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Die orientalischen Wissenschaften − Der vordere Orient und Afrika (1914)

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Textdaten
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Autor: Carl Heinrich Becker
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Titel: Philologie / Die orientalischen Wissenschaften − Der vordere Orient und Afrika
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 39–44
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1183]
II. Die orientalischen Wissenschaften
A. Der vordere Orient und Afrika
Von Prof. Dr. C. H. Becker, Bonn


Die Zeiten, da es dem Deutschen gleichgültig sein konnte, wenn „hinten, fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlugen“, sind endgültig vorüber. Gerade das letzte Vierteljahrhundert hat uns Asien und Afrika ungeahnt nahegebracht. Gewaltige neue Absatzgebiete tun sich dem deutschen Handel, der deutschen Industrie auf, Kapitalien von einer Höhe, wie sie noch vor einem halben Jahrhundert märchenhaft erschienen, sind von deutschem Unternehmungsgeist im Orient investiert, die deutsche Flagge weht auf afrikanischem Boden wie im fernen Osten. Diese gewaltige Entwicklung unserer nationalen und wirtschaftlichen Expansion konnte nicht ohne Wirkung auf die Wissenschaft vom Orient bleiben. Sprachen und Sitten, Staat und Wirtschaft der Länder unseres Wirkens und Strebens galt es zu kennen. Dazu kam die deutsche Freude an der Theorie, an geschichtlichem Wissen, sie ließ uns die neue Welt, ihre geschichtlichen, religiösen, archäologischen Probleme, für die wir uns stets interessiert, nun auch mit unseren wachsenden Mitteln auf breiterer Basis in Angriff nehmen. Idealistische Gesichtspunkte und die Notwendigkeiten der neuen kapitalistischen Welt wirkten in der gleichen Richtung.

Waren schon vor 25 Jahren die orientalischen Wissensgebiete so weit geworden, daß ein Einzelner sie nicht mehr umspannen konnte, so hat die jüngste Zeit zu einer Differenzierung geführt, die mit der Auflösung der alten Naturwissenschaft in die zahlreichen modernen Sonderdiszipline zu vergleichen ist. Hier wie dort dauert der Gliederungsprozeß noch an, neue Zeitschriften, ja ganze Fachliteraturen entstehen für bisher unbeachtete Gebiete.

Die Selbsthilfe der Wissenschaft gegenüber unübersehbar werdender Differenzierung ist die Enzyklopädie. Auch wir sind in den letzten 25 Jahren wieder in eine enzyklopädische Periode eingetreten. Manches davon ist auf kapitalistische Instinkte zurückzuführen, aber zweifellos betätigt sich hier auch ein tief begründetes wissenschaftliches Bedürfnis nach Übersicht. Auch heute noch gibt es mutige Geister, die einem Individuum, die sich die Kraft der Zusammenfassung riesiger Gebiete zutrauen; so unternimmt es ein Deutscher, einen Grundriß der semitischen Philologie, ein Italiener die Annalen des Islam zu schreiben, aber die allgemeine Tendenz weist den für die Zukunft unvermeidlichen Weg der Kollektivarbeit. Große Editionen, Inschriftensammlungen, Lexika erstehen als Früchte kollegialer Zusammenarbeit. Die Tabari-Edition, die Enzyklopädie des Islam und die orientalischen Patrologien seien hier als bewunderswerte Beispiele genannt.

Auch die Fragestellung des Orientalisten hat sich verschoben. Der Standpunkt, die Orientalistik als biblische Hilfswissenschaft zu betrachten, war schon vor 25 Jahren überwunden, aber das Neue in der jüngsten Entwicklung ist die Verselbständigung [1184] der Fächer nach der Realienseite hin. Noch bei Gründung des Berliner Seminars für orientalische Sprachen – schon in dieser Schöpfung kündet sich eine neue Zeit an – stehen eben die Sprachen im Vordergrund; der Orientalist war in erster Linie Sprachforscher, Linguist, der im Nebenamt die antiquarischen oder realistischen Themata seines Faches mit abhandelte. Gewiß ist die philologische Bildung unerläßlich, und mit Recht sind noch viele Gelehrte ausschließlich sprachlich interessiert, aber auch sie machen ihre Studien immer mehr am lebenden Objekt, während andere sich offen dazu bekennen, die Sprache nur als Mittel zum Zweck zu betreiben. Dieser Zweck aber ist die Kenntnis der gesamten Kulturverhältnisse des betreffenden Gebietes, mögen sie gegenwärtige oder vergangene sein. Religionswissenschaft, Archäologie, politische und Wirtschaftsgeschichte werden zum Selbstzweck auch in der Orientalistik und hören auf als Schmuck philologischer Textinterpretationen zu dienen. Noch muß sich zwar häufig der Orientalist als „Mädchen für alles“ verdingen, aber ein neuer Morgen steht vor der Tür, da die Wichtigkeit des Orients für unsere deutsche Gegenwart uns zwingen wird, die innerlich längst vollzogene Gliederung durch Trennung der Lehrstühle auch äußerlich anzuerkennen. Neues Leben sprengt überall die historischen Formen. Und 20 Jahre nach der Gründung des orientalischen Seminars ist das Hamburgische Kolonialinstitut, so recht ein Kind der Gegenwart, der Vermittlung des realen Wissens vom Orient und Afrika gewidmet, ohne daß darum die sprachliche Ausbildung zu leiden hätte. Auch das Seminar für orientalische Sprachen hat sich dieser Verschiebung des Schwergewichts schnell angepaßt. Daß Deutschland zwei so große Institute in so kurzer Zeit erzeugen konnte, zeigt, wie wichtig die Orientalistik auch für die Praxis des Lebens geworden ist.

Aber geschäftliche Lokalkenntnis, dienstliche Routine und sprachlicher Drill sind doch nur die subalternen Äußerungen der großen modernen Bewegung zum Orient hin. Wirklich vorwärts wird uns nur eine wissenschaftlich objektive Erforschung der Welt des Ostens bringen. Die neuen Aufgaben fordern gebieterisch eine neue Bildung. Diese hat aber eine wissenschaftliche Pionierarbeit zur Voraussetzung, die sich von praktischen Zwecken frei hält, ohne deshalb gleich die Fühlung mit dem Leben zu verlieren. Das historische Ganze des Orients gilt es zu erschließen. Hier ist unsere neue Welt nicht nur nach der kapitalistischen Seite orientiert. Wie ein Rückschlag der tieferen menschlichen Bedürfnisse gegen die Materialisierung und Merkantilisierung unserer Zeit mutet es an, daß das religiöse Interesse sich bei uns in zahlreichen Formen wieder ebenso regt wie in der Zeit der ausgehenden Antike. Auch wir richten den Blick nach dem Osten, nicht um die Mysterien Persiens und Babyloniens begierig uns anzueignen, sondern um die dichten Schleier von unserer eigenen Religion und ihrem historischen Werdegange zu lüften. Wohl hatte sich die Assyriologie längst zu einer anerkannten Wissenschaft entwickelt, aber erst die Bibel-Babelfrage hat sie aktuell werden lassen.

Der Bibel-Babelstreit war nur eine populäre Episode in dem großen geistigen Ringen der Wissenschaft um die Wiedererweckung des alten Orients. Dankbar wird es die Geschichte dieser Disziplin anerkennen, wieviel Förderung sie dem lebendigen archäologischen Interesse des Kaisers verdankt. Als Protektor der Deutschen Orient-Gesellschaft hat er diesen Bestrebungen direkt und indirekt die Wege geebnet. Assyriologie und Ägyptologie [1185] hatten vor 25 Jahren ihre Kinderschuhe bereits ausgetreten, aber erst jetzt sind sie innerlich gefestigt die Hauptstützen der altorientalischen Geschichtsforschung geworden. Auf beiden Sprachgebieten – zuerst im Ägyptischen – werden die lexikalischen Arbeiten von Individuen jetzt durch große Kollektivsammlungen ersetzt, und auch die grammatische Forschung hat feste Formen angenommen, im Ägyptischen besonders für die Geschichte des Verbums. In das Chaos der demotischen Texte brachte ein deutscher Forscher endlich Licht. Auch bei der Arbeit mit dem Spaten haben deutsche Gelehrte, vom Staat und Privaten gefördert, im Wettkampf der Kulturvölker mit in erster Linie gestanden. Das ehrwürdige Babylon erstand aus dem Schutte von Jahrtausenden, in Assyrien, in Ägypten, in Syrien wurde gegraben. Überall war das Ziel nicht wie früher ein eilfertiges Erhaschen prunkender Museumsstücke, sondern das Kulturganze jener untergegangenen Welten, wenn man auch die besten und kostspieligsten Resultate nicht in den heimischen Museen ausstellen konnte. So wurde auch eine archäologisch-kunstgeschichtliche Würdigung erstmalig möglich. Aber auch die Funde selber, namentlich die Schriftdenkmäler, erweiterten unsere Kenntnisse vom alten Orient über alles Hoffen und Erwarten. Von London aus wurde die gewaltige Keilschriftbibliothek Assurbanipals allmählich erschlossen. Ein Deutscher bringt die erste Ordnung in die wüste Masse von 22 000 Tontafeln. Das dieser Bibliothek entstammende assyrische Urbild der biblischen Sintfluterzählung erregt die Gemüter. Im Jahr des Regierungsantrittes unseres Kaisers werden in Ägypten die Tell-el-Amarnatafeln gefunden, eine diplomatische Korrespondenz in assyrischer Sprache und Schrift aus dem 15. Jahrhundert v. Chr., die mehr als alles bisher Entdeckte den weltweiten Einfluß der babylonisch-assyrischen Zivilisation erkennen ließ und dem schemenhaften Bild jener Zeit menschliche, ja allzu menschliche Züge verlieh. Deutsche Gelehrte haben diese Urkunden erstmalig erschlossen. Berliner Ausgrabungen in Sendschirli führen uns in die eigentümliche Kultur der assyrischen Vasallen in Nordsyrien ein und schenken uns altaramäische Inschriften von einzigartiger Bedeutung. Deutscher Spürsinn entdeckte erst vor wenig Jahren in den Schutthügeln von Boghaskjöi die alte Hauptstadt des Hethiterreiches. Ein in ägyptischen Hieroglyphen uns bekannter Staatsvertrag erschien nun plötzlich auch in Keilschriftversion, grundlegende staatsrechtliche Verhältnisse des zweiten Jahrtausends wurden von zwei Seiten aus beleuchtet. Die Hammurabistele wurde gefunden und erschloß Zusammenhänge, die in Deutschland Gelehrte und auch das große Publikum beschäftigten. Deutsche waren schließlich auch bei der Ausgrabung und Entzifferung der einzigartigen aramäischen Papyri von Elephantine in erster Linie beteiligt. Zur Zeit der Herrschaft der Achämeniden über das Niltal lebt an der Südgrenze Ägyptens eine jüdische Gemeinde mit einem eigenen Tempel. Ihr Tempel wird zerstört, ihre Anträge auf Wiederherstellung und andere Urkunden sind uns erhalten. Tiefe Blicke tun wir damit in die israelitische Religionsgeschichte, schwerumfochtene Resultate der Bibelkritik finden überraschende Bestätigung, die Verwaltung des Achämenidenstaates wird lebendig, die historischen Urkunden der biblischen Bücher Esra-Nehemia treten aus ihrer Isolierung und werden glaubhaft, von der Fülle der sprachlichen Enthüllungen ganz zu schweigen. Und aus den gleichen Quellen ersteht uns eine aramäische Version des Achikar romanes, wahrlich auch das eine Entdeckung von unabsehbarer literaturgeschichtlicher Bedeutung.

[1186] Auch das dunkle Südarabien, die Arabia Felix der Römer, entschleiert sich allerdings noch langsam dem Forscherblick. Noch sind es isolierte Inschriften, noch fehlt die systematische Ausgrabung, aber schon unterscheiden wir Dynastien, und die Grundlinien von Religion und Sitte, von Staat und Gesellschaft dieser heute noch unbetretenen Gebiete werden uns klar. Ihre Wichtigkeit erhellt aus der geographischen Lage. Zwei Welten stoßen hier aneinander. Solange man altorientalische Geschichte treibt, in keinem Zeitraum haben sich die Quellen so überraschend vermehrt wie in dem letzten Vierteljahrhundert, und an allen diesen Entdeckungen hat der Kaiser mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit seiner Natur warmen und energisch fördernden Anteil genommen. Die Wissenschaft hat noch nicht überall den nötigen Abstand von den Ereignissen gefunden. Es gibt ja wohl auch nichts Schwierigeres als sicheres Augenmaß gegenüber der Zufälligkeit historischer Informationen. Aber wie breit und wie tief ist die Geschichte des Altertums geworden von Gudea und Menas bis an die Schwelle des Hellenismus! Manches wird gewiß überschätzt. Die übertriebene Wertung babylonischer Einflüsse war eine Kinderkrankheit, und doch wie weit hat Babylon gewirkt. Wie anders sieht die neueste Geschichte des Altertums aus, wenn man sie mit den besten Werken vor 25 Jahren vergleicht! Und eine freudige Hoffnung schwebt über unserer Arbeit. Wir stehen erst am Anfang einer wirklichen Erschließung des orientalischen Altertums!

Was im Vorangehenden zusammengefaßt ist, stellt sich in der Wirklichkeit als eine Fülle von Sonderwissenschaften dar, die kein Einzelner mehr philologisch zu beherrschen vermag. Ganz unübersehbar wird aber das Material, wenn wir in die hellenistische und römische Zeit eintreten, die hier ausgeschlossen werden muß, und wenn wir dann weiter den christlichen und islamischen Orient des Mittelalters und der Neuzeit ins Auge fassen. Sprach- und Kulturkreise decken sich hier nur selten, und es ist fast unmöglich, das bunte Leben, das hier in den letzten 25 Jahren geherrscht hat, in logisch aneinanderreihbare Schlagworte zu fassen. Im Mittelpunkt der philologischen Betrachtung steht das Arabische. Die Gründung einer wirklich exakten philologischen Methode durch Fleischer lag bereits vor 1888, aber Fleischers Einfluß war so groß, daß sich die Forschung erst ganz allmählich von dem ausschließlich grammatischen Interesse freimachen konnte. Die Arabistik entwuchs der arabischen Schulweisheit, immer energischer wurde die lebende Sprache herangezogen, und von der Dialektforschung aus dämmert jetzt ein neuer Tag. Zwar sind wir noch weit entfernt von einer historischen Grammatik auch nur des Arabischen; auch der Wandel der Literärsprache in den bald anderthalb Jahrtausenden ihres Bestehens ist noch völlig ununtersucht, aber wieviel wichtige Detailarbeit ist nicht überall geleistet! Die Entwicklung war nicht auf das Arabische beschränkt; im Aramäischen − klassische Grammatiken des Syrischen und Mandäischen brachten wir schon in unsere Periode mit hinein −, im Äthiopischen, überall der gleiche Prozeß, neue Dialekte, neue semitische Sprachen werden uns erschlossen, und auf phonetischer Basis sehen wir langsam eine wirkliche semitische Sprachwissenschaft erstehen.

Auch auf den nichtsemitischen Sprachgebieten des Orients regt sich ein neuer Geist, aber der Ausbau des Türkischen, Persischen und Armenischen leidet in Deutschland an der geringen Zahl der Arbeiter. Die stiefmütterliche Behandlung dieser Sprachen an [1187] den Universitäten ist geradezu grotesk, für die Turksprachen gibt es überhaupt keine Universitätsprofessur und die Sprache Irans schiebt der Semitist gern dem Indogermanisten zu und der Indogermanist dem Semitisten. Um so bewundernswerter ist die Leistung des iranischen Grundrisses nach der sprach- wie literargeschichtlichen Seite. Die Pflege des Türkischen − für das Reich eine so einzigartige Aufgabe! − ist in Deutschland dem Weitblick einiger weniger Semitisten zu danken. Eine „Türkische Bibliothek“ erschließt ein zukunftsreiches Neuland.

Gerade sie weist uns aber auch auf die Realien, und ihre Pflege ist ja ein Charakteristikum der letzten 25 Jahre. Schon die Quellenerschließung steht unter diesem Zeichen. Der Versuch eines arabischen Catalogus Catalogorum wird kühn gewagt, ein trotz aller Mängel nicht wieder fortzudenkendes Buch. Auch die äthiopische Literatur wird von einem Deutschen erstmalig zusammengefaßt. Die Hauptergebnisse, die wirklichen Fortschritte der orientalischen Realienforschung liegen auf historischem, religionsgeschichtlichem und archäologischem Gebiet. Das weite Feld des christlichen Orients muß hier, als zur Kirchen- oder Kunstgeschichte gehörig, unerörtert bleiben, nur der deutschen Aksumexpedition sei hier dankbar gedacht, die das Problem der Anfänge des abessinischen Christentums definitiv gelöst und überhaupt das Standardwerk über das aksumitische Reich geschaffen hat. Neben den christlichen Kulturkreis, der um Beachtung nicht zu sorgen brauchte, tritt immer entschiedener der islamische.

Durch Urwaldgürtel kirchlicher und philologischer Geschichtskonstruktionen haben uns hier kühne Forscher, die alle noch leben und deshalb ungenannt bleiben, einen Weg zu historischer Erkenntnis gebahnt. Das arabische Reich erstand. Die ganze islamische Bewegung, das Leben Muhammeds, mußten neu gewertet werden. Die religiöse, sich historisch gebende Überlieferung wurde als Tendenzliteratur erwiesen. Die Erkenntnis von der Idealität des islamischen Rechtes trat an die Stelle der alten Auffassung von seiner praktischen Wirklichkeit. Eine wirkliche Geschichte des Islam als Religionsform wurde geschaffen. Religiöse Forderung und Volkssitte wurden zu den Grundpfeilern eines Verständnisses des modernen Islam. Die historische Kontinuität, das Nachleben der ausgehenden Antike im Islam, wurde außer Frage gestellt. Die Verbindungslinien zwischen der Gegenwart und der klassischen Zeit des Islam wurden gezogen. Die Formen der Gegenwart wurden wissenschaftlich aufgenommen. Mekka wurde eröffnet, und wenn die Forscher, die hier als Pfadfinder auftraten, auch nicht immer Deutsche waren, so standen sie doch deutscher Wissenschaft nahe, so haben sie doch zum Teil deutsch geschrieben und jedenfalls in Deutschland die größte Wirkung erzielt. Auch archäologisch wurde der Islam erst jetzt richtig in Angriff genommen. Die islamischen Denkmäler Persiens wurden ebenso sorgfältig aufgenommen wie Überreste der Sassanidenzeit. Das Problem der Genesis der islamischen Kunst, ihre Beziehungen zur christlichen, zur altorientalischen, zur klassisch, antiken, stehen noch zur Debatte. In solider Detailarbeit hat Deutschland soeben die Ruinen der Kalifenresidenz Samarra der Wissenschaft gewonnen. Die Fassade von Nischatta steht in Berlin, und verwandte Schlösser der ältesten Periode hat ein österreichischer Reisender entdeckt. Soweit der Islam reicht, überall ist seine wissenschaftliche Erforschung im Werk. Hierbei sind begreiflicherweise die dem Islam [1188] politisch so viel näherstehenden großen Kolonialvölker an Gelegenheit uns voraus. – Und der Orient ist erwacht. Tausende und Abertausende von Bänden moderner und alter Literatur werden alljährlich im Orient gedruckt, 700–800 arabisch gedruckte Zeitungen und Zeitschriften konnten nachgewiesen werden – kurz, hier liegt noch eine ganz gewaltige Stoffülle vor uns, die es jetzt, nachdem die Grundlagen gelegt sind, auch lohnt, ja auf denen es jetzt erst möglich wird, mit moderner wissenschaftlicher Kritik nutzbringende Arbeit zu leisten. Nicht politisch, nein geistig muß der Orient unser werden!

Ähnlich wie mit dem Orient ging es mit dem dunklen Afrika. Soweit die islamische Kulturschicht reicht, wird man es zum Orient rechnen dürfen, aber die Grenze ist schwankend. Die afrikanische Philologie ist noch ein schwaches Pflänzchen. Bei den Hunderten von Sprachen, die zum Teil erst mangelhaft, zum Teil noch gar nicht fixiert sind, mag es tollkühn erscheinen, gewisse Sprachgruppen zu sondern, und doch hat man es mit Recht gewagt. Neben den semitischen Sprachen scheinen sich drei große Hauptgruppen von Sprachen zu sondern, die hamitischen, die Bantu- und die Sudansprachen, letztere noch deutlich als ursprünglich isolierende Sprachen erkennbar, erstere den semitischen nahestehend und die Bantusprachen als ein Mischprodukt. Die ethnographischen Voraussetzungen der Urgeschichte Afrikas scheinen damit übereinzustimmen, aber diese Thesen sind noch umstritten. Die Realienforschung ist in Afrika Ethnographie. Auch hier sind die Fortschritte erstaunlich, und mit Hilfe alter Überlieferungen und einheimischer muhammedanischer Geschichtsquellen, die uns immer reichlicher zufließen, ersteht ein Bild der Geschichte Afrikas, das uns weit über die großartigen Entdeckungen Barths und Nachtigals hinausführt. Man staunt täglich aufs neue, wieviel uns Afrika noch zu erzählen hat.

Bei so viel Stoff ist die Beschränkung auf einige Andeutungen bitter; bitterer ist die Erkenntnis, auf wie wenig Schultern auch heute noch die gewaltige Arbeitslast ruht, die im Interesse des Deutschlands von Morgen geleistet werden muß. Der Ruf nach neuen Arbeitsgenossen verbindet sich mit dem ehrfurchtsvollen Danke an die, welche uns die Wege gewiesen haben.