Diskussion:Johann Georg Wilhelm von Raison
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Selbstbiographie
[Bearbeiten]- https://dspace.ut.ee/bitstream/handle/10062/22808/est_a_1680_1909_1910.pdf?sequence=1&isAllowed=y S 63-69
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[Bearbeiten]Im Jahre 1775 den 13ten Januar bin ich geboren, am Geburts- tage meines Vaters, welcher Tag daher in der Folge ein doppelter Festtag war. Ich hatte einen Bruder ein jahr älter als ich. Mein Vater war damals über 40 Jahre alt, meine Mutter über 20. Er war ein Mann von festen Grundsätzen, feurigem Tempe- rament, heftigem Gefühl, was bei kraftvoller Konstitution und strenger Diät nicht geschwächt war; daher er auch noch in späteren Jahren gewöhnlich noch für jünger gehalten wurde als er war. Meine Mutter, weicher und zarter, auch schwächlicher, liebte ihn sehr, hatte große Achtung für ihn und unbeschränktes Vertrauen. Von den 5 er- sten Jahren meines Lebens weiß ich jetzt wenig mehr; doch nach der Behandlung meiner jüngeren Geschwister zu urteilen, war während dieser Zeit meine Erziehung und die meines Bruders meistens meiner Mutter und meiner Tante Gertrude Recke, jetzt Schwenkner, die bei uns im Hause lebte, überlassen. Mein Vater, damals einziger Kabinetts- sekretär des Herzogs, hatte viele und mancherlei Geschäfte; er dirigierte nur unsere Erziehung, selbst konnte er nicht so viel tun, als er wohl gern getan hätte. Er hielt, so viel er konnte, auf die Befolgung seiner Vorschriften, doch strafte er nur selten, dann aber strenge. Wir Kinder liebten und fürchteten ihn. Die Mutter fürchteten wir nicht, wir konnten zu sehr auf ihre Nachsicht rechnen. Dem Vater war ich daher unbedingt gehorsam, der Mutter nicht immer. Als ich 5 Jahre alt war, unterrichtete mich letztere im Lesen, wozu außer dem ABCbuch Gellertsche Fabeln gebraucht wurden, von denen ich jetzt noch zum Teil den Anfang weiß, die ich damals aber nicht verstand. Fast zu gleicher Zeit schickte mein Vater mich und meinen Bruder zu einer Französin M. Chevalier, Frau eines Tanzmeisters, um dort besonders durchs Sprechen und Lesen Französisch zu lernen. Bei ihr brachte ich ein paar Stunden Vormittags und ein paar Nachmittags zu. Sie war eine sehr liebreiche Frau, behandelte uns sehr gut, so wie sie auch ihre Tochter, ein Mädchen, etwas älter als wir, erzog. Ihr Mann und
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[Bearbeiten]ihre Söhne waren nicht so gut. Dieser Unterricht währte etwa bis zu meinem 9ten Jahre, während welcher Zeit mein Vater uns, wenn es seine Zeit erlaubte, welches doch nicht regelmäßig geschehn konnte, in der Geographie, Geschichte, Anfangsgründe des Lateins und der Geo- metrie Stunden gab. Sein Kopist Ranz ließ uns schreiben und die 4 Spezies rechnen. Gern sprach mein Vater, der Sohn eines Fran- zosen 1), der die französische Literatur vorzüglich liebte, mit uns franzö- sisch, wobei nur die Unkunde meiner Mutter darin hinderlich war. Wir hatten wenig Umgang mit Kindern unseres Alters und diese waren auch dazu weniger gebildet als wir. Fast die einzigen waren die Kinder der Chevalier und meines Onkels Rust. Selten war bei uns große Gesellschaft, öfters besuchten meinen Vater einzelne Freunde. Unsere Familie war regelmäßig den Sonntag Abend bei meiner Großmutter. Um diese Zeit zog der damalige Sekretär Schwenkner2) nach Mitau, er übernahm den regelmäßigen und jetzt schon sehr nötigen wissenschaftlichen Unterricht, bei ihm brachten wir den größten Teil des Tages zu, eine etwas kürzere Zeit, als er nachher Professor wurde. Er trieb das Geschäft mit Liebe und Eifer, daher ich ihn auch sehr liebte, doch fehlte es ihm wohl an einem festen Plan in der Methode. In den Abendstunden beschäftigte sich noch immer mein Vater mit uns, teils, wie ich jetzt begreife, manche Lücken auszufüllen, teils immer fort zu sehen, wie weit wir gekommen wären. Dies setzte er auch fort bis an seinen Tod. Mein Bruder war etwas älter als ich, hatte auch mehr Fähigkeiten, besonders Gedächtnis und wenn sein Ehrgeiz rege gemacht wurde, auch Fleiß. Unser Unterricht ging gleichmäßig fort, dabei verlor ich öfters auf mancherlei Art. Ich wurde blöder, er mitteilender, ich zuweilen mutlos, er vertrauensvoller; er fand bei Erwachsenen Beifall, ich fand mich oft zu den Kindern zurückgedrängt; unsere Liebe litt dabei. Die schönsten Stunden hatte ich in dieser Zeit im Höfchen, das mein Vater unweit der Stadt gekauft hatte. Wenn nun die Schulstunden geendigt waren, auch der Vater uns im Höfchen selbst, wie er es gern tat, vorgenommen hatte, dann ging es ins Freie. Im Garten, besonders dem kleinen eigenen, auf dem Felde, auf den Spaziergängen war ich glücklich. Im 11ten Jahre war ich, als mein Onkel Recke 3) von der Universität zurückkehrte. Schwenkner, als Professor, hatte nun mehrere Ge-
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[Bearbeiten]schäfte und mehrere Umstände bestimmten meinen Vater, Recke als Lehrer für uns zu engagieren. Er lebte in Mitau bei seiner Mutter, und den ganzen Vormittag brachten wir bei ihm zu. Für den Nachmittag gab er uns Arbeit auf und unser Vater beschäftigte sich mit uns. Auch fing ich in dieser Zeit schon fleißig an für mich zu lesen, nur nicht mit gehöriger Auswahl, da ich selten meinen Vater zu Rate zog. Recke sorgte gut für unsere Bildung, bei ihm lernte ich erst etwas deutsch, latein und französisch schreiben; nur für das gründliche Lernen, für das Gedächtnis sorgte er nicht genug. Jetzt schrieb ich die ersten Briefe, manche Fähigkeiten fingen an sich zu entwickeln, ich sehnte mich nach Umgang mit jungen Leuten meines Alters, den ich denn in der Stadt auch bald fand. Doch war mein Vater darauf sehr aufmerksam und sah es nicht gern, daß wir von ihm entfernt viel mit anderen Kindern zusammen lebten. Das war auch sehr nötig, denn manchen hielt ich damals für den liebenswürdigsten und besseren, an den ich mich gern mit der eifrigsten Freundschaft angeschlossen hatte und der nichts taugte. Große Freude machten mir Spaziergänge mit diesen jungen Freunden, zu denen gewöhnlich der Sonntag Nachmittag angewendet wurde und auf denen wir uns so weit als möglich von der Stadt entfernten. Das wünschenswerteste blieb mir aber eine Reise aufs Land. Zwei alte Freunde hatte mein Vater außer der Stadt, die er bisweilen besuchte, der alte Pastor Urban1) in Lesten und der Kaufmann Sievert in Tuckum. Die schönste Jahreszeit wurde dazu benutzt, gewöhnlich nur ein paar Tage; doch je kürzer die Zeit war, je mehr Reiz erhielt sie. Ich glaube, daß aus diesen Ausfahrten sich der entschiedene Entschluß bildete einmal auf dem Lande zu wohnen, denn das erinnere ich mich wohl, war es hauptsächlich, was mir den Predigerstand wünschenswert machte. Mein Vater war Freund der Kunst und schönen Natur, er zeichnete gern, er ließ auch mich frühe zeichnen lernen. Lange zeichnete ich nur Köpfe und Figuren, doch sehnte ich mich immer nach Landschaften. Zuweilen fuhren wir außer der Stadt in einen Wald oder zu einigen Bäumen, wo wir im Freien Kaffee tranken; dann war mein Vater gewöhnlich sehr heiter und suchte uns mit der Natur zu beschäftigen. So machte er auch zuweilen zu Fuß Spaziergänge mit uns, wohl eine halbe Meile weit von der Stadt, während dessen er uns über mancherlei belehrte. Mein Onkel Recke bekam ein Amt; und nun war wieder für unseren Unterricht zu sorgen. Latein UND Mathematik waren es besonders, worauf mein Vater seine Aufmerksamkeit richtete. Pr. Jäger2) versprach es, uns im Latein zu unterrichten, Beitler3) in letzterer. Im