daß Betrug von uneingeweihter Seite durchaus unmöglich ist.

Der „Dzikr“ des ersten Grades ist bei allen Orden sehr einfach; denn „es stehet geschrieben“ durch den Propheten: „Der Glaube ist um so reiner, je einfacher das Gebet ist.“ Und so lautet denn z. B. dieser Dzikr bei den Aïssaua fast nur: „Es giebt keinen Gott außer Gott, dem Mächtigen, dem Barmherzigen, dem Einzigen!“ Er muß täglich fünfmal viele tausendmal hintereinander hergesagt werden,[2] und zwar bei Sonnenaufgang, um neun Uhr morgens, um zwei Uhr und vier Uhr nachmittags und am Abend bei Sonnenuntergang. Diese fortwährende Wiederholung einer und derselben Anrufung muß nach Verlauf einer bestimmten Zeit nervöse Aufregung, geistige Abstumpfung, eine Art Hypnose oder besser eine religiöse Verzückung herbeiführen, in welchem Zustande das eigene Denken und Wollen verschwindet und der gläubige Jünger zu einem blinden Werkzeug in den Händen seines Oberen wird. Und das soll er auch sein, heißt es doch wörtlich in einem Ordensstatut: „Du sollst sein in den Händen Deines Scheichs wie der Leichnam in den Händen der Todtenwäscherin. Gott selbst ist es, der durch sein Wort befiehlt!“ Der Scheich ist der Ordensoberste oder Großmeister. Als solchen kennzeichnet ihn ein gelber Turban, wie ja das Sonnengelb überhaupt im ganzen Morgenlande die Farbe der Erleuchteten, der Weisen ist, daher auch die buddhistischen Priester [663] gelbe Gewänder tragen. Dem Scheich wird göttliche Unfehlbarkeit zugesprochen und unumschränkte Macht über seine untergebenen Brüder, die ihm sklavischen Gehorsam schulden. Allerdings wird er diese Gewalt kaum mißbrauchen, da er – nach dem Glauben der Moslims – eine so hohe Stufe der Vollendung erreicht hat, daß nur noch milde Frömmigkeit und wahre Menschenliebe sein Inneres beseelen.

Das Ziel eines jeden Bundes soll nämlich sein das Streben nach göttlicher Vollkommenheit. Die Heiligkeit ist eine „Leiter“, deren höchste Sprossen zu erklimmen jedoch nur wenigen vergönnt ist.

Jeder Orden ist gewöhnlich in sieben Grade eingetheilt. Jeder Grad kann – und dies ist namentlich bei den Aïssaua der Fall – nur erworben werden nach jahrelanger Nüchternheit, Enthaltsamkeit und strengster frommer Bußübung, die, mit körperlicher und seelischer Selbstpeinigung verbunden, eine Umstimmung des ganzen psychologischen Lebensprozesses herbeiführt, so daß alsdann auch die unglaublichsten Qualen dem gegen Leiden und Schmerzen gestählten Körper nichts anhaben können. Mit jedem neuen Grade empfängt der Gläubige einen anderen Namen. Erst mit dem dritten Grade heißt er Fakir (persisch Derwisch[3]), d. i. ein Armer, jedoch im mystischen Sinne dieses Wortes, in Anbetracht seines noch unzulänglichen Wissens und seiner noch geringen Macht über die geheimen Kräfte des Menschen und der Natur wie seines noch kurzen Fortschrittes auf der Bahn zur vollkommenen Glückseligkeit. Er entspricht demnach auf dieser Stufe dem brahmanischen Yogi und dem buddhistischen Bickschu. Das höchste Ziel – Versenkung und Aufgehen in Gott, also das Nirwâna der Hindu – wird nur von wenigen Auserwählten des siebenten Grades erreicht, den Tauhîdi, die somit den buddhistischen Arahats oder Mahatmas gleichstehen, denen alle Geheimnisse der Natur entschleiert sind und denen die Gabe verliehen ist, „Wunder zu verrichten“. Alle Brüder bilden zusammen die sogenannte „Kette“, hiermit an die hermetische[4] Kette der Neuplatoniker[5] erinnernd. Die Regeln und Lehren eines Ordens werden streng geheim gehalten und nur hin und wieder auf besondere Vergünstigung hin solchen Fremden und Profanen theilweise anvertraut, die „das Licht suchen“.

Jede Brüderschaft ist vom Ordensgeneral an bis herab zum niedrigsten dienenden Laienbruder streng gegliedert und schärfste Disciplin herrscht überall. Denn nur so kann das End- und Hauptziel erlangt werden: „das Wirken zur größeren Ehre Gottes und die Erhöhung und Ausbreitung des wahren Glaubens“ (d. i. des Islam).

Diesem Zwecke und dieser Lehre gemäß sind die meisten Orden von der gehässigsten Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, namentlich gegen die „Christenhunde“ erfüllt. Und es ist noch nicht viele Jahre her, seitdem es den christlichen Reisenden gestattet ist, den Straßenaufzügen und den Versammlungen der Aïssaua anzuwohnen und ihre „heilige Stadt“ Kairuân zu betreten. Warum diese Erlaubniß jetzt ertheilt wird und wie es kommt, daß die Aïssaua, die sich doch ganz besonders durch ihre strenge Rechtgläubigkeit und durch unbiegsame Treue gegen ihre Grundsätze auszeichnen, sogar nach Europa gesandt werden, um den so sehr verabscheuten Christen ihre Wunderthaten zu zeigen, das muß allerdings berechtigte Verwunderung erregen – doch den eigentlichen Grund hierfür kennt wohl der Ordensgeneral allein.

Der Orden der Aïssaua wurde zu Anfang des 16. Jahrhunderts gegründet. Sein Stifter stammte aus königlichem Geschlechte und wurde in der marokkanischen Stadt Mekinez geboren. Nachdem er auf einer Pilgerfahrt nach Mekka in die Geheimnisse der arabischen und ägyptischen Sekten eingeweiht worden war, kehrte er als „Wissender“ in seine Heimath zurück, wo er durch die weisen Lehren, die er predigte, durch das sittenreine Leben, das er führte, und durch die erstaunlichen Wunder, die er that, bald einen zahlreichen Kreis begeisterter Jünger um sich versammelte. Als einer der größten Heiligen des Islam wird er verehrt unter dem Namen Sidi Mohammed ben Aïssa. Aïssa oder ’Yssa (= Jesus oder Jeschuah) ist ein bei den Arabern sehr beliebter Name, nach welchem sich seine Anhänger „Aïssawîjja oder Aïssaua“ nennen.

In Europa traten die Aïssaua zum ersten Male während der Pariser Weltausstellung im Jahre 1867 auf und erregten damals schon ungemeines Aufsehen. Ob sie auch auf der zweiten Pariser Weltausstellung im Jahre 1878 waren, weiß ich nicht; ich wenigstens habe sie damals nicht bemerkt. Wie ganz natürlich, wurden ihre Leistungen vor 20 Jahren als reiner Schwindel, als Taschenspielerei hingestellt, was ja auch heutigen Tages noch von zweifelsüchtigen oder besser gesagt unwissenden Leuten geschieht.

Damals war eine solche Anschauung allerdings wohl zu entschuldigen, denn man kannte ja die verwandten Erscheinungen des Hypnotismus noch nicht genügend, um diese allenfalls zur Erklärung herbeiziehen zu können. Anders verhält sich die Sache gegenwärtig. Nicht länger mehr läßt sich die Echtheit der wunderbaren Vorstellungen mohammedanischer Fakire und indischer Yogins ableugnen. Ihre Thatsächlichkeit ist durch massenhafte, unanfechtbare Zeugnisse unumstößlich festgestellt. Auch die moderne Naturwissenschaft hat sich der merkwürdigen Erscheinungen bemächtigt, sie theilweise schon gründlich untersucht und – soweit es bis jetzt möglich ist – erklärt, oder doch hingewiesen auf den Weg der Erklärung, der schließlich zum Ziele führen muß.

Die Echtheit und Wahrheit der geschilderten Schaustellungen wird erwiesen und bekräftigt: 1) durch das Fehlschlagen mancher Experimente, 2) durch die massenhaft angehäuften, unantastbaren Zeugnisse anderer Leute, bedeutender Reisenden und Gelehrten, welche dieselben Leistungen unter anderen Verhältnissen und an andern Orten gesehen haben, 3) durch ähnliche, von der Wissenschaft angestellte Versuche, welche den oben beschriebenen Experimenten der Aïssaua als Erklärung dienen können.

Anknüpfend an die Bemerkung auf dem Programmzettel, daß mit den Vorstellungen keine Gefahr für die ausführenden Aïssaua verbunden sei, fragte ich den französischen Impresario, ob es niemals vorkomme, daß sich ein Aïssauî verletze. Er antwortete, daß dies bisweilen geschehe, und daß man derartige Leute mit oft tiefen Wunden hin und wieder in Algerien antreffe. Das seien dann solche Ordensbrüder, die – nach der Meinung der Muselmänner – noch nicht „heilig“ genug seien, denn den sittlich völlig reinen Derwischen könne kein Unfall irgendwelcher Art zustoßen. Dieses manchmal eintretende Mißlingen der Vorführungen beweist schlagend, daß das Gelingen nicht gänzlich vom Willen des Ausführenden abhängt, daß die Experimente keine Taschenspielereien sind, denn kein Taschenspieler wird so thöricht sein, sich vorsätzlich und absichtlich vielleicht für sein ganzes Leben durch tiefe, schmerzhafte Verwundungen zu schaden.

Der vertrauenswürdigen Gewährsmänner für die Thatsächlichkeit dieser Vorführungen aber sind es so viele und so gute – wir nennen hier außer den oben erwähnten deutschen und französischen Forschern nur die Deutschen Schweiger-Lerchenfeld, von Maltzan, Graf von Schack, Friedrich von Hellwald, W. Preyer, Eduard Glaser, die Engländer Browne, Lane, Richardson, den Italiener de Amicis, die Franzosen Narcisse Cotte und Benjamin Constant – daß auch der hartgesottenste Zweifler sich überzeugen lassen müßte.

Uebrigens sind jene Erscheinungen ja nichts weniger als neu. Wir finden sie von den ältesten Zeiten an bei allen Völkern und in allen Religionen, so z. B. bei den heidnischen Schamanen in Sibirien, bei den buddhistischen Mönchen in Tibet, bei den brahmanischen Yogins in Indien und schließlich auch bei christlichen Sekten.

Da muß – um nur einen einzigen Fall zu erwähnen – vor allem auf die ungemeines Aufsehen erregenden, eigenthümlichen Vorgänge hingewiesen werden, die im vorigen Jahrhundert (1730 bis 1762) am Grabe des Abbé Paris, des Stifters der jansenistischen Sekte der „Konvulsionäre“, in der Stadt Paris selbst stattfanden, die, so unglaublich und außerordentlich sie auch sind, nicht einmal von den Jesuiten, den heftigsten Gegnern der Jansenisten, geleugnet werden konnten, und die selbst der zweifelsüchtige englische Philosoph Hume und der noch skeptischere französische Schriftsteller Diderot als auf Wahrheit beruhend anerkennen mußten.

Die furchtbarsten Mißhandlungen ihres Körpers dienten [664] diesen Fanatikern als heißbegehrte Heilmittel. So lesen wir bei du Prel („Der Salamander“): „Eine Bedrückung der Brust erheischt, daß man mit äußerster Kraft darauf schlage; excessive Kälte oder verzehrende Hitze, die plötzlich den Konvulsionär ergreifen, mahnen ihn, daß es nöthig ist, ihn mitten in Flammen zu stellen; ein lebhafter Schmerz, wie wenn eine Eisenspitze Fleischtheile durchdringt, erfordert einen Degenstich genau am schmerzhaften Orte, wäre es selbst am Halse, im Munde oder in den Augen, wovon zahlreiche Beispiele gesehen wurden; wie heftig aber auch der Stoß des Degens sein mag, so kann doch die schärfste Spitze das zarteste Fleisch nicht durchdringen, selbst nicht die Augen der Konvulsionäre … Die tödlichsten Schläge und Dinge von der schädlichsten Beschaffenheit verwandeln sich in wohlthuende Heilmittel … Die Konvulsionäre stellen sich mitten in die Flammen, legen sich – in einzelnen Fällen sogar stundenlang – in das Feuer, gehen auf glühenden Kohlen und essen dieselben, ohne sich zu verletzen, ohne daß ihre Haare oder Kleider auch nur versengt werden.“

Wer die einschlägigen Werke über Völkerkunde kennt, der weiß, daß darin wahrheitsgetreue Berichte über ähnliche Erscheinungen namentlich bei den noch ganz ungebildeten, rohen Volksstämmen in Menge anzutreffen sind, so daß Adolf Bastian, einer der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiete, mit Recht sagen kann: „Gerade bei den Naturvölkern finden wir die meisten der Erscheinungen, welche wir bei uns nur künstlich und nicht ohne Gefahr für die Versuchsperson erzeugen können, als etwas mehr oder weniger Normales vor.“ – Angesichts eines so umfangreichen und gewichtigen Beweismaterials, welches sogar die Vertreter der Naturwissenschaft liefern, muß jeglicher Zweifel verstummen, muß die Auffassung der Sache als Betrug für unhaltbar erklärt, müssen die Leistungen der Aïssaua und andere derartige wunderbare Vorgänge als unanfechtbar und echt anerkannt werden.

Wie aber soll man nun eigentlich all das geheimnißvoll Unerklärliche erklären? Die gläubigen Anhänger der verschiedenen Religionsgemeinschaften sind um eine sie vollständig befriedigende Auskunft durchaus nicht verlegen. Die Mohammedaner glauben fest, daß all die Wunderdinge der Aïssaua durch deren Stifter, den „heiligen“ Aïssa, bewirkt werden; die Buddhisten lehren, niedere, erdgebundene Geister, die weder gut noch böse sind, verrichten dies alles. Selbstverständlich genügen solche Erklärungen dem auf der Bildungshöhe seiner Zeit stehenden, aufgeklärten Weltbürger nicht. Er verlangt eine strenge naturwissenschaftliche Deutung. Und diese kann ihm in der That dargeboten werden.

Einige Gelehrte wie z. B. Braid, Charcot, Richet, Lombroso, Mendel sehen in den wundersamen, außersinnlichen Erscheinungen bei den arabischen und indischen Fakiren und in ähnlichen sonderbaren Zuständen weiter nichts als ekstatische Hypnose.

Nun ist allerdings Schmerzlosigkeit in der Hypnose ganz unbestreitbar festgestellt worden. Nadelstiche in Wange, Daumenballen, Arm und andere Körpertheile werden nicht gefühlt. Schmerzlos werden Zähne ausgezogen und die Mandeln herausgeschnitten. Auch schon größere Operationen wurden manche von französischen und englischen Aerzten an Hypnotisierten vorgenommen, ohne daß die Kranken den geringsten Schmerz empfanden, so von Récamier, Esdaile, Braid. Doch Schmerzlosigkeit allein genügt nicht zur Erklärung aller geschilderten Vorgänge.

Die Aïssaua waren wie der gehörnte Siegfried unverwundbar; wenigstens sah man nach den augenscheinlich tiefen Verwundungen keine Spur von einer Narbe, auch floß kein Tropfen Blut. Nun besuchte ich eine Vorstellung des Hypnotiseurs Donato in Paris und beobachtete das folgende Experiment.

Donato ließ sich von einer Dame eine ziemlich dicke stählerne Hutnadel geben, bohrte dieselbe durch die Muskeln des unteren Armes eines Hypnotisierten, zog sie dann wieder heraus, machte einige Striche mit der Hand über die verwundete Stelle – und weder Blut noch Wunde oder Narbe war zu bemerken. Dr. Moll („Der Hypnotismus“ S. 82) schreibt: „Dalboeuf erzeugte symmetrische Brandwunden und machte die eine Wunde durch Suggestion (d. h. durch eine Eingebung, durch einen Befehl an den Hypnotisierten) schmerzlos. Hierbei wurde beobachtet, daß die analgetische (schmerzlose) Wunde viel größere Tendenz zur Heilung und insbesondere keine Tendenz zeigte zu einer entzündlichen Ausbreitung in die Umgebung.“

Diese Proben scheinen geeignet zu sein, die Unverwundbarkeit und Feuerfestigkeit der Aïssaua zu erklären. Denn wenn schon in der einfachen Hypnose kleinere Wunden sich sofort schließen, ohne Narben zu hinterlassen, wenn Brandwunden schmerzlos gemacht werden können und dann verhältnißmäßig schnell heilen, warum sollte es nicht möglich sein, daß in jener religiösen Verzückung, die wir einstweilen als hochgradige Hypnose betrachten wollen, größere Verletzungen durch Dolche und Schwerter schmerzlos bleiben und narbenlos verschwinden, und daß Brandwunden, die durch Belecken und Anfassen eines glühend gemachten Eisens etwa entstehen, sofort geheilt werden? Der Unterschied ist ja nur ein gradweiser, aber kein wesentlicher. Aehnlich verhält es sich mit dem Verschlingen von schädlichen Substanzen wie von Glas, Steinen, Nägeln, Skorpionen und Schlangen ohne nachtheilige Folgen für den Körper. Hypnotisierte trinken auf die betreffende Suggestion hin Tinte für Wein, essen Zwiebeln für Birnen, riechen Ammoniak für kölnisches Wasser, genießen Wasser anstatt Branntwein, worauf sie berauscht werden, und umgekehrt ist es vorgekommen, daß sich nach dem Genuß berauschender Getränke die Wirkung des Alkohols nicht gezeigt hat, wenn man ihnen vorspiegelte, daß sie Wasser trinken.

Noch andere Illusionen, d. h. Einbildungen, daß ein Ding etwas anderes sei als das, was es wirklich ist, können erzeugt werden. Der Däne Hansen machte seine Hypnotisierten z. B. glauben, daß sie ein Kind im Arme wiegen, und es war ein Kopfkissen; der Amerikaner Dods verwandelte ihnen einen Rohrstock in eine Schlange, ein Taschentuch in einen Vogel, ein Kind in ein Kaninchen; der Franzose Richet ließ seine Versuchspersonen sich als Greis, Kind, Pfarrer, Neger, als Katze, Hund, Frosch fühlen, worauf sie ganz das Benehmen dieser Personen oder Thiere annahmen, und als letztere sprangen sie über Tisch und Stühle, heulten, bellten oder quakten. Moll sagt: „Gerade bei den Persönlichkeitsänderungen resp. der Verwandlung der Hypnotischen in Thiere werden wir lebhaft an das Mittelalter erinnert, wo einzelne Menschen sich in Thiere verwandelt glaubten; am häufigsten war die angebliche Verwandlung in den Wolf.[6] Solche Menschen fielen andere an, zerfleischten, verzehrten sie und zeigten überhaupt thierische Rohheit und thierische Triebe.“

Wenn dies alles möglich ist, so ist es ebenso gut möglich, ja höchst wahrscheinlich, daß ein Aïssauî infolge der dahinzielenden Eingebung des Scheichs, der sein Hypnotiseur ist, sich für einen Strauß, einen Löwen oder ein Kamel hält und dann die verschiedensten schädlichen Stoffe ohne jeglichen Nachtheil hinunterwürgt, da er das letztere vielleicht unter der vorher gegebenen Suggestion thut, daß der Kaktus ein Stück Brot, die Schlange ein wohlschmeckender gebratener Aal sei.

So wären denn die seltsamen, grausigen Vorgänge bei den A[ï]ssaua ihres unbegreiflichen, wunderbaren Charakters entkleidet – und auf ganz natürliche Weise erklärt durch den Hypnotismus; nur bedarf eben dieser als eine neue, bisher wenig gekannte Erscheinung für die Wissenschaft selbst noch einer befriedigenden Erklärung. Jedoch muß man sich wohl hüten, die religiöse Verzückung einzig und allein als Hypnose anzusehen. Preyer hat ganz recht, wenn er sagt: „Diese wenig bekannten Zustände sind den hypnotischen zum Theil verwandt, aber ätiologisch (d. h. ihrer Entstehungsursache nach) jedenfalls von ihnen gänzlich verschieden und sehr untersuchungswerth.“ Gewiß ist jener Zustand, wie wir ihn unstreitig bei den Aïssaua vorfinden, noch etwas anderes als bloßer Hypnotismus und auch durch wesentlich andere Mittel bedingt, denn er tritt erst nach jahrelanger strengster Bußübung ein. Aber eben so gewiß ist, daß die moderne Wissenschaft sich auf dem richtigen Wege zur Erklärung dieser bisher so verborgenen Dinge befindet, und daß sie schließlich den Nebelschleier von den geheimnißvollen Wundern im Menschen und in der Natur unbarmherzig hinwegziehen und uns das sonnige Land zeigen wird, wo in sieghaftem Glanze die Wahrheit wohnt.


  1. Wir erinnern hier an den Standpunkt, den die „Gartenlaube“ im Jahrgang 1887, Nr. 36, in dieser Frage eingenommen hat. Die Red.
  2. Jeder gute Muselmann besitzt seinen Rosenkranz, von dem er sich niemals trennt und dessen Kügelchen – 33, 66 oder 99 an Zahl – er beim Beten und Anrufen seiner Heiligen durch die Finger gleiten läßt.
  3. Persisch Der = Thor, Thür, wisch = Bettler; also Derwisch = einer, der an den Thüren bettelt.
  4. Kurz und annähernd durch „Kette der Weisen“ zu übersetzen.
  5. Die letzte griechische Philosophenschule, deren letzte Anhänger im 3. Jahrhundert n. Chr. lebten.
  6. Daher der uralte Volksglaube an den Wärwolf, d. i. einen Menschen, der nachts in Wolfsgestalt umherirrt.