Drei Sommer in Tirol/Gröden und Enneberg
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Das Wildfremde dieser Thäler sowohl in ihren abenteuerlichen
Berggestalten, als in der Sprache und der Art der Bewohner
übt in neuerer Zeit einen mächtigen Reiz auf wißbegierige
Reisende. Ehemals blickte der eilige Romfahrer,
wenn er am stolzen Schlosse zu Trostburg vorüberzog, wohl
gleichgültig in den engen Bergriß, aus dem der Grödnerbach
herausstürzt, ohne zu ahnen, was da Anziehendes dahinter
liegt; jetzt aber nimmt sich schon mancher die Mühe
hineinzuklettern, um dort für Geognosie oder Ethnographie zu
sammeln. Es versteht sich daher von selbst, daß wir den Leser
auch dahin führen müssen.
Eines Tages im Augustmonat 1842 zog ich mit einem Gefährten vom Salrainer Wirthshause auf den Ritten fort. Wir stiegen und sprangen in genöthigter Eile den steilen Fußsteig hinunter, der von der Hochebene an der Wand herab nach Atzwang führt. Damit waren wir in einer Stunde wieder aus dem nordischen Pflanzenwuchs und dem kühlen Windzug des Rittens in das Land der Rebe und der Feigen und in die warme südliche Luft der Niederungen gekommen. Und in der That war hier im engen Thale an der Straße eine drückende Hitze und wir betrachteten mit mißgünstigen Augen den jähen Berghang, der gleich über dem Eisack emporstieg, und uns nun wieder gerade so hoch hinaufführen sollte als wir so eben heruntergekommen waren, nämlich in die Hochebene [410] von Vels und Seis, die dem Ritten in gleicher Erhabenheit gegenüber liegt.
So erfreuten wir uns also eine Zeitlang der frischen Kühle in der weiten Stube des Wirthshauses zu Atzwang und gingen dann über die Brücke und stiegen mühselig und keuchend und schweißtriefend den steinigen Bergweg hinan, zuerst noch zwischen Weinbergen, dann durch Getraidefelder und an Höfen vorüber, die zerstreut auf den schiefen Fluren lagen. Hie und da suchten wir nach Wasser, um den brennenden Durst zu löschen, aber ehe nicht die volle Höhe erreicht war, fanden sich nur laue, wenig erfrischende Brunnen. Es ist überhaupt ein Uebel in der Gegend von Bozen, daß das Wasser fast überall lau und schlecht ist. In der Stadt benützt man die Fluthen der Talfer zum Trunke; auf dem Ritten und zumal in den Dörfern an der Straße zwischen Bozen und Meran steht’s damit noch schlimmer. – Endlich standen wir auf der Höhe von Vels, den weißgrauen Schlern über uns, rechts und links Höfe und Dörfer, Wiesen und Felder, auch Wald und Dickicht, und wenn wir uns rückwärts wendeten, so sahen wir, nur durch die tiefe Schlucht des Thalweges getrennt, den weißen Villenhaufen von Klobenstein und das schöne Hochland des Rittens.
An den Ausläufern des Schlernkofels zogen wir hin und kamen in den Hauensteinerwald, aus dem die Burg dieses Namens in zerrissenen Mauern aufragt. Sie war ehedem, als die alten Hauensteiner abgegangen, der Sitz Oswalds von Wolkenstein des jetzt oft genannten ritterlichen Dichters, und hier starb er auch im Jahre 1445, des irdischen Lebens müde. Zu Neustift bei den Chorherren ward er begraben. Sein schöner Denkstein steht im Kreuzgange des Domes zu Brixen. Herr Oswald führte ein unruhiges Leben und hatte zumal viele Feindschaft mit Herzog Friederich, dem Freund der Bauern. Er war bei allen Adelsbünden gegen den Landesherrn und wäre ihm nicht unlieb gewesen, wenn Tirol wieder ans Reich gekommen wäre. Wenn’s ihm daheim zu heiß wurde, ging er auf Reisen und Kriegszüge „gen preußen, littwan, tartarey, türkey, über mer gen frankreich, lampart, yspanien,“ [411] wobei er „frantzöisch, morisch, katlonisch und kastilian, teutzsch, latein, windisch, lampertisch, reuschisch und roman, die zehn sprach“ hat gebraucht. Auch eine Kreuzfahrt ins gelobte Land und einen Zug gegen die Hussiten überstand er glücklich. Einen Lebensabriß des siegreichen Kriegsmannes gab Freiherr v. Hormayr im historischen Taschenbuche von 1824. Von seinen Liedern finden sich zwei Sammlungen, die eine aus dem Jahre 1425 zu Wien, die andre von 1432 zu München bei einem seiner Enkel. Letztere ist mit einer, freilich nicht sehr leserlichen Zuschrift von König Sigmund, dessen Rath sich Oswald nannte, an Herzog Friedrich zu Oesterreich versehen. Der Text der Lieder scheint von des Sängers eigener Hand zu seyn. Vorne ist sein gleichzeitiges Bildniß, ein rundes kräftiges Gesicht mit breitem Munde, doppeltem Kinne, einäugig, mit leisen Spuren von Narben um den Mund. Hellbraune Haare in dichtem Wulste umgeben es. Ueber seine Dichterweise und ihren Zusammenhang mit den poetischen Leistungen seiner Zeit fehlt noch eine Arbeit. Auf keinen Fall dürfte es sich herausstellen, daß es passend gewesen, ihn „den großen Geistesverwandten Homers“ zu nennen.
Nicht weit von Hauenstein liegen noch andere gebrochene Burgen, Saleck und Aichach, und ihrer Verwitterung gegenüber recht freundlich anzusehen das Dorf Seis, in weißen steinernen Häusern breit auseinander gelegt. Eine halbe Stunde aufwärts geht nunmehr ein schlängelnder Pfad zwischen Tannenwald unter den Schlernkofel hin, immer näher an seine Vorhörner auf das Bad Ratzes zu, wo wir unsre Nachtherberge nahmen.
Das Ratzeserbad liegt versteckt in einer waldigen Rinne, die der Seiserbach durchströmt. Hinter dem Bade verliert sie sich bald im Hochgebirge. Die nächste Umgebung hat auf ebenem Plane wenig Reiz, in der Höhe ist sie gewaltig und erhaben, denn der Schlern streckt seine himmelhohen Köpfe zum schwindelnden Anblick empor. Ratzes ist übrigens ein sehr besuchter Badeort und ohne Prunk mit allen angemessenen Behaglichkeiten ausgestattet. Zwei anständige Häuschen, mit vielen kleinen Kammern versehen, sind aus Stein erbaut, ein [412] drittes das dahinter steht, ist von Holz. Auch hier ist für ärmere Leute durch mäßigeren Tisch und billigere Herberge besonders gesorgt. Die reichern Gäste führen dasselbe nährende Leben wie zu Ulten, wozu wir den Abendimbiß, dem wir beiwohnten, zum Zeugen nehmen. Vorher wurde in der Badcapelle von einem Geistlichen der Abendsegen gebetet, wobei Reich und Arm erschien. Die frommen Verrichtungen des Tages, an die der Tiroler in der Heimath gewohnt ist, will er auch als Gast im Bade nicht missen. An Priestern hiefür ist selten Mangel, da auch die Geistlichen ihre Sommerfrischen am liebsten in den Bädern zubringen. Auch dießmal waren ihrer etliche sechs an der Tafel und saßen oben auf; dann kamen ein paar Familien aus Bozen, dann die beiden Herren aus Bayern, dann etliche junge Leute uns unbekannter Herkunft – in allem etwa dreißig Personen und eigentlich nur der Rest der Gesellschaft, die im vorigen Monat drei- und viermal zahlreicher gewesen. Durchschnittlich soll in guten Sommern die Gesammtzahl der bessern Leute auf 500 steigen. Der bekannteste darunter ist der Mondscheinwirth von Bozen, der hier schon viele, viele Jahre her seine Sommerfrische hält, und deßwegen auch bei seiner Ankunft mit knallenden Böllern empfangen wird, eine Ehre, um die ihm schon mancher neidig gewesen seyn soll. Nach allem was wir an andern Orten gesagt, ist es wohl überflüssig auch hier wieder von freundlichem Empfang und liebreicher Sorgfalt der Wirthsleute zu sprechen.
Auch der Tirolerbote liegt zu Ratzes auf; sogar ein Ansatz zu einer Badebibliothek ist gemacht und für dichterische Ergießungen, die nicht selten scheinen, steht das Fremdenbuch offen. In diesem fand ich auch eine Aufzeichnung der Meereshöhen verschiedener Orte der Gegend in Wiener Fußen nach Dr. Jos. Oettl. Laut dieser ist die Spitze des Schlernkofels 8720, das Ratzeserbad aber 4161 Fuß über dem mittelländischen Meere. Andere Angaben finden sich im eilften Bändchen der neuen Zeitschrift des Ferdinandeums. Nach diesen wäre der Rücken des Berges 8094, das Bad 3885 über dem Meeresspiegel.
[413] Was das Wasser selbst betrifft, so sprudeln hier zwei Quellen. Die eine davon führt Eisen, die andere Schwefel. Erstere entspringt westwärts eine halbe Stunde ober dem Bade, die andre auf der östlichen Seite in schauerlicher Wildniß. Beide werden durch hölzerne Röhren ins Badehaus geleitet, dort getrunken und in mannichfachen Leiden zu Bädern benützt.
Am andern Morgen stiegen wir auf die Seiser-Alpe. Die Seiser Alpe ist eine ungeheure Wiesenebene, die mit dem Schlern zusammenhängt und gegen Castelruth, gegen Gröden und gegen das Fassathal sich ausstreckt, zehn Stunden im Umfange hat und in dieser Art einzig dasteht in Tirol. Sie hat einen berühmten Namen; zumal in Bozen und auf dem Ritten hörten wir viel Schönes von dieser Alm erzählen, die bei dem Gang auf den Schlern gewöhnlich mit besucht wird. Ihre Höhe ist wechselnd, doch nirgends unter fünfthalbtausend Fuß.
Von Ratzes aus führt ein gepflasterter Saumweg hinauf, angenehm zu gehen, bald durch offene Wiesen, in denen Bauernhöfe stehen, bald durch finstern Wald. In einer Stunde mag man auf der Höhe seyn.
Ehe wir noch das Blachfeld selbst betraten, zeigte sich ein kleiner Tannenschopf am Wege. Bei diesem hielt ein wälscher Knabe aus Fassa Markt, welcher zu Bozen Aprikosen und Birnen eingekauft und dann die schwere Last auf dem Rücken herauf getragen hatte, um an den Mähdern auf der Seiseralm und zufälligen Wanderern sein Gewinnstchen zu machen. Er schien sich zum Nutzen seines Handels die deutsche Sprache schon vorlängst eigen gemacht zu haben und wußte ganz gut damit umzugehen. Wir ehrten seine Betriebsamkeit dadurch, daß wir uns alle Taschen mit seiner Waare füllten, worüber er große Freude und Dankbarkeit zu erkennen gab.
Und nun traten wir auf die Alm, auf die liebliche Alm, die nach allen Seiten leicht hinan stieg, und im Frühthau glänzte stundenweit – eine schöne wellenförmige Fläche, überall [414] mit Schwaigen und Sennhütten bedeckt, hin und wieder durch einen Ansatz von Fichtenhain unterbrochen, überall von unsichtbaren Bächlein durchrieselt, jetzt als zur Zeit der Heuernte weit und breit voll Mähder und Mähderinnen, die in langen Reihen nach einander hinarbeiteten. Von nah und fern umschlossen wilde Berge die grüne Ebene, der Schlernkofel zunächst, der aber hier ein ganz anderes Ansehen hat, da die beiden Wassergüsse den Leib des Unthieres fast völlig verdecken; über das Grödnerthal hin steigen beschneite Dolomiten auf.
Die Seiseralm gehört zumeist den Bauern von Castelruth und ist für sie eine Quelle reichlichen Einkommens. Im August ziehen sie mit allem Hausgesinde herauf, um das Gras zu schneiden. Das rege Leben zu solcher Zeit so hoch oben über den Thälern ist höchst anziehend und belohnt gewiß für den ohnehin sehr bequemen Aufstieg. Wir machten bei einer der Schwaigen eine längere Rast, um dem Mittagmahl der Mähder beizuwohnen. Es fand sich der Herr, ein ansehnlicher Bauer dazu ein, und der Knechte und Mägde waren es etwa ein halbes Duzend. Darunter auch ein Wälscher, d. h. ein Grödner aus St. Christina, noch jung, um nebenher beim Mähen deutsch zu lernen. Bald ließen sich alle zum Tischgebet auf die Knie nieder. Das Essen wurde in großen Schüsseln aufgetragen und auf dem Rasen liegend eingenommen; sehr anständig und unter heiteren Tischgesprächen. Und zur selben Zeit, als sie vor unsrer Schwaige zu Tische saßen, saßen auch nah und fern mehrere hundert Mähder auf dem Rasen, um Mittag zu halten. Die Nahrung muß bei der anstrengenden Arbeit kräftig seyn und daher auch hier, wie im Etschland, fünf Mahlzeiten des Tages. Wenn die Sonne hinuntergesunken, so nimmt man das Abendmahl ein, und dann gehen alle schlafen, das Gesinde in der Dille, nämlich dem Heustadel, wo es im Heu sehr süß und warm sich ruht, der Herr in der Schwaige, wo ihm ein Bett bereitet. Der Bauer, bei dessen Mahl wir saßen, gab gerne Antwort auf unsre Fragen. Von ihm erfuhren wir mancherlei, zum Beispiel, daß der Lohn der verdingten Arbeiter ein Gulden und dreißig [415] Kreuzer ist für die Woche. Ein Hauptreiz der schönen Ernte-Zeit auf der Seiseralm war ehemals das Sonntagessen. Da mußten nämlich dem Feiertage zu Ehren vertragsmäßig verschiedene leckere Gerichte aufgesetzt und dazu nach Bedarf Wein gegeben werden. Dieß Mahl reichen indessen heutzutage nur noch drei oder vier Bauern in Natur wie vor Altem, mit Fleisch und Krapfen und Zubehör; die übrigen zahlen ihren Leuten lieber zwei Zwanziger in Geld dafür.
Nun bestiegen wir auch die Höhe von Puflatsch, am Rande der Alm, wo sie gegen Castelruth abfällt. Allda ist eine erhabene Aussicht über viele Gebiete des mittäglichen Tirols, freilich nur die Hälfte von jener, die auf der Höhe des Schlerns einzuholen ist. Aber die stolzen Nonsberger Gebirge und der Oertles, die Ferner von Oetzthal und von Stubei geben sich die Hand zu einem prächtigen Reigen um das Etschland, und in seinen Tiefen ist der Gang des Stromes weit hin zu verfolgen bis in die blauen Gegenden von Wälschland.
Von Puflatsch geht’s wieder jäh hinab im Runste eines Baches gegen Gröden. Ehe dieß aber erreicht wird, zeigen sich noch weite Feldungen und in diesen liegen am jähen Abhange zerstreut die Häuser von Pufels. Dieß ist auf dieser Seite das erste Dörfchen, wo die kauderwälsche Sprache erklingt, die auf der ganzen Erde Niemand spricht, als die dreitausend schnitzelnden Grödner. Wir hatten uns schon lange im Stillen gefreut, diese Sprache einmal in ihrer Heimath zu belauschen, in ihren eigenen Stuben und an ihrem eigenen Herde, und daher beschlossen wir auch in Pufels eine ausgiebige Rast zu machen und schleunigst noch einige linguistische Studien zu unternehmen, um nicht ganz unvorbereitet in die Hände der fremdzungigen Grödner zu fallen.
Die Häuser sind hier zumeist von Stein, aber mit hölzernen Scheunen vergesellt. Sie waren zu jetziger Jahreszeit auf allen Seiten mit Garben verkleidet, die in eigenen Gestellen an den Wänden hinauf zum Trocknen aufgesetzt waren, und so in der warmen Abendsonne eine goldene [416] Tapetenverkleidung bildeten. Im Dörfchen regierte tiefe Stille und wollte uns fast bedünken, als wenn alles fort wäre, um so mehr als wir auch im Wirthshause die Thüre verschlossen fanden. Doch gelang es uns durch die Scheune einzudringen und auf diesem Wege endlich auch die Wirthin zu erschreien, die im Speicher mit ihren Vorräthen beschäftigt war. Sie sprach deutsch, wie es die Grödnerinnen sprechen, d. h. immer mit einem wälschen Rückhalte und mit großem Anstoß am R. Es wurde ihr eröffnet, daß wir geschwind noch grödnerisch zu lernen gedächten ehe wir ins Thal hinunterstiegen und über diese Absicht, so wie über die Eilfertigkeit, mit welcher wir sie betrieben, fing sie herzlich zu lachen an. Wir blieben gleichwohl fest bei unserm Vorsatze und hielten fürs Beste uns zuerst mit ihrer Bibliothek bekannt zu machen. Wir fragten also, ob sie keine grödnerischen Bücher habe, was sie freundlich bejahte. Sie ging darauf an einen hübschen Schrank und holte ein schönes Buch heraus in schwarzen Saffian mit goldenem Schnitt gebunden. Dieß schlugen wir hastig auf, fanden aber nichts anders, als ein italienisches Gebetbuch, gedruckt zu Trient oder Bassano. Ja, habt ihr denn nicht etwa ein grödnerisches Buch, ein Buch in der Sprache von Gröden? Nein, sagte sie, anders kann man unsre Sprache nicht drucken, als so wie da – mit welchen Worten sie eigentlich ganz in ihrem Rechte war. Nachdem also auf diesem Wege nichts zu erreichen, so versuchten wir’s auf mündlichem und baten sie, uns das Vater Unser zu dictiren. Auch dieß that sie mit großer Bereitwilligkeit, aber wir hörten schon an den ersten Worten, daß hier zu Lande das Gebet des Herrn in italienischer Sprache verrichtet werde und ersparten uns die Mühe es nachzuschreiben. Dagegen fragten wir die Frau, ob sie denn nicht auch grödnerisch zu beten wisse, sie aber antwortete, das grödnerische Vater Unser sey längst abgeschafft und nur einige alte Männer führten’s noch im Munde, die andern beten es alle „klugwälsch.“ *)[1]
[417] Wir sprachen so einige Zeit hin und her ohne sonderliche Ergebnisse für unsre Wißbegierde, bis ihr plötzlich ein Gedanke kam, der unserm Unternehmen sehr förderlich war. Sie lief nämlich in ein Nachbarhaus und brachte einen Jungen mit, einen gescheidt aussehenden Jungen von etwa vierzehn Jahren, mit Namen Johann N. N., den sie uns mit den Worten vorstellte: der kann euch lehren die Sprach’ von Gardena besser als ich. Und in der That war der Knabe dem Geschäfte sehr gewachsen, da er ein Pufelser von Geburt, bei Verwandten in Bozen des Schulbesuchs wegen sich aufhielt, gegenwärtig nur zur Sommerfrische im Geburtsort verweilend, der deutschen Sprache vollkommen mächtig und in grammatischen Dingen wenigstens so weit erfahren war, daß man ihm nicht zu erklären brauchte, was unter Geschlecht und Beugung, unter Gegenwart und halbvergangener Zeit zu verstehen sey. Johann N. N., unser Lehrer, setzte sich also auf einen Stuhl, dem gegenüber wir ein Seidel Wein für ihn aufstellen ließen und somit begannen die Forschungen in der Sprache von Gardena. *)[2]
Unser ernsthaftes Geschäft wurde sehr heiter und unter vielem Lachen betrieben. Der Junge so gut als die Wirthin war Anfangs der Meinung, es liefe alles nur auf einen Spaß hinaus, da sie bis dahin noch von keinem vernünftigen Menschen gehört, der sich im Ernst mit der Grödnersprache beschäftigt hätte. Und wenn’s ihnen schon lustig vorkam, daß wir uns mit diesem Wälsch einen Spaß machen wollten, so schien es ihnen fast noch komischer, als sie sahen, daß es der bitterste Ernst sey. Auch kam es vor, daß wir zu lachen anfingen, wenn der Junge eben aufgehört hatte, denn da er nur das Deutsche schulgerecht zu behandeln wußte, aber das Grödnerische nie von dieser Seite betrachtet hatte, so dünkten [418] ihm oft die einfachsten Dinge räthselhaft und manchmal übersetzte er das, was wir ihm vorgesagt, ganz fehlerhaft, so daß wir selbst als seine Verbesserer auftreten mußten, was ihn öfter ganz verblüfft machte. Indessen kam ihm bald eine Hülfe und uns, da wir den Blick für alles Schöne offen hielten, eine angenehme Augenweide. Wir hatten, nämlich kaum eine Viertelstunde miteinander gearbeitet, als des Knaben Schwester hereintrat, ein Mädchen von sechzehn Jahren und von schöner Gestalt, mit römischem Gesichtsschnitte und feurigen Augen. Sie trug das Köpfchen unverhüllt und die reichen schwarzen Haare waren nach der Landesart in Flechten um die Stirne und Schläfe gelegt, ein zierlicher Reif um das ernste liebliche Gesicht. Ihr Eintritt unterbrach die Forschungen auf eine kleine Weile, aber da wir bemerkten, daß sie darüber roth wurde, fuhren wir wieder emsig fort. Auch dauerte es nicht lange, bis sie näher kam und sich hinter den Stuhl ihres Brudes stellte und abermals über eine kleine Weile fing sie selbst mit an sprachzuforschen. Sie war in Meran in die Schule gegangen, hatte dort etwas deutsche Bildung genossen und zeigte sich bald nicht weniger lehrreich, als ihr Bruder. Insbesondere nahm sie sich des weiblichen Geschlechtes an, das der andere bisher gar nicht berücksichtigt hatte, ja ich glaube, daß gerade diese Vernachlässigung sie gereizt und getrieben hat, sich in der Linguistik zu versuchen. Wir hatten nämlich eben gefragt: Was heißt ich bin gegangen – und darauf hatte Johann geantwortet: ie son git. In diesem Augenblicke aber öffnete sie ihren lieblichen Mund und ließ zum erstenmale ihre süße Stimme erklingen und sagte in schüchterner Weise ergänzend: Und wenn’s ein Weibsbild ischt, so sagt sie: ie son gita.
Nach ein paar Stunden schlossen wir die Untersuchungen, da es Abend werden wollte und noch etwa eine Stunde nach St. Ulrich, dem Grödner Hauptort, vor uns lag. Nachdem wir allen dreien für ihre Bemühungen herzlich Dank gesagt hatten, eilten wir bergabwärts. Oben indessen hatten wir auch gelernt, wie es auf ladinisch lautet; wenn man fragt: wie weit ist es nach St. Ulrich. Dieß heißt also: Dang longsch [419] ie’l pa da tlo fin a Urteschei. Urteschei (Urticotum) ist nämlich der grödnerische Name von St. Ulrich. Diese Phrase übten wir so lange ein, bis wir sie mit voller Geläufigkeit zu Tage bringen konnten. Wir freuten uns aufrichtig als wir alle Schwierigkeiten überwunden hatten, und nahmen uns auch gleich vor, sie bei erster Gelegenheit zu benützen.
Wir waren also kaum etliche hundert Schritte von Pufels entfernt und hatten eben eine zahlreiche Familie bemerkt, die weit drinnen im Felde mit der Gerstenernte beschäftigt war, als wir beide zu gleicher Zeit über die Stoppeln hinriefen: Dang longsch ie’l pa da tlo fin a Urteschei? Kaum waren die rauschenden Worte erklungen, als sich Vater und Mutter und die Kinder, so wie auch die Knechte und die Mägde schleunigst aufrichteten und uns sprachlos anstarrten. Hierauf wiederholten wir den Ruf; aber nunmehr, da sie gewahrt hatten daß wir landesfremde Wanderer seyen, brachen sie alle in ein schallendes Gelächter aus und schrien uns verschiedene Sachen zu, die wir sämmtlich nicht verstanden. Wir ließen uns indessen durch diese Begegnung nicht abschrecken, sondern machten vielmehr gleich wieder einen neuen Versuch. Da traf es sich nämlich, daß wir an einer jähen Halde hinschritten und unter uns im Gerstenfelde einen Mann bemerkten, der gerade langsam gegen uns herauf stieg und eine breite Garbe über dem Haupte trug, so daß er uns nicht ersehen konnte. Wir riefen also wieder: Dang longsch ie’l pa da tlo fin a Urteschei? worauf er laut und vernehmlich sprach: mezza ora. Diesen hatten wir also wirklich berückt und dadurch fanden wir uns reich belohnt für die kurze Mühe, die wir auf die Erlernung des Grödnerischen gewendet hatten; ließen uns auch nicht irre machen, als der Mann bald darauf den Steig betretend, seine Last von sich warf und uns nachrief, er wisse doch daß wir keine Grödner seyen.
Ein Jahr lang hatte ich den Spruch im Kopfe behalten, und als ich zum zweitenmale über Castelrutt ins Grödnerthal ging, und beim Weiler Rungaditsch vorüber kam, fiel er mir wieder ein. Damals sah ich im Vorbeigehen einen Knecht hinten im Heustadel stehen und rief zu deutsch: Wie weit noch [420] nach St. Ulrich? Der Knecht in seinem grödnerischen Hochmuth aber that, als verstände er nichts und arbeitete lautlos fort. Dadurch empfindlich sann ich auf Rache, und als ich noch ein paar Schritte gemacht hatte und das Stadelthor mich verdeckte, rief ich laut: Dang longsch ie’l pa tlo fin a Urteschei? worauf der Knecht wie ein angeschossener Keuler herausstürzte, weil er’s für Teufelsspuk hielt, daß der fremde Pilger, der so eben vorüber gezogen, in der Zunge von Gröden rede. Als er mich nun aber voll stummen Erstaunens betrachtete, sagte ich: Gehe nur wieder hinein, o Knecht, und da du Deutsch verstehst, so warte künftig nicht mehr, bis dich die Fremden in der Sprache von Gröden anreden, welche im gelehrten Deutschland Niemand erlernen kann, weil alle literarischen Hülfsmittel, insbesondere Grammatik und Wörterbücher vollkommen fehlen. – Da der Knecht aus dieser Rede nicht klug werden konnte, so zog er sich ohne ein Wort zu sagen wieder in seinen Heustadel zurück.
O du liebes, kleines, herziges, vielgeschmeicheltes doch unverdorbenes Thal von Gröden, was siehst du so freundlich aus im Abendsonnenstrahl! Weiße kleine Häuschen mit goldenen Fensterchen und weiße große Häuser mit goldenen Fenstern hockten so heimlich auf den grünen Halden herum und zwischen den Wiesen selbst reiften wieder goldene Kornfelder. Und zwischen Wiesen und Kornfeldern rauschte der Bach und über dem Bach, über Häusern, Wiesen und Kornfeldern dunkelte der Wald, und über dem finstern Wald und über der Freundlichkeit des Thales dräuten, obwohl jetzt rosenfarb angeschienen, deine geisterfarben gespenstischen Schrofen, die ja einmal insgesammt vor langen Tagen glühend aus der Erde gefahren seyn sollen. Jetzt sind sie zwar schon seit geraumer Zeit wieder kalt geworden und es verbrennt sich keiner mehr den Finger daran, aber noch stehen sie da wie dazumal und züngeln titanisch-keck gegen den Himmel und strecken ihre erstarrten Nadeln wie zischend in den Aether.
Also angelächelt und angeschauert zogen wir durch eine tiefe Schlucht hinab ins große Dorf der Schnitzler, an dessen ersten Häusern uns ein alter, blinder Bettler auf spanisch um [421] eine Gabe ansprach. Während wir uns darüber verwunderten, begann er englisch zu reden; als wir ihm in diese Sprache folgten, flüchtete er sich ins Französische und aus der Langued’oui ins Italienische und zuletzt sprach er holländisch und deutsch. Das hatte er alles auf seinen Fahrten gelernt, die er in bessern Jahren als Kriegsmann gethan haben wollte. Nicht alle Grödner werden reich in der Fremde und der arme Mann scheint’s nie gewesen zu seyn. Jetzt einmal saß er gerade gegenüber einem hohen Hause, das ein anderer Grödner erbaut hat, der vor einigen Jahren mit Hunderttausenden von Thalern aus Valencia, aus demselben Lande zurückgekehrt ist, in dessen Mundart der arme Lazarus am Wege von den Fremden Almosen heischt.
In St. Ulrich war indessen am Matthäustage den 21 September 1843 großer Markt und Ehehaftstheiding, welch’ letzteres sagen will, daß eine Commission vom k. k. Landgericht zu Castelrutt anwesend war, um die Geschäfte der freiwilligen Gerichtsbarkeit am Orte selbst abzuthun. Dieß Ehehaftstheiding hatte seinen Sitz im Wirthshause zum Rössel aufgeschlagen und arbeitete stets bedrängt von Bauern bis in die Nacht hinein, so daß wir gar keinen der Beamten zu Gesicht bekamen.
Der Markt hatte viele Leute zusammengeführt und im Rössel-Wirthshaus waren alle Bänke voll zechender Grödner, welche viele schweinerne Rippchen und geräucherte Schnitze aus der Küche an sich zogen, und überhaupt viel aufgehen ließen, was den jungen Wirthsleuten schöne Hoffnung für die Zukunft zu geben schien.
Die jungen Wirthsleute bestanden aus einem Grödner und einer Klausnerin, worunter man jedoch nicht etwa ein einsiedlerisches Frauenbild, sondern eine Tochter des kleinen Städtchens Klausen, welches draußen am Eisack liegt, verstehen wolle. Er war ein hübscher junger Mann, der aber seine Wanderjahre zumeist in Italien verlebt hatte und nur gebrochen deutsch sprach, sie war eine schöne Frau, die aber kein Grödnerisch verstand, auch nicht italienisch. Daher mußte auch ihr Gatte alles deutsch mit ihr verhandeln. Es mag eine wehmüthige Empfindung seyn für einen liebenden Ehewirth, [422] wenn er alle die süßen Gefühle der Flitterwochen, die so beredt in seinem Herzen liegen, seiner jungen Gattin nur radebrechend zu erkennen geben kann, so daß sie immer doppelt lächeln muß, einmal selig über den Ausdruck seines liebenden Innern und zugleich auch spöttisch über die jämmerlichen Schnitzer, die in seinen Ergießungen mit aufsprudeln. Die Anwesenden waren übrigens sämmtlich in Feiertagskleidern. Die Tracht der Männer ist nahezu städtisch; die Tracht der Mädchen wenig unterschieden von der am Lande, nur in der Fatzelhaube liegt ein Merkzeichen, denn draußen sieht sie einem Zuckerhute ähnlich, hier aber einer langgezogenen Birne. Sie ist dunkelblau und oben darauf liebäugelt ein hellblauseidenes Schleifchen. Alles sprach grödnerisch, wie sich von selbst versteht, bis auf ein paar fremde Viehhändler, die zum Markte hereingekommen waren.
Die Bildschnitzerei die in diesem stillen Thale viele Jahre lang in größter Heimlichkeit verübt wurde, ist nunmehr eine weltbekannte Sache und wer jetzt den Namen Gröden hört, denkt wohl auch unwillkürlich an geschnitzte Pudel, an liebenswürdige Puppen und fröhliche Hanswurste. Die ersten verlässigen und ausführlichen Nachrichten über die Beschaffenheit des Bergländchens und die Betriebsamkeit seiner Einwohner gab J. Steiner, der Pfleger zu Castelrutt, im zweiten Bande des Sammlers für Geschichte und Statistik von Tirol, der 1807 zu Innsbruck erschien. Diese Mittheilungen sind die Grundlage für alle Anderen geworden, die seitdem über das Grödnerthal geschrieben und nach diesem Herkommen erlauben auch wir uns daraus zu nehmen, was für unsern Zweck ersprießlich scheint.
Vor allem ist also zu wissen, daß der Urheber der Bildschnitzerei in Gröden „und so der größte Wohlthäter seines vaterländischen Thales“ Johann de Mez zu Schuaut bei St. Ulrich geboren wurde. Im Jahre 1703 fing er der Erste an, Bilderrahmen zu schnitzen, und da er mit dem Verdienst zufrieden, richtete er auch seine Söhne und andere junge Leute dazu ab. Die ersten Erzeugnisse dieses Kunstbetriebs waren einfache, halbovale Stäbe, wie sie noch an alten Kupferstichen [423] zu gewahren sind. Allmählich wurden sie etwas verfeinert und nach dem Geschmack der Zeit mit Laub und Muscheln geziert. Als endlich auch dieses Schönste, was bis dahin geleistet worden, aus der Mode kam und den Absatz verlor, begann man Figuren zu Weihnachts-Krippen, Crucifixe, Heiligenbilder und allerlei Spielzeug für Kinder zu schnitzen. Die ersten die dieß versuchten waren die Brüder Martin und Dominik Vinazer, welche zu Venedig einigen Unterricht im Zeichnen genommen hatten und nach ihrer Zurückkunft jene höhere Schnitzerei in Aufnahme brachten.
Nun gewann der Erwerb bald einen weitern Schwung und ungefähr um die Mitte des vorigen Jahrhunderts verbreitete sich die Bildschnitzerei in alle Gemeinden von Gröden. Die Zahl der Schnitzer vermehrte sich in steigender Zunahme und im Jahre 1807 zählte deren Steiner gegen dreihundert. Zu Ammergau im bayerischen Gebirge an der Straße von Partenkirchen nach Schongau, wo derselbe Erwerbzweig schon früher blühte, hörten es gleichwohl die Leute mit Schrecken, daß weit drinnen in Tirol, in einem stillen Thal bei wälschen Hirten die gleiche Liebe zur Holzbildnerei auflebte, und so machten sie sich alsbald auf den Weg und kamen ängstlich hereingewandert, kauften die fertigen Schnitzwaaren auf und machten neue Bestellungen, um sich so wenigstens den Vertrieb zu sichern. Dieß währte indessen nicht lange, denn die Kunst in Gardena verspürte bald, daß sie auf diese Art den größern Theil des Gewinns aus den Händen lasse, und unternahm daher lieber selbst den Versuch, ihre Erzeugnisse im Auslande abzusetzen. Einige, und es waren meist junge, rührige Leute, rüsteten sich und gingen nach Italien, andere zogen nach Spanien und es gelang so gut, daß fast alle diese armen Händler reiche Kaufherren wurden. Und als sie so weit waren, dünkte es sie Verzagtheit, mit ihren Puppen und Hanswursten innerhalb der Säulen des Hercules stehen zu bleiben. In den siebenziger Jahren des letzten Jahrhunderts ließ sich Peter Wellponer in Mexico nieder und später begaben sich andere sogar nach Neu-York und Philadelphia.
[424] Aber die Schnitzwaarenhändler hatten bei ihrer Umsicht im Laufe der Zeit ersehen, daß sich auch in andern Artikeln durch Fleiß und Betriebsamkeit viel gewinnen lasse, und so handelten sie denn bald in allem, was etwas einzubringen versprach. Anfangs hatte dieser erweiterte Verkehr wenig Einfluß auf ihre Verhältnisse zur Heimath, denn die wandernden Hausirer hielten noch lange für gut, von Zeit zu Zeit ins Thal zurückzukehren, und wenn sie im Alter von ihren Land- und Meerfahrten auszuruhen gedachten, so setzten sie sich an den häuslichen Herd auf den Fluren von Gardena und kauften dort die kleinen Landgüter, die wegen der großen Nachfrage auf ungeheure Preise stiegen. Allmählich aber, je mehr sich die Geschäfte ausbreiteten, zeigte sich diese Gewohnheit für den zusammenhängenden Verfolg ihrer Unternehmungen hinderlich und so kam es, daß sich immer mehrere im Auslande für beständig niederließen. So entstanden schon im fünften Jahrzehent des vorigen Jahrhunderts seßhafte Grödner Handlungen zu Pavia, zu Ancona, zu Perugia, zu Neapel und zu Lissabon, deren Häupter nur zuweilen noch in Gröden erschienen, etwa auch aus Eitelkeit, um den Nachbarn zu zeigen, wie sie zu großen Herren aufgeschossen. Die Anzahl dieser auswärtigen Firmen stieg aber in dem Maaße, daß in dem Jahre wo Pfleger Steiner schrieb, deren über einhundertundfünfzig gezählt wurden, die sich in Deutschland, in den Niederlanden, in Italien, Spanien, Portugal und in Amerika aufgethan hatten; ja Steiner bemerkt sogar, das Verzeichniß sey keineswegs vollständig, weil darin mehrere Häuser übergangen, die ehemals in Frankreich geblüht, aber mit dem Ausbruche der Schreckenszeit das unheimliche Land verlassen hatten. Diese Grödner Handlungen übten nun überall den löblichen Gebrauch, nur junge Leute aus der Heimath zu Gehülfen zu verwenden, die dann wieder auf eigene Rechnung sich aufthaten und abermals etliche Jünglinge von Gardena sich verschrieben. Ueberdieß galt auch die Sitte, daß ein Grödner, wo er sey, diesseits oder jenseits des atlantischen Oceans, nur eine Grödnerin heirathen dürfe, und in Anbetracht dieser Umstände äußert denn mehrerwähnter Steiner die Vermuthung, [425] daß zu seiner Zeit die Anzahl der im Heimathlande lebenden Grödner nur ein Drittel des gesammten, aus dem Thale stammenden Volkes betrage, wobei denn nicht zu übersehen, daß auch in Tirol selbst, in Städten, Märkten und Dörfern, eine beträchtliche Anzahl ursprünglich grödnerischer Firmen sich niedergelassen[WS 1] hat.
Was nun die Gegenwart betrifft, so haben sich die Verhältnisse erheblich umgestaltet und die grödnerische Propaganda ist fast ganz verkommen. Der ganze Verschleiß der Schnitzereien liegt jetzt nämlich in den Händen der wenigen Verleger, die alle handelsmäßige Vermittlung mit den auswärtigen Kunden besorgen, während die übrigen zu Hause bleiben. Etliche von diesen Verlegern sind wohlhabende Leute und gehen mit der Zeit voran; sie haben in der Jugend tüchtige Schulbildung genossen und mit den Jahren verschiedene Sprachen gelernt, stehen daher ihren Geschäften mit aller Weisheit vor und bestreben sich, sie so schwunghaft als möglich zu betreiben. Daß dadurch die ehemals freien Schnitzer zu unfreien Fabrikarbeitern heruntergesunken und ganz und gar in die Macht ihrer Brodherren verfallen sind, liegt im natürlichen Gang der Sache. Der allgemeine Wohlstand ist daher zur Zeit sehr herabgekommen, da Schnitzeln so wenig als das nebenher geübte Spitzenklöppeln mehr zu Vermögen hilft und das Grundeigenthum wegen zu großer Bevölkerung ungemein zerstückelt ist. Die Grödner fühlen das auch wohl und wünschen die alten Zeiten zurück, wo man noch in der Jugend auf eigene Faust nach Spanien und Italien wanderte und im Alter als reicher Mercatante in die Heimath zurückkam, um den Rest der Tage in mäßigem, ruhigem Wohlleben auszuschlürfen. Diese Erscheinung ist jetzt sehr selten geworden; die auswärtigen Grödner Herren, zumal jene die schon in der Fremde geboren sind, haben wie die Lechthaler, ihr einsames Thal längst vergessen. Als Ausnahme gilt es daher, daß vor mehr als zehn Jahren jener unbekannte Mann in seinen Fünfzigen aus Spanien kam, sich durch die Sprache als Grödner auswies und ein großes Haus erbaute. Er heirathete schnurstracks ein schönes Grödner Mädchen, zeugte in aller Eile noch [426] zehn Kinder und lebt jetzt als angesehener Familienvater zu Urteschei.
Käme der Fall öfter vor, so würden wohl auch die Grödner dem nicht entgehen, was man von jenen Lechthalern sagt, die aus den Seestädten zurückkehrten, um in ihrem Geburtsort das Leben zu beschließen. Ach, sagte selbst ein Grödner, als diese frühere Sitte belobt werden wollte, was soll man von diesen Menschen denken, die da in Valencia, in Granada, in Neapel, in den schönsten Gegenden der Christenheit gelebt haben und nun ins kalte langweilige Gröden zurückkehren? Ist’s nicht räthselhaft, wenn sich einer von allen lieben Gewohnheiten losmacht, von allen Freunden und Bekannten, um nach Urteschei zu gehen, wo ihn Niemand mehr kennt, um im Alter auf einem Boden, der ihm fremd geworden, traurig und öde den Tod zu erwarten?
Eine Gefahr, die der Schnitzerei von Gröden täglich drohender gegenüber tritt, ist der Mangel an brauchbarem Werkholz. Dazu wurde ehedem ausschließlich die Zirbelkiefer, Pinus cembra, verwendet, die im Grödnerthal in großen Schlägen aufwuchs. Allmählich haben aber die fleißigen Hände ganze Wälder weggeschnitzt und erst als es zu spät war, überzeugte man sich, daß unter der Gestalt dieser kleinen Pudelchen und Pferdchen, der zierlichen Puppen und spaßhaften Hanswurste weite Forste ins Ausland gewandert waren. Jetzt ist große Noth an Holz und die jungen Waldungen die man zur Abhülfe des Mangels wieder künstlich angepflanzt, können nicht recht gedeihen, weil ihnen die Weidegerechtigkeiten immer hindernd im Wege stehen, würden auch erst bei dem langsamen Wuchs des Baumes im nächsten Jahrhundert ausgiebig zu benützen seyn. Für manche Gattung von Schnitzwerk hat man daher schon angefangen, das weniger geschmeidige Fichtenholz zu bearbeiten, allein es bleiben noch immer viele Sorten, die nur aus dem feinen Zirbelholz geschnitten werden können. Dieses wird denn also mit schwerer Mühe aus dem nächstgelegenen Enneberg oder dem Villnößerthale über die Jöcher hergeholt. Schon Steiner ahnte die kommende Gefahr und rieth durch Cultur und Schonung des [427] Zirbelbaumes bei Zeiten vorzukehren, aber seine Warnungen sind unbeachtet geblieben. Auch meint er, es würde zumal dem Oberinnthaler bei der beschränkten Ertragsfähigkeit seines Bodens sehr zu Gutem kommen, wenn er, dessen Wälder so reich an Zirbelbäumen, als Nebenverdienst gleichfalls die Schnitzerei zu Handen nehmen möchte – eine Ansicht, die man nur billigen kann, wenn man betrachtet, wie gerade den Oberinnthaler vor allen Tirolern eine Anlage zu plastischen Künsten auszeichnet. Den jährlichen Ertrag berechnet Steiner in folgender Art: Wöchentlich werden fünf Kisten Schnitzwaaren versendet und der Werth jeder Kiste kann zu 150 fl. angenommen werden; es beträgt also diese jährliche Versendung 39,000 fl. Außerdem wird noch ein Werth von 5000 fl. durch Hausirer abgesetzt und das ganze jährliche Erzeugniß mag daher auf 44,000 fl. geschätzt werden. Da sich nun aber seit 1807 der Handelsbetrieb bedeutend umgestaltet hat, so dürften auch jene Zahlen nur noch annähernde Geltung haben.
Dieses Schnitzeln also beschäftigt in Gröden Mann und Weib. Außerdem hat sich das schwächere Geschlecht noch einen eigenen Verdienst erkundschaftet, nämlich das Spitzenklöppeln, welches von jungen Mädchen, von erwachsenen Frauen und von abgelebten Weibern gleichmäßig betrieben wird. Die Waare ist etwas rauher Art und schickt sich eigentlich nur für das Tiroler Landvolk. Der jährliche Reingewinn, der aus dieser Industrie fließt, wird von Steiner auf 25,000 fl. angeschlagen; möchte aber seit jener Zeit auch wohl eher ab- als zugenommen haben.
Mit den geklöppelten Spitzen nun und mit sonstigem kleinen Zeug, was sie sich unterwegs noch beilegen, insbesondere mit übergebliebenen Resten der Bozner Lager, die ihnen gerne zu mindern Preisen überlassen werden, gehen nun die frommen Grödner Mädchen mutterseelenallein über Berg und Thal im Lande Tirol herum und treiben Handelschaft. Schön wie sie sind haben sie die Männer für sich, und ihr keuscher, ehrenhafter Lebenswandel gewinnt ihnen auch das Zutrauen und die Neigung der Frauen. Dabei haben sie gerade so viele erlaubte Schlauheit, so viel liebliche Geschwätzigkeit und so viele [428] bescheidene Aufdringlichkeit, als zu ihrer Handelschaft nöthig ist. Manche sammeln sich mit der Zeit ein kleines Vermögen, ziehen in die Heimath und vermählen sich da nach ihrer Wahl; andere aber und deren Anzahl ist auch nicht gering, erreicht der Liebesgott auf dem Wege. Ja, manche junge Grödnerin hält oft plötzlich ein junger Mann vom Weiterziehen ab, indem er ihr auf die treuen Augen hin seine Hand reicht, zärtlich bittend, sie möge von ihren Irrfahrten abstehen und lieber sein häuslich Ehebett bereiten. Daher findet man denn weit zerstreut, in deutschen und wälschen Thälern die Frauen von Gröden als Wirthinnen oder Krämerinnen, fast immer in hohem Ansehen. „Sie ist eine Grödnerin“ hört man oft von Stadt- und Landleuten mit einem Ausdruck sagen, als enthalte dieses Wort alles, was sich von Treue, Ehrenhaftigkeit und löblichem Wesen einer Hausfrau berichten läßt. Nicht ganz so hoch stellt der deutsche Nachbar die Männer von Gröden. Er läßt ihnen zwar die Ehre des Fleißes, der Sparsamkeit, der Anlage für Handelschaft, behauptet aber, in allem andern, was nicht in diese einschlage, sey der Grödner beschränkten Verstandes, sein Ideenkreis sehr enge, sein Bildungstrieb sehr kümmerlich. Bei solchen Urtheilen dürfen uns vielleicht die Engländer einfallen, von denen man ja auch gesagt hat, sie seyen nicht geistreich, brächten aber zu allen Dingen die sie unternehmen gerade so viel Verstand auf, als sie dazu brauchten.
Am selbigen St. Matthäustage war also Markt, aber da es schon Abend geworden, so hatte der Handelsverkehr bereits aufgehört. Auf einem freien Platze, etwas oberhalb der großen Pfarrkirche, in welcher eine Muttergottes, angeblich von Canova, da fanden wir noch einige Krämerstände, um welche sich etlich müßiges Volk drehte. Dabei war nicht viel zu beobachten und wir suchten daher eine berühmte Schnitzlerin auf, die in einer kleinen hölzernen Hütte nicht weit vom Marktplatze wohnt. Es ist eine Frau in mittleren Jahren, mit mehreren Kindern gesegnet, wahrscheinlich eine Wittwe, denn von ihrem Manne war nicht die Rede. Auf einem schmalen Tischchen lagen ein halbes hundert Schneid- und Stemmeisen [429] und dazwischen zahllose Holzpflöckchen, wovon die einen noch ganz unbearbeitet, die andern schon vorbereitlich zugeschnitten waren. Es überraschte uns, wie da mit wenigen kühnen Zügen schon das Naturell der künftigen Bestie so trefflich angedeutet war – wie der aufwartende Pudel, der schleichende Fuchs, der kampfgierige Löwe, zwar noch roh, aber doch so lebhaft sich darstellten. Auch die Auswahl war sehr groß, denn es fanden sich fast alle weltläufigen Quadrupeden, zahme und wilde, auf dem Tischchen. Wir verlangten nun einen Hund geschnitzelt zu sehen und kaum hatten wir’s ausgesprochen, als sich die Frau niedersetzte, nach einem Blöckchen griff, in dem der treue Pudel schon leibte und lebte und nun ihre Messer arbeiten ließ, immer wechselnd zwischen großen und kleinen, spitzigen und runden. Dabei begrüßte sie das der Vollendung entgegenreifende Werk mit einem leisen Monologe und lispelte in unbewußter Sprachmengerei deutsch, italienisch und grödnerisch durcheinander. Nach einigen Minuten war der Pudel fertig und kostete einen Kreuzer.
Die Frau schien übrigens mit glücklichen Anlagen begabt zu seyn, denn sie hatte erst vor vier Jahren zu schnitzeln begonnen und war darin so weit gekommen, als irgend Jemand im Thale. Und während die andern Nachbarn Jahr aus Jahr ein das Nämliche schnitzeln, ja die meisten ihr ganzes Leben nur immer dieselbe Gattung von Figuren liefern, hat sie sich neue Bahnen gebrochen und schon verschiedene gute Ideen ausgeführt. So z. B. schnitzelt sie alle Tiroler Volkstrachten, wie sie jetzt noch in alterthümlicher Pracht bei Hochzeiten erscheinen, recht nett und zierlich; färbt sie auch sehr fleißig, so daß sie höchst niedlich in die Augen fallen. Die Figürchen haben guten Absatz und deßwegen sahen wir auch gerade nur drei Muster vorhanden, die Tracht von Pusterthal, von Zillerthal und von Gröden. Ich kaufte mir einen Pusterer in seiner würdigen schwarzen Hochzeitjacke und eine Pusterin in dem faltenreichen gelben Rock und habe sie auch beide unversehrt nach Hause gebracht. Mein Brautpaar kostete mich übrigens nicht mehr als zehn Kreuzer.
[430] Lieber wäre es der Künstlerin freilich gewesen, wenn wir einen von den beiden Kaisern gekauft hätten, die sie als ihr Meisterstück vorzeigt, entweder den Kaiser Ferdinand oder den Kaiser Napoleon. Diese gehörten zu jener feinern Gattung von Schnitzereien, die mit 5–10 Gulden bezahlt werden. Es sind ungefärbte Figuren, etwa einen halben Schuh hoch, in denen die Zeichnung zwar hie und da etwas mangelhaft ist, die Ausführung jedoch in den kleinen Einzelheiten ungemein viel Fleiß und Geschick verräth. Gleichwohl hatten wir billige Zweifel, ob die Schnitzlerin der Imperatoren ihre Mühe belohnt erhalten werde; denn der eigentliche Habitus war weder beim einen noch beim andern getroffen. Napoleon hatte zu viel von Ferdinand und Ferdinand zu viel von Napoleon, ja eigentlich unterschieden sie sich nur durch die Uniform, und auch da hat der Frau für den großen Corsen nicht der Mann mit dem grauen Ueberrock und dem kleinen Hütchen vor Augen geschwebt, sondern etwa der Consul Bonaparte, wie er in der Schlacht bei Marengo[WS 2] befehligte. Das that uns alles sehr Leid, denn die Schnitzlerin glaubte in ihren Kaisern das Höchste geleistet zu haben und hoffte, sie recht theuer an den Mann zu bringen.
Von da gingen wir in ein anderes Schnitzlerhaus, wo drei alte Leute, zwei Männer und ein Weib arbeitend beisammen saßen. Das Weib, das vierundachtzig Jahre zählte, schnitzte noch rüstig und machte sehenswerthe Hunde; die beiden andern verfertigten stereotype Hähne. Alle drei hatten vom langen Schnitzlerleben tiefe Narben an den Händen, denn bei aller Gewandtheit fährt doch mancher Stich ins Fleisch, und einer von den Greisen hatte sich in frühern Jahren sogar einen Finger weggeschnitzt. Hier wie in andern Häusern, in die wir vorübergehend Blicke warfen, waren ganze Haufen solcher Spielsachen aufgeschüttet, und wie man im Obstlande zur Herbstzeit alle Räume voll Körbe siebt, in denen die rothbackigen Aepfel und die grünen Birnen und andre süße Früchte aufgestapelt worden, so standen auch hier überall die Körbe herum mit vierfüßigen Thieren, mit Vögeln, Menschen, [431] kurz mit all den kleinen Freuden, die die Wonne unsrer Kinderstuben sind.
Endlich besuchten wir auch einen der Verleger, Herr Burger, der in einem schönen freundlichen Hause Wohnung und Schnitzwaarenlager hält. Hier sahen wir, was wir bisher nur in Körben gewahrt, in ganzen Gemächern zu vielen Tausenden aufgespeichert oder auf lange Rahmen gestellt. Wir meinten, es würde wohl einige Zeit hergehen bis dieß alles unter die Kinder dieser Welt vertheilt sey, Herr Burger aber sagte, das leere sich oft in wenigen Tagen durch ein paar Versendungen und gerade in diesem Jahre sey die Nachfrage so groß, daß aller Fleiß der Schnitzler kaum hinreiche sie zu befriedigen. In einer der Vorrathskammern standen große halbmannshohe und noch höhere Heiligengestalten, die für Kirchen und Capellen geschnitzt werden. Die Taxirung dieser Figuren ist überraschend einfach. Herr Burger legt seinen Maßstab an, nimmt die Zolle ab und sagt auf der Stelle bei Groschen und Kreuzer, was der Heilige werth ist. Sie sind ziemlich wohlfeil – um etliche Kronenthaler kann man schon einen recht anständigen Schutzpatron mit nach Hause tragen. Zu bemerken ist übrigens, daß sie unbemalt sind und die Kosten für die nachgängige Malerei und Vergoldung übertreffen die der Schnitzarbeit ums Doppelte und Dreifache.
Zuletzt zeigte man uns eine Sammlung von feinen Figuren, wie die beiden Kaiser bei der Schnitzlerin waren, von jenen künstlichen Arbeiten, die gleichsam die Cabinetsstücke der Grödner Schnitzlerei ausmachen. Die einfachen Bergleute speculiren dabei auf die Sympathien aller Nationen. Für den Landsmann gibt’s hier einen Kaiser Ferdinand und Kaiser Franz, für die Engländer eine Königin Victoria, für die Franzosen einen Napoleon und Herzog von Reichstadt; den Preußen wird ein alter Fritz geboten und den auswärtigen engern Freunden des tapfern Tirolervolks ein Andreas Hofer.
Auch Pfeifenstopfer und Nadelbüchsen werden gemacht, auf deren Kuppe sich eine liebliche Sennin oder ein herzhafter Gemsenjäger oder sonst eine hübsche Figur zeigt. Alle diese Arbeiten stehen in hohem Preise und werden bis zu eilf Gulden [432] und darüber bezahlt. Die hochbüstige Königin von England mit Talar, Krone und Scepter, gerade wie ich sie das Jahr zuvor bei Herrn Lang in Ammergau gesehen, brachte mich zu der Frage, wie diese Uebereinstimmung zu erklären sey, worauf mir der Verleger sagte, die Leute von Ammergau hätten in der Erfindung etwas Weniges voraus und das, was sie neu an den Tag gefördert, werde jeweils beschickt, um hier nachgeschnitzt zu werden. Mir schien, als wenn die Grödner hinter ihren Vorbildern an Fleiß und Schönheit der Arbeit nicht zurückblieben, obgleich sie diese Nachahmungen etwas billiger ablassen.
Die Schnitzkunst in Gröden, so gut wie die der Ammergauer und der Berchtesgadener, bewegt sich übrigens noch völlig in den Traditionen des vorigen Jahrhunderts und die Ornamentik zumal hält sich ganz im Style der Zopfzeit. Denen, die sich zuerst schönerer Formen bemeistern, seyen es nun die Grödner, die Ammergauer oder die Berchtesgadener, darf man wohl unbedenklich einen weiten Vorsprung vor ihren Nebenbuhlern weissagen. Es ist kaum ohne solche Rücksicht geschehen, daß Kaiser Franz im Jahre 1821 eine Zeichnungsschule in Gröden zu errichten beschloß. Damals wurde Jacob Sotriffer von St. Ulrich, ein begabter Jüngling, nach Wien gesandt, um sich dort in den zeichnenden Künsten auszubilden. Durch Anlage und Fleiß brachte er’s dahin, daß er im Jahre 1824 wieder ins Thal zurückkehren konnte, wornach denn auch bald die Zeichnungsschule eröffnet wurde. Das gleiche Bedürfniß hat, obwohl erst vor einigen Jahren, in Ammergau zu Eröffnung einer solchen Schule geführt. Der Einfluß dieser Anstalten wird sich aber immer nur sehr allmählich bemerklich machen, da die erwachsenen Leute alle ihre Muster schon so fest im Kopfe und alle ihre Schnitte so sicher in der Hand haben, daß sie von der alten Uebung nicht mehr abzubringen sind. Eben wegen dieses handwerksmäßigen Betriebes sind denn auch aus den Schnitzern von Gröden noch keine Meister in plastischen Künsten hervorgegangen. Eine Ausnahme macht etwa die Familie Vinazer, deren Mitglieder während des vorigen [433] Jahrhunderts in Spanien und zu Wien als Bildner rühmlich aufgetreten sind.
Die Sprache der Grödner hat schon zu mancher seltsamen Hypothese Veranlassung gegeben. Freiherr von Hormayr in der Geschichte der gefürsteten Grafschaft Tirol erwähnte zuerst ausführlicher dieses Idioms, und lieferte damals auch ein Vocabular. Doch ist der Gegenstand nur erst sehr flüchtig behandelt und die angeblich grödnerischen Wörter sind nicht aus der Sprache von Gardena, sondern aus der der Abtei genommen, welche Abtei, oder nach dem Idiome des Landes Badia, jenseits der Berge im hintern Theile von Enneberg liegt. Er meint auch, selbe Sprache habe weder mit dem Deutschen, noch mit dem Italienischen eine Aehnlichkeit, während doch die Verwandtschaft mit letzterem beim ersten Blick in die Augen springt. Anziehend ist nebenbei die Nachricht, daß der Rechtsgelehrte Bartolomei aus Pergine ein ähnliches Verzeichniß grödnerischer Wörter der berühmten etruskischen Akademie zu Cortona mitgetheilt und diese in der Sprache der Grödner die alttuskische und sogar assyrische, hebräische und was sehr begreiflich sey, griechische Stammsylben zu finden geglaubt hat.
Säuberlicher ist Pfleger Steiner mit dieser Sprache umgegangen und zwar in demselben lehrreichen Aufsatze, den wir oben schon angeführt haben. Er konnte in seiner Unbefangenheit die nahe Verwandtschaft mit dem Italienischen nicht verkennen, doch gelang es ihm andrerseits auch nicht, sich der Wiederholung jener Hypothesen zu enthalten, die den Gelehrten, welche an der Tiber und in Deutschland über den räthselhaften Schriften der alten Tusker verzweifelnd saßen, eine Fata Morgana vorspiegeln, die bei näherem Herantreten lügenhaft verschwimmt. Warum, sagt er, sollten wir nicht das Völkchen der Grödner für Abkömmlinge und Ueberbleibsel des alten Volkes der Rhätier und ihre Sprache für einen freilich nicht unverdorbenen Dialekt der rhätischen Sprache halten? In dem von jeder Heerstraße abgelegenen Gröden konnte sie sich um so leichter erhalten, als dieß Thal wahrscheinlich noch nie von fremden Kriegsvölkern überzogen worden ist.
[434] Dasselbe was J. Steiner, der Pfleger von Castelruth, für die Sprache seiner ladinischen Gerichtsholden gethan, unternahm später J. Th. Haller, der gewesene Landrichter zu St. Vigil, für das Idiom der Enneberger. Seine lehrreiche, obgleich ohne tiefere linguistische Einsicht geschriebene Arbeit findet sich im sechsten und siebenten Band der Beiträge zur Geschichte, Statistik, Naturkunde und Kunst von Tirol und Vorarlberg. Der Landrichter von Enneberg verfolgt die Bahn des Pflegers von Castelruth; er findet in der Abschleifung der ladinischen Mundarten das Anzeichen eines uralten Ursprungs, glaubt daß die Enneberger und Grödner, als rhätischer Herkunft und Stammgenossenschaft, sich einer Sprache zu rühmen haben, die im Wesentlichen die Sprache ihrer Urväter, der alten Rhätier, tusko-tyrrhenischen Stammes seyn und im Alterthum vor allen Sprachen lateinischen Ursprungs den Vorzug gehabt haben dürfte.
Uebrigens muß hier erwähnt werden, daß der Wahn, die alte Sprache der Tusker lebe noch im rhätischen Hochgebirge, von Graubünden ausging. Die alte Geschichte vom Heerführer Rhätus, die bei Plinius zu lesen, wie derselbe nämlich, als die Gallier in Italien einfielen, mit den Etruskern, welche an den Ufern des Padus wohnten, flüchtig in die Alpen gezogen und so dem rhätischen Volke zu einem Anfange verholfen, diese Geschichte hat in Hohen Rhätien eine freundliche Aufnahme und fruchtbaren Boden gefunden und war dort zu jeder Zeit weit volksthümlicher als in Tirol. Viele bündnerische Adelsgeschlechter versahen sich mit Stammbäumen, die in ununterbrochener Folge auf einen etruskischen Lucumo zurückgingen; man suchte die Orte aus, die mit etrurischen Städten dem Laute nach verschwistert schienen, nannte das Idiom, das die Romanschen reden, l’ antiquissm linguaig de l’ aulta Rhaetia. hielt dieß für dieselbe Sprache, worin der tuscische Augur den Flug der Vögel deutete und „die Welt von Rom Gesetze empfing.“ Derlei Ansichten ließen denn auch ernsthafte Historiker gelten und viele Zweifler mag es seiner Zeit beschwichtigt haben, als sogar Johannes von Müller offen aussprach: die Nachkommen der Rhätier erhalten seit [435] dritthalbtausend Jahren den Grundcharakter ihrer Sprache.*)[3] Da nun die Mundarten von Gröden und Enneberg den romanischen Idiomen im Engadein und am Vorderrhein sehr ähnlich sind, so war es eine nothwendige Folge, daß von gelehrten Tirolern die Weihe ungeheuern Alterthums auch diesen Idiomen ertheilt und bei guter Gelegenheit sie eben so als ein Ueberbleibsel der alten etruskischen Sprache hervorgehoben wurden.
Je mehr sich nun in den letzten Decennien die deutschen Philologen, welche die Urgeschichte Italiens bearbeiteten, mit den etruskischen Räthseln beschäftigten, desto gespannter wurde ihre Aufmerksamkeit auf diese verschiedenen Alpensprachen, die man in langer Tradition als die Töchter, daher wohl als die Schlüssel zu jener mit sieben Schlössern verriegelten Sprache des alten Etruriens zu betrachten gewohnt war. Niebuhr ging daher, als er seine römische Geschichte schrieb, nicht achtlos an dem Ladin von Gröden vorüber, allein er bestärkte nur die alte schwindlige Ansicht. Später nahm auch Ottfried Müller mit großer Erwartung Hormayrs Geschichte Tirols zur Hand, allein die Sprache der Grödner, die er daraus kennen lernte, schien ihm nicht so fast tuskisch, als vielmehr ein französischer Jargon zu seyn. So blieb ihm nur der Wunsch, es möge die Hoffnung nicht unerfüllt bleiben, daß in irgend einem Thale Graubündens oder Tirols ein Rest der alten rhätischen Sprache entdeckt und zum Schlüssel werden könnte zur Entzifferung tuskischer Schriftdenkmäler. Bis zu seiner Zeit schien indeß noch kein Dialekt bezeichnet zu seyn, an dem man Versuche der Art mit Aussicht auf guten Erfolg anstellen dürfte. Die Hoffnung als so weit gehend ist wie uns bedünkt vernichtet; denn wenn sich auch eine kleine Anzahl jetzt noch unbestimmbarer Wörter in dem Vorrath der [436] ladinischen Mundarten findet, und wir uns daher erlauben, die Aufmerksamkeit des sprachforschenden Lesers auf das lexikalisch Fremde in jenen Idiomen zu richten, so glauben wir doch nicht, daß sich diese verlornen, vielleicht rhätischen Wasseräderchen zu einer Quelle vereinigen werden, die ein ausgiebiges Schöpfen zuließe. Andere unbekannte Idiome aber sind in den Alpen nicht mehr aufzufinden.
Weil sich die Thäler von Gröden und Enneberg gegen das deutsche Sprachgebiet hin öffnen, so wollten schon manche ihren Romanismus befremdlich finden. Wenn man für die italienischen Gegenden Südtirols das Theokritische: Δωρίσδεν δ`ἔξεστι, δοκῶ, τοῖς Δωριέεσσιν, gelten ließ, so schien man dagegen den Grödnern das Postulat zu stellen, sie hätten eigentlich von Rechtswegen deutsch zu reden und ihre Wälschheit könne also nur auf künstlichem Wege erklärt werden. Man behauptete daher, ihre Urväter seyen Flüchtlinge aus den römischen Mansionen am Eisack und im Pusterthale gewesen, die sich bei der Völkerwanderung in diese Berge gerettet, oder sie stammten von militärischen Colonien her, welche die Römer zur Verbindung jener festen Plätze in diese Thäler geführt. Uns scheint nun die eine dieser Hypothesen so unnöthig wie die andere. Als nämlich die Römer Rhätien unterjocht hatten, ließen sie sich in dem eroberten Gebirgslande in eben dem Maße nieder, wie in andern besiegten Ländern, und in wenig Jahrhunderten war ihre Sprache, wie in Spanien und Gallien, zur allgemeinen erhoben. Als die Deutschen in das Land drangen, setzten sie sich zunächst nur in der Thalsohle, an den Straßen fest, die ihre Verbindung mit Italien sichern mußten, und an diesen Heerwegen war es zuverlässig, wo auch zuerst die deutsche Sprache Wurzel faßte. Was nicht auf diesem ihrem Zuge lag, widerstand der Germanisirung gewiß noch lange Zeit, und es sind vielleicht noch keine siebenhundert Jahre, daß auf den Höhen des Brenners und an jenen die dem Eisack entlang an Brixen vorbei nach Bozen zu laufen, romanisch gesprochen wurde. Auf den Halden von Gufidaun, im Thale von Lüsen und Villnöß und an der Mündung des Grödnerthales bis hinab nach Vels geschah dieß wohl noch in bedeutend [437] jüngerer Zeit. *)[4] Nebenbei können wir uns auch auf das beziehen, was wir im Vorarlberg, im Oberinnthal und im Vintschgau von solchen Dingen gesagt. Daraus geht denn hervor, daß zu einer Zeit, wenn nicht in allen, doch in den meisten Thälern des dicht bevölkerten Rhätiens romanisch gesprochen wurde und so haben sich also die Thäler von Gröden und Enneberg, die jetzt allerdings als die äußersten Vorposten wälscher Zunge erscheinen, in jenen Jahrhunderten nicht am Rande, sondern mitten im Herzen des romanischen Sprachgebiets befunden. Demnach waren sie also auch zu besagter Zeit in durchaus gleichen Verhältnissen mit der übrigen rhätischen Bevölkerung, standen den Römern gerade so ferne oder so nahe, als diese, und deßwegen erscheinen uns denn auch alle Voraussetzungen, die sie in eine engere ausnahmsweise Beziehung zum ehemals herrschenden Volke bringen wollen, als grundlos.
[438] Unsrer Meinung nach sind also die Grödner und die Enneberger wie die Romanschen in Graubünden Abkömmlinge der alten Rhätier, welche Urahnen zu ihrer Zeit lateinisch gelernt und diese Sprache zu weiterer Verarbeitung ihren Enkeln hinterlassen haben. Daß diese damit nun nicht gerade ganz aufs Italienische hinausgekommen sind, ist auch nicht schwer zu erklären. Beide Thäler sind nämlich von den angränzenden italienischen Landschaften durch hohe Jöcher geschieden, und da diese immer wälschen Herren gehorchten, so standen jene, welche deutschen Dynasten untergeben waren, auch in keiner politischen Verbindung mit Italien. Das Deutsche aber konnte wegen der specifischen Verschiedenheit des Idioms ohnedem kein bildendes Element der Sprache werden, wenigstens nicht mehr, als es, wenn die in neuerer Zeit wieder bestrittene Ansicht sich halten läßt, überhaupt auf die Gestaltung der romanischen Sprachen gewirkt hat.
Daß viele deutsche Wörter aufgenommen worden, wie denn das Wort für die Hauptbeschäftigung des Grödners selbst ein deutsches ist, nämlich snizlé, dieß ändert nichts an der Sache. Auch darf es nicht auffallen, daß sich einzelne lateinische Wörter vorfinden, welche im Italienischen untergegangen sind, denn bekanntlich haben auch die romanischen Schriftsprachen nicht mit gleicher Wachsamkeit über dem ihnen ursprünglich anvertrauten Wörtervorrath gewaltet, so daß das Spanische und Französische manche lateinische Etyma bewahrte, welche das Italienische außer Uebung kommen ließ und umgekehrt. Manche Erscheinungen, welche Ottfried Müller veranlaßten, von einem französischen Jargon zu sprechen, kommen in den oberitalienischen Dialekten ebenfalls vor und sind überhaupt der ganzen Familie der nordromanischen Idiome eigen. *)[5]
[439] Wie ihre Sprache nun aber auch klingen mag, die Grödner lieben sie mit inniger Neigung. Es ist auch nicht nur [440] Gewohnheit, was sie ihnen werth macht, sondern die lebendige Ueberzeugung, daß sie in ihr ein großes Gut besitzen. Wir [441] haben oben erzählt, daß der Zug der Grödner, als sie zu wandern begannen, anfangs in romanische Länder ging, nach Italien und Spanien. In diesen Ländern war es, wo den rührigen Aelplern zuerst die Anschauung wurde, welch vorzügliches Idiom ihnen das Heimathsthal mit auf die Reise gegeben. In wenigen Wochen waren sie im Stande zu Neapel und zu Cadix sich verständlich zu machen und andre zu verstehen, und daher wurzelte denn auch die hohe Meinung von der Verwendbarkeit ihres seltsamen Jargons für den Handel. Außerdem lag in ihm noch die Möglichkeit, sich in fremden Ländern am offenen Zechtische Dinge mitzutheilen, die sonst Niemand verstehen sollte. Deßwegen haben sie auch fast etwas Stolz auf ihr „Krautwälsch" und wollen überhaupt zu Hause kaum eine andre Sprache aufkommen lassen; so daß deutschen [442] Frauen, welche ausnahmsweise in das Thal hinein heirathen, am Ende selbst nichts anders übrig bleibt, als mit Geduld und Ausdauer das Grödnerische zu lernen. Sie, die Grödner, machen auch gar kein Geheimniß aus dieser Vorliebe. Warum, sagte mir einer, warum sollten wir diese Sprache aufgeben und ist so gut für uns gewesen und ist noch gut, wenn wir nach Wälschland gehen und haben sie so gern! Uebrigens ist wegen der Nähe des deutschen Gebietes, durch den vielfältigen Verkehr damit, durch die geschäftlichen Beziehungen zum Landgericht in Castelruth, wo alles deutsch verhandelt wird, endlich durch die Einrichtung, daß die Kinder gewöhnlich auf ein paar Jahre zum Schulbesuche nach Klausen und Bozen geschickt werden, die erwachsenen Jungen und Mädchen aber, die bis dahin säumig gewesen, sich bei deutschen Bauern eindingen, durch all das ist unsre Sprache in dem Thale so einheimisch, daß sie besser oder schlechter fast Jedermann zu sprechen weiß, so daß vielleicht nur im innersten Orte des Thales, in St. Maria noch einzelne zu finden, die dessen unkundig sind. Wenn die Kenntniß des Deutschen ihnen die Aussicht nach Norden öffnet, so haben sie in ihrer Muttersprache den Schlüssel zum Süden und sie stehen also in der Mitte zwischen zwei fremden Gebieten zum Verständniß beider gewappnet. Allerdings machen sie sich im Italienischen bälder heimisch als im Deutschen, und daher ist es ihnen auch in der Regel geläufiger, als dieses.
Auf seltsame Weise wird in diesen Thälern der Schulunterricht betrieben. Die Kinder lernen lesen und schreiben, aber nicht ladinisch, welches ja keine Schriftsprache, sondern deutsch und italienisch. Sie werden so weit gebracht, um Texte in diesen beiden Sprachen herunterlesen und nach Angabe schreiben zu können, wissen aber nicht, was das bedeutet. Die Lehrer trachten zwar, ihnen so viel möglich von dem Verständniß beizubringen, aber wie sie selbst gestehen, hat dieß nur im Italienischen einigen Erfolg. Am meisten Sorgfalt wird billigerweise auf Verdeutlichung des Katechismus gewendet, dessen Sprache italienisch ist. Wenn nun die Jungen und Mädchen im reifern Alter in deutsches Gebiet oder nach Italien [443] wandern, so erblüht ihnen erst die Erkenntniß, warum sie so lange Jahre in der Schule gesessen. Jetzt lernen sie allmählich die Bedeutung der mannichfachen Wörter und Phrasen kennen, die ihnen etwa aus beiden Sprachen noch im Kopfe geblieben und allmählich kommen sie auch darauf, was die schönen Geschichten alle sagen wollten, die sie in den Tagen ihrer Kindheit stundenlang herunter lesen mußten.
In den Kirchen wird zumeist italienisch gepredigt; zu Zeiten aber auch deutsch. In neuerer Zeit finden sich einzelne Geistliche, welche sich bemühen, das Italienische der größern Verständlichkeit wegen zum Grödnerischen herabzuziehen oder dieses zu jenem hinaufzuheben und so predigen sie denn in einem italianisirten Gardena. Als Seelsorger werden keine deutschen Priester hier verwendet, und auch reine Italiener sind nicht ganz paßlich. Dagegen erscheinen die geistlichen Herren von Enneberg vollkommen tauglich und auch die von Buchenstein und Fassa, wo ein Dialekt gesprochen wird, der den Uebergang aus dem Ladinischen ins Italienische bildet, können sich in kurzer Zeit ganz heimisch machen. Diese vier Landschaften, Gröden, Enneberg, Buchenstein und Fassa bilden daher, so zu sagen, eine abgeschlossene geistliche Sprachprovinz, welche ihre Seelsorger ausschließlich nur aus ihren Landsleuten erhält.
Uebrigens scheint vor der besseren Einrichtung des Schulunterrichts, für welchen sich allerdings das Italienische bald als das Eingänglichere darbieten mußte, das Deutsche, wenn nicht noch mehr verbreitet, so doch diejenige Sprache gewesen zu seyn, welche man für schriftlichen Gebrauch allein anerkannte, und die Romanen in Gröden und Enneberg mögen daher ein umgekehrtes Seitenstück zu den deutschen Cimbern in den Sette Communi gebildet haben, in welch letztern, wie Schmeller sagt, sich der gemeine Mann Lesen und Schreiben nur italienisch denken kann. Es leitet zu dieser Annahme die Wahrnehmung, daß alle älteren Inschriften auf Häusern, Grabmälern etc. vom vorigen Jahrhundert an rückwärts deutsch oder lateinisch sind. Das Italienische hat sich erst in den letzten [444] Jahrzehnten gleiche Geltung errungen und eignet sich nun allmählich den Vorrang an.
Bemerken wir noch schließlich, daß jetzt die meisten Grödner Familien nicht deutsche, aber germanisirte Geschlechtsnamen führen. Nach dem ursprüglichen Gebrauch des Thales scheint man sich mittelst der Präposition de von den angestammten Höfen genannt zu haben und daher das adelige Aussehen mehrerer solcher Namen. So ist auch jener Johann de Metz, gesegneten Andenkens, der die Bildschnitzerei in Gröden eingeführt, eigentlich wohl nur ein Bauer vom Metzer Hof, und so steht’s ungefähr auch mit den de Laag, de Berto, de Suen etc. In neuerer Zeit hat man dieß vornehme de fast durchgängig aufgegeben, dafür hinten an den Namen ein deutsches er gesetzt und auch sonst noch einige Veränderungen angebracht, die dem deutschen Nachbar die Aussprache mundgerechter machen können. So sind die de Pecei (vom Tannenwald, Peceto) jetzt Pitscheider, Petscheider, Patscheider oder Bettscheider geworden, die de Larcenei (vom Lärchenwald) Lartschneider, die de Sotruf (von unter dem Bach) Sotriffen, die de Val bona (vom guten Thal) Wellponer, die al Doß (auf dem Bühel) Aldosser, und so sind auch die Peratoner, Gudauner und andere zu ihren jetzigen weltläufigen Namen gekommen.
In Enneberg ist’s so ziemlich derselbe Fall, doch machen sich die Leute daselbst auch wenig Bedenken, einen doppelten Namen zu führen, und mancher der sich in seinem Heimathsort da Saß oder da Punt nennen läßt, gibt sich, wenn er vors Landgericht kommt, für einen Steiner oder Brucker aus.
Indessen sind wir auch wieder zur Wanderschaft bereitet. Sämmtliches Rösselwirthshaus ist schon aufgestanden, ganz früh am Tage. Klausnerin und Grödner, die jungen Eheleute, machen, wie es Anfängern ziemt, bei all der guten Bedienung billige Zeche. Demnach auch wohlgewogener Abschied und auf die Bitte ein andermal, wenn man des Weges sey, wieder einzusprechen, die huldvollste Bejahung. Nach diesem greift man zum Stocke, schüttelt jede Hand, die dargeboten [445] wird und begibt sich auf den Weg ins Thal hinein über das Joch nach Kolfuschg.
Schöner, kühler Sommermorgen; thauige Mähder, freundliche Lichter in der wechselnden Thalsohle und ein Weg, der bald aufwärts, bald abwärts führt nach dem nächsten Dorf, kaum eine Stunde weit, wo aber doch wieder zugesprochen wird, um wenigstens eine flüchtige Bekanntschaft mit den Leuten von St. Christein zu machen. Im Wirthshause finden sich ein paar gesprächige Trinker, die wir aber nicht verstehen, und dann wieder eine Erscheinung wie zu Pufels auf der Höhe, nämlich die Bäckertochter von Urteschei, ein gar schönes Mädchen, hoh und hehr gewachsen wie Brunhild in den Nibelungen, mit den lieblichen Wangen von Gröden, reinlich und schmuck in dunkle Farben gekleidet. Die Jungfrau sah so gebildet und vornehm aus, als wenn sie nicht nur italienisch, sondern auch französisch sprechen könnte, trug aber einen Korb voll Brod auf dem Rücken und gebärdete sich so unschuldig und so einfach, als wenn ihr noch niemand zu wissen gethan hätte, daß sie eine grödnerische Schönheit sey. Wir richteten einige Fragen an das Mädchen, und darauf gab sie uns bescheiden und artig deutsche Antwort. Dann, nachdem die Wirthin mit dem Gelde für die Semmeln hereingekommen war und es ihr in die Hand gegeben hatte, zählte sie es nach, schob es ein und ging mit ihrem Tragkorb wieder um ein Haus weiter. Soll nach Aussage der Wirthin ein vorzügliches Mädchen seyn, brav, sittlich, gottesfürchtig und was sich sonst noch alles von einer Jungfrau rühmen läßt.
Von St. Christina gelangt man bald zum Schlosse Fischburg, das weithin scheinend in den tiefen Matten des Thales liegt. Zum Unterschied von vielen andern hat es ein sehr friedliches Aussehen, und gleicht eher einem weitläufigen Mayerhofe, als einer jener trotzigen Vesten an der Etsch. Weiter drinnen ist noch ein Dörflein, St. Maria, und links von diesem geht ein Thälchen ein zwischen himmelstürmenden Dolomiten. Darin sind an der schroffen Wand des hohen Stabiakopfes die angeklebten Trümmer der Burg von Wolkenstein zu sehen, die ehemals nur durch eine aus dem Felsen gehauene [446] Treppe zugänglich war. Hier in dem wilden verlornen Winkel des grausigen Gebirges, in dem unzugänglichen Horst steht die Burg, deren Namen so viele gefeierte Ritter und Herren trugen, und ihn im Vaterland, in deutschen und wälschen Landen bekannt machten. In ältesten Zeiten gehörte die Veste den edlen Maulrappen und von diesen ging sie im dreizehnten Jahrhundert an die Herren von Villanders über, welche ihren Namen von einem jetzt verschwundenen Schlosse ober Klausen führten. Konrad von Villanders, Burggraf zu Seben, nannte sich 1325 zuerst von Wolkenstein. Unter dieser Benennung blüht das Geschlecht noch jetzo in mehreren Zweigen. Zur Zeit Herzog Friedrichs mit der leeren Tasche hielt sich Oswald von Wolkenstein öfter selbstverbannt in dieser seiner Veste, um den Lauf der Zeiten abzuwarten. Oswald von Wolkenstein war überhaupt ein halber Grödner und im Krautwälsch erfahren wie einer, denn auf der nahen Trostburg geboren, verlebte er einen guten Theil seiner Knabenjahre unter den Bauern von Gardena. Auf seinen Ritterfahrten nach Italien, in die Provence, nach Spanien und Portugal fand er, wie es den spätern Schnitzlern ging, daß alles, was in solchen Ländern geredet werde, nichts anders sey, als ein verschieden aufgeputztes Grödnerisch. Mit dieser Sprache kam er auch in Aragonien recht gut durch und die schöne Königin scheint er gar wohl verstanden zu haben, als sie ihm mit Händlein weiß ein Ringlein in den Bart band und dazu die Worte sprach: Non may plus disligaides. *)[6] Seine Ritterzüge lassen sich wie ein Vorbild ansehen, das [447] er den Grödnern für ihre Schnitzlerfahrten aufstellte, und wenn nicht so manches Jahrhundert verronnen wäre von der Zeit, wo er aus Wälschland zurückkam, bis zu den Tagen, wo die ersten Bilderkrämer aus seinem Thale über die Apenninen gingen, so könnte man sagen, an ihn knüpfe sich die Ueberlieferung, wie gebahnte Wege der Eingeborne von Gardena jenseits der südlichen Gebirge finde.
Der Langkofel ist ein schrecklicher Fels, der seine ungeheure Dolomitenzunge so hoch gen Himmel streckt, daß euch dabei fast ein Schauer anfällt. An seinen Wänden hängt kein Grashalm, viel weniger daß da eine Gemse klettern könnte. Auf dem Haupte trägt er eine weiße Decke. So unerklimmbar er von dieser Seite dasteht, so ist ihm aber doch von hinten beizukommen und wir haben mehr als einen Grödner gefunden, der von da oben herunter in sein liebes Thal geschaut. Bis jetzt hatten wir ihn vor uns gehabt, aber nunmehr trat er zur Seite, denn wir wanderten das Grödnerjoch hinauf, jäh und steil eine lange Zeit, bis es oben in hügeligen Wiesen endet. Dort empfingen uns wieder andre Felsgebilde, die ebenso starr und schroff den breiten Wiesgrund umstanden. Eine verlassene Sennhütte stand am Wege und in ihrer Nähe etliche junge Zirbelbäume.
Nicht weit von der Sennhütte und den Zirbelbäumen war auch die Wasserscheide, wo die Bächlein sich sondern und die einen gegen Abend rinnen ins Thal von Gröden und die andern gegen Morgen in die Abtei. Da sah ich noch einmal in die Alpenlandschaft hinunter, aus der ich heraufgestiegen war, in das bilderreiche Thal von Gardena. Freilich hatten sich jetzt die Berghalden vorgezogen, um die Dörfer am tiefen Bache zu verbergen, und nur einzelne Häuser und Hütten, die auf den Höhen herumlagen, blickten noch herüber. Unter diesen aber lagen St. Maria, St. Christina und St. Ulrich, die frommen Dörfer. Was für eine stille Kraft, dachte ich, wohnt in dem alten rhäto-romanischen Volke, das aus seinen Bäumen Millionen herausschnitzelte und seinen Namen bis in die neue Welt trug! Und doch, wie bescheiden und einfach und gutmüthig und menschenfreundlich sind diese Aelpler geblieben! [448] Und während ich dieß so in Gedanken hin und her drehte, entfuhren mir wieder die unvergeßlichen Worte: Dang longsch ie’l pa da tlo fin a Urteschei.
Wer sich nun auf die andre Seite dreht, der ist auch nach dem Schlern und dem Langkofel noch überrascht, wenn er über das Thal von Abtei hinaus die blendenden gezackten Firsten des Kreuzkofels gewahrt, der an starrer Größe, an ungethümer Zerrissenheit mit allen seinen Nachbarn wetteifert. Auch auf seinen Spitzen lag ein weißer Mantel und an seinen steilen Wänden hatten sich doch einzelne schräge Schneefäden angehängt. Unten im grünen Thale aber lagen in breiten Gerstenfeldern, Kolfuschg und Corvara, zwei niedliche Dörfer, doppelt freundlich anzusehen in der fürchterlichen Bergwildniß.
Kolfuschg, das zu deutsch Schwarzenberg heißen würde (col, fusc) blieb links zur Seite liegen. Wir schritten also gegen Corvara zu, das letzte Dorf im Enneberger Land, mit weitzerstreuten guten Häusern, mit Kirche und Wirthshaus, am Rande eines Wildbaches gelegen. Die Gegend ist voll guter Alpenweiden, liegt aber zumeist bis Georgi unter dem Schnee. In der alten Kirche ist ein gothischer Altar und ein schönes altes Bild darauf, die Enthauptung der heiligen Katharina vorstellend. Der Henker, der das blutige Geschäft verrichtet, ist ein stattlicher, schlankgewachsener Kriegsmann in höchst schmucksamer altdeutscher Kleidung mit weiten Puffen an den Aermeln und um die Hüften. Als den Meister dieses Bildes nennt man bald Tizian, bald einen unbekannten Schüler Albrecht Dürers; wenn’s aber von einem der beiden seyn muß, ist’s gewiß lieber von letzterem. Die anders Denkenden, und dazu gehören die meisten Leute des Thales, behaupten aber, der venetianische Maler sey durch schlimmes Wetter auf einer Winterreise in Corvara aufgehalten worden und habe da den Einwohnern dieses Angedenken hinterlassen. Auf dem Kirchhofe zu Corvara sind lauter neuere Inschriften in italienischer Sprache; nur eine ältere aus dem vorigen Jahrhundert ist deutsch und bezeichnet das Grab eines Herrn von Prack aus einem Geschlecht, das in frühern Zeiten in Enneberg ebenso berühmt war, als die Ritter von Wolkenstein im Gröden.
[449] Dem Bache nachgehend gelangten wir nach Stern, einem Weiler, der in der Landessprache la villa heißt. Es steht das Schloß Rubatsch am Wege, ein großes, festes Haus, das ehemals mit Erkerthürmchen[WS 3] gewappnet war, in einem Umfang von ungemein hohen Mauern. Die Edlen von Rubatsch sind aber schon lange weggezogen und jetzt wohnt in den ritterlichen Gemächern ein schlichter Bauersmann mit seinem fleißigen Hauswesen. Gegenüber der Burg Rubatsch, auf der linken Seite des Weges, steht ein anderes Haus, groß und stark gebaut, ehemals ein Sitz der Kolzen, deren Stammhaus übrigens zu Abtei ist, jetzt ebenfalls in den Händen eines bäuerlichen Herrn. Ein ansehnliches gothisches Portal ziert den Bau. Im Grödnerthale hat alle Maurerei den Charakter von gestern her; die Häuser scheinen alle neu und frisch; in Enneberg aber tritt das Altdeutsche überraschend hervor und der Wanderer trifft auf mächtige Thorbogen, auf spitzbogige Fenster, auf ragende Erker, die er sich sehr verwundert, hier zu finden.
Eine halbe Stunde von Stern liegt la Muda, welcher Name ein Dörfchen bezeichnet, das vordem sechs Häuser zählend hier gelegen, aber im Jahre 1821 durch einen Bergbruch zu Grunde ging, der vom östlichen Mittelgebirge sich ablösend, Saatfelder und Waldungen mit sich führend, langsam ins Thal herniedersank, einen fünfhundert Klafter breiten Schuttdamm aufwarf, sofort auch den Gaderbach anschwellte und dadurch den Sompuntersee entstehen ließ, der aber im Raume eines Decenniums wieder verlief.
Unterdessen ist schon lange der schöne spitze Kirchenthurm von St. Leonhard aufgetaucht und um ihn herum zeigen sich gute dreistöckige Häuser, auf grünen Auen zerstreut. Diese, von vielen Wasserrissen durchschnitten, ziehen in mannichfaltigen Hebungen an den Halden hinauf, die ein ehemaliger Bergbruch sind. Die Gebäude verrathen vielen Wohlstand, und wenn die Badioten arm sind, wie kaum zu läugnen, so lassen sie dieß wenigstens an ihren Häusern nicht vermerken. Allmählich hatten wir die ersten erreicht und bald setzten wir [450] uns bei Herrn Johann Franz Dapunt im Wirthshause jenseits der Kirche zur Rast.
Wir sind also in St. Leonhard oder wie man in der Thalsprache sagt Badia. Diesem wälschen Namen entspricht denn wieder auch ein deutscher, nämlich Abtei, welcher von einem ehemaligen Stifte der Templer herstammen soll. Uebrigens gilt der Name Badia im gewöhnlichen Gebrauche für das ganze innere Thal, etwa von der Pontatscher Schlucht angefangen, und die Einwohner dieser Landschaft heißen daher auch Badioten. Sie sind große Viehzüchter und die Gemeinde Abtei verkauft jährlich allein an fünfhundert Stücke Zuchtvieh. Hoch wird der Fleiß und die Aufmerksamkeit gerühmt, die der Landmann diesem Erwerbzweige schenkt. In seinen Ställen soll eine Reinlichkeit und Ordnung herrschen, wie man sie in seinen Stuben umsonst sucht, und die Sorgfalt für sein Vieh soll jene für sein menschliches Hauswesen weit überbieten. Was die andern Eigenschaften der Badioten und der Enneberger insgesammt betrifft, so zeichnen sie sich nach den Erfahrungen der Landeskundigen durch ungemeine Gutmüthigkeit, Geduld und Genügsamkeit aus. So arbeitsam und sparsam wie der Enneberger, sagt Hr. J. Th. Haller, ihr gewesener Landrichter, so duldend und zufrieden, so fromm und sittlich, so voll Zutrauen und Achtung gegen Seelsorger und Obrigkeit, so offen für Belehrung und bereit zum Gehorsame dürfte der Landmann nicht leicht anderswo wieder zu finden seyn. Freilich ist schwer zu errathen, wie damit Proceßsucht, Mißtrauen und Mangel an Gemeinsinn zu vereinigen, was ihnen doch auch in bewährten Büchern vorgeworfen wird. In den Familien waltet patriarchalisches Leben. Vater, Söhne und Schwiegertöchter mit zahlreichen Geschwistern und Kindern theilen friedlich Tisch und Wohnung. Seine heimathliche Sittlichkeit und Ordnungsliebe verläßt den Enneberger auch nicht, wenn er auswärts als Dienstbote oder im Heere dient; er ist eben so treu im Gesinde als brav im Kriegsdienste. Jenes milde, sanfte, fast süße Wesen habe ich zu allererst an dem guten Wirthe von St. Leonhard, dem genannten Herrn Dapunt, für mich abgenommen und zwar schon das einemal, als ich im Jahre [451] 1842 des Weges kam. Damals hatte er gerade einen reisigen Schuhmacher und andre Arbeit im Hause, ließ sich aber dadurch nicht hindern, recht freundlich und leutselig zu seyn, während die Wirthin und die Magd daneben mit Krapfenbacken für die Kirchweih beschäftigt waren und Topfen wie Spinat in die weichen Fladen legten. Diesesmal dagegen erschien der sanfte Wirth mit seinem singenden Vortrag sehr trübe gestimmt und als wir im Abenddunkel in die reinliche Stube getreten, begann er noch, ehe das Licht erschien, mit folgenden Worten zu sprechen: „Ach, heut bin ich so traurig! die Pusterer haben mir zwei Vettern erschlagen.“ Dieß war wenigstens zur Hälfte wahr, denn am Tage zuvor, nämlich an St. Matthäus, des Apostels Fest, hatte es im Wirthshaus zu Saalen, welches am Ende des Thales liegt, schlimme Händel gegeben zwischen den deutschen Pusterern und den wälschen Söhnen von Enneberg. Zwei der Letztern hatten vor allen den Nachbarn in Schimpf und Ernst viel zu tragen gegeben. Die Pusterer aber, nach badiotischer Angabe ihrer fünf oder sechs, liefen den beiden, als sie heimwärts gingen, den Weg ab, überfielen und schlugen sie, bis sie für todt liegen blieben. Der eine, ein hübscher fröhlicher Junge, der die Zither lieblich schlagen und dazu schöne Lieder singen konnte, der kam auch nimmer zum Leben, der andere aber erholte sich langsam wieder und wurde gerettet. Dieß ist ungefähr die Geschichte, die im Herbste des Jahres 1843 großen Eindruck im Pusterthale machte und mit verschiedenen Zusätzen und Abänderungen, je nachdem ein Deutscher oder ein Wälscher sie erzählte, vielfältig besprochen wurde. Es war leicht zu bemerken, daß sie Stammsache geworden und daß die Beurtheilung derselben von nationalen Antipathien nicht frei blieb. Die Enneberger sahen darin einen neuen Beweis des wilden feindlichen Sinnes der Pusterer, wußten nur Gutes und Treffliches von den zwei Landleuten zu sagen, und hatten keine Entschuldigung für das gräßliche Verbrechen; die deutschen Bauern an der Rienz aber meinten, es sey nicht so arg, da die beiden Ueberfallenen dieselben zwei zänkischen Wälschen gewesen, die in ihrem Uebermuthe schon so viele Händel angestiftet und überall gerne [452] mitgehalten, wo es zu Stößen gekommen. Nur die deutschen Mädchen gedachten mit Schmerz und Wehmuth des einen der Jungen, der so „fein“ gewesen, die Zither so schön zu spielen gewußt und so liebliche Lieder gesungen.
Es ist bekannt, daß sich an die gewaltigen Bergriesen der Thäler von Enneberg und Fassa jene ungestaltenden Bewegungen knüpfen, welche die Geologie in den letzten fünfzig Jahren zu einer neuen Wissenschaft gemacht. Hier pilgerte einst Leopold von Buch mit Hammer und Tasche herum und nannte seiner ungeahnten Ausbeute froh, diese Thäler den Schlüssel zur neuern Geognosie. Seitdem sind diese Wildnissen der Wallfahrtsort für alle geworden, die die Geschichte des Erdballs in seinen Gebilden studiren, und in dieser Wissenschaft sind die Thäler, die wir genannt, zu einem Ruhm und Ansehen gekommen, die ihnen kein andrer Erdenwinkel streitig machen kann. Wenn wir bei dieser Glorie nicht weiter verweilen, so geschieht es, weil denjenigen, welche sich darum kümmern, nur von Fachgelehrten etwas Neues gesagt werden kann, wir aber nicht zu den Adepten gehören. Ebenso bekannt ist es ferner, daß die Landschaft von Badia in ihren Eingeweiden außer einer Menge anderer seltener Mineralien einen Reichthum schöner kleiner Versteinerungen „von wunderbarer, allen Gesetzen der bisherigen Petrefactenkunde spottender Eigenthümlichkeit“ enthält. Es ist auch hier wieder ein wundervoller Zug der unerschöpflichen Natur des Landes, die, so wild und schauerlich sie in ihrem Zorn, doch ewig beflissen ist, den armen Menschen zu Hülfe zu kommen und ihnen neue Quellen des Wohlstandes zu öffnen, die dort, wenn der Bergsegen versiegt, Heilwasser auffinden läßt, hier statt der Zirbelbäume die Pectiniten[WS 4] und Ammoniten[WS 5] zu Ehren bringt. Es war des Wunders genug für die ungelehrten Badioten, als der Zug der Fremden ins Thal hereinbrach und nach jenen steinernen Dingerchen zu fragen begann, die sie bisher auf ihren Bergfahrten achtlos hatten am Wege gesehen, und als dann diese Fremden über solchen Tand sich des Entzückens nicht erwehren konnten und nicht anders thaten, als wenn sie diese Seltenheiten gern mit Gold hätten aufwiegen wollen, [453] falls sie ihnen nicht eher schon von den gutherzigen Aelplern geschenkt worden wären. Auch jetzt noch wissen diese sich nicht ganz in die Sache zu schicken und haben fortwährend ihre geheimen Zweifel an der Vernünftigkeit der Leute „die die Steine aufklauben und das Geld verwerfen.“ So hat sich denn im Zusammenspiele des Verdachts über den gesunden Menschenverstand der Petrefactenfänger[WS 6], der nichts desto weniger aufblühenden Ahnung einer innern, mystischen, dem Auge der Eingeborenen unsichtbaren Kostbarkeit dieses scheinbaren Trödels, ferner der Voraussetzung großer Reichthümer auf Seite der wißbegierigen Pilger ein seltsamer Handelsbetrieb gebildet, der allerdings zu ungeschlacht ist, als daß er so sich lange halten könnte. Die einheimischen Sammler gehen nämlich in die Berge von Campill und St. Cassian, wo die Versteinerungen oder Curretsch, wie sie in der Thalsprache heißen, in unzählbarer Menge zu finden sind, füllen einen Zuber davon und bringen ihn mühsam nach Hause. Nun ist’s begreiflich, daß sie das kostbare Kleinod, das der Liebhaber einem Edelsteine gleich schätzt, von den alltäglichsten Erscheinungen nicht unterscheiden können, und da sie gleichwohl schon erfahren, daß nicht eines ist wie das andere, und überdieß auch schon gehört haben, daß mancher listige Reisende an den eingehandelten Schätzen in der Welt draußen das Hundertfache gewonnen, da ihnen alles dieß vor Augen steht und den Kopf verwirrt, so sind sie mit ihrem Thesaurus in großer Verlegenheit. Es ist immer die bange Furcht vorhanden, der fremde Kenner möchte ihnen die schönsten Stücke mit arglistiger Ruhe und Gleichgültigkeit herausnehmen, sie mit etlichen Groschen zufrieden stellen, und dann nichts überbleiben, als ausgesuchte, werthlose Waare. Um dieß zu verhindern und um sich also mit den guten Exemplaren auch die werthlosen bezahlen zu lassen, sind sie nun auf den Ausweg verfallen, ganze Zuber in Bausch und Bogen zum Verkaufe auszubieten, und dafür verlangen sie fünfzig bis achtzig Gulden Conventions-Münze.
Diese kunstlose Praxis hätte aber die einfachen Steinklauber von St. Leonhard leicht in sehr schlimmen Leumund bringen können, da sie dieselbe auch an Herrn A. Petzholdt, [454] dem reisenden Geognosten aus Sachsen, zu üben wagten. Es hält schwer zu sagen, schreibt er in den Beiträgen zur Geognosie von Tirol, den Gang von Picolein herauf nach St. Leonhard schildernd, was wir mehr bewunderten, ob die Größe, die Schroffheit, die wilde Zerreißung, die völlige Entblößung von aller Vegetation, oder die blendende, lichte Farbe dieser Dolomite, die von der Sonne glänzend beschienen, gegen den tiefblauen Himmel wunderbar abstachen. In ehrfurchtsvoller Scheu schritten wir voran, nicht ahnend, daß wälsche Heimtücke uns in diesen abgeschiedenen Thälern verletzend entgegentreten würde.
Aber noch am selben Tage, als man bei Herrn Dapunt wohl zwei Stunden lang anhaltend mit der Auswahl von Petrefacten beschäftigt gewesen und schon das Einpacken der ausgesuchten Dinge, die etliche Loth wiegen mochten, theilweise beendigt war, fragte man nach dem Preise und erhielt unter Lächeln die Antwort, daß man achtzig Gulden Conv. Münze bezahlen sollte und daß es gleich sey, ob man den ganzen Vorrath, oder das Wenige behalte, was ausgesucht worden. Es wurde dem Wirthe bemerkt, daß er das eher hätte sagen können, und als das Gebot von zehn Gulden Conv. Münze für das Ausgesuchte gemacht wurde (offenbar mehr als es werth war), ergriff er mit großer Ruhe die noch uneingepackten Petrefacten, schüttete sie in den Kasten zu den übrigen und mischte sie ihnen sogleich zu, mit den Händen alles sorgfältig durcheinander knetend, bei welcher Mißhandlung[WS 7] so schöner und zarter Petrefacten er den Reisenden näher ans Herz griff, als durch die höhnische Zurückweisung ihres Geldes.
Natürlich wurden alle weiteren Unterhandlungen mit ihm abgebrochen und man schied in gerechtem Zorne von ihm, während seine lächelnde Miene der Vorwürfe ungeachtet dieselbe blieb. Gleichwohl möchten wir hier weniger Böswilligkeit als jene fromme Einfalt sehen, die nicht recht weiß wie sie mit ihren Schätzen daran ist, und da Herr Petzholdt in der guten Absicht, die Nachkommenden vor der Arglist dieses wälschen Wirthes zu sichern, eine förmliche Warnung hat ergehen lassen [455] so finden wir uns gleichermaßen zur Beruhigung künftiger Reisender veranlaßt, diese Warnung wieder außer Wirksamkeit zu setzen, denn Johann Franz Dapunt hat vielleicht gerade seit jener Begegnung die ganze angeklagte Handelspolitik entschieden aufgegeben. Mein Begleiter, der sich auch um Petrefacten kümmerte, fragte nämlich alsbald darnach und da erschienen sie denn in Kasten und Mulden und auf hölzernen Tellern, und es zeigte sich, wie damals, die freundliche Bereitwilligkeit des Wirthes. Und als jener nach sorgfältiger Auswahl gerade vierundzwanzig Stücke sich gesammelt hatte – darunter vielleicht auch manches Exemplar das Herr Petzholdt erlesen – und nach dem Preise fragte, sagte der Badiote mit lächelnder Miene: Stück für Stück einen Kreuzer! und so bezahlte jener also vierundzwanzig Kreuzer Reichs-Währung für ungefähr dasselbe, wofür Dapunt damals achtzig Gulden Conventions-Münze verlangt und Herr Petzholdt und sein Reisegefährte zehn Gulden hatten geben wollen. So wird’s nunmehr mit allen gehalten; nur werden jetzt wahrscheinlich die Pilgrime nichts Besseres zu thun haben, als sich über diese anspruchlosen Preise recht kindlich zu verwundern, und dann vielleicht wird Dapunt in seinem Kopfe neuerdings irre werden und frische Tücken aussinnen, um die Petrefactenfänger recht höhnisch zu ärgern. Von der Zeit, wo er seine wälsche Praktik aufgegeben, bis zum heutigen Tag scheint er allerdings mit der Wissenschaft und ihren Vertretern im Frieden gelebt zu haben. Er weiß von vielen Herren zu erzählen, die ihm Curretsch abgekauft und behauptet, sein Gasthof gerathe in immer höhern Schwung da die Zahl der Reisenden alle Jahre zunehme. Insbesondere gedachte der Wirth mit Liebe des Herrn Professors Klippstein in Gießen, der schon manche Woche bei ihm zugebracht und ihm manchen Gulden schwer Geld zu lösen gegeben.
Uebrigens wollen wir hier nicht verheimlichen, daß der Bäcker zu St. Leonhard, der ebenfalls mit Curretsch handelt und der den genannten Reisenden nicht einmal seine Versteinerungen zeigen wollte, ehedem sie nicht den Kauf des ganzen Vorraths zugesagt, welch „dummes und brutales Ansinnen“ diese [456] sogleich zum Weggehen nöthigte, daß dieser Bäcker, wiederholen wir, noch immer auf seinem albernen Begehren besteht. Der erschien, als er im Vorbeigehen die Curretsch im Wirthshause klappern hörte, selbigesmal auch vor unserm Angesichte und meinte, seinige Versteinerungen wären erst die rechten und um die Kleinigkeit von fünfzig Gulden gebe er uns ein ganzes Faß. Auf diese sinnlosen Reden brachen wir aber rächend in ein schallendes Gelächter aus und nöthigten ihn dadurch schleunigst zum Weggehen. Wir hatten schon an unsern Reise-Hand- und Tagebüchern genug zu tragen und wußten nicht entfernt wie ein Faß in unsern Reiseranzen unterzubringen.
Ueber die Sprache von Enneberg wollen wir hier nur eine Nachlese halten. Der Enneberger scheint seinem Idiom weit weniger geneigt, als der Grödner. Unsere Sprache ist uns so hinderlich – heißt es – unsre Sprache ist uns viel entgegen; kommen wir hinaus zu den Deutschen, so verstehen wir nichts, mit den Wälschen haben wir nicht viel zu thun und auch in der Schule kann man nichts Rechtes lernen. Die Erklärung dieser Stimmung liegt in den Verhältnissen des Thales selbst. Die Enneberger haben nie wie die Grödner, große Handelsfahrten unternommen; ihr Blick in die Welt ging zu keiner Zeit weit über das Pusterthal hinaus und brach hinten kaum durch die Dolomiten, die sie von Buchenstein und Fassa scheiden. Die Nützlichkeit ihres Idioms konnten sie daher nie recht einsehen lernen, wohl aber fiel ihnen die Unverständlichkeit desselben in deutschen Landen und bei den deutschen Gerichtsverhandlungen zu St. Vigil sehr eindrücklich auf und es ist daher nicht zu verwundern, daß sie überhaupt der Meinung sind, es wäre viel besser, wenn sie alle von Kindsbeinen an deutsch sprächen. Die Männer thun dieß auch zum größten Theil, aber die Weiber sind noch lange nicht alle doppelsprachig.
Die Sprache von Enneberg ist übrigens nicht allenthalben ein und dieselbe, wie die von Gröden, sondern theilt sich wieder in verschiedene abweichende Mundarten, welche jedoch unter eine Hauptabtheilung fallen. Die örtliche Gränze bildet [457] der Maròbach, der bei Zwischenwasser in die Gader fällt. St. Vigil und Enneberg gehören daher zur einen Familie, die übrigen Orte des Thales zur andern. Der Dialekt der erstern soll der härtere, der der letztern der weichere seyn. Beide scheinen nach den Versicherungen der Eingebornen weiter auseinander zu gehen, als man es bei dem kleinen Umkreis des ladinischen Sprachgebiets und bei der gegenseitigen Nähe und den engen nachbarschaftlichen Verbindungen der Gemeinden wohl erwarten sollte. Als Schiboleth wird das Wort bezeichnet, welches lieb bedeutet (ie t’è tra dschang, ich habe dich sehr lieb – in Grödnersprache). Dieses lautet in der Abtei dschong, in St. Martin jong, in Wälschellen jang, in Enneberg jenn.
Mit der Schule und der Kirche wird es ungefähr gehalten wie in Gröden. In Untermoi, einem Bergdörfchen, das abgeschieden in einem Seitenthale liegt über welchem der gigantische Col de la Vedla aufsteigt, wird am letzten Tage des Jahres, am Sylvestertage nach altem Herkommen deutsch gepredigt, weil an diesem Tage bei Schnee und Eis eine große Kirchfahrt über die Jöcher aus dem Lüsenthale kömmt. Lüsenthal war früher auch der ladinischen Sprache zugethan und die große Kirchfahrt am Sylvestertage geht wohl in die Zeiten zurück, als noch diesseits und jenseits des Col de la Vedla das gleiche Idiom herrschte. Sonst zeigen die Enneberger Geistlichen viele Theilnahme an ihrem Krautwälsch und mancher scheint sich in Studien darüber eingelassen zu haben, die freilich bei dem Mangel der allernöthigsten Hülfsmittel immer etwas lückenhaft geblieben seyn mögen. Der Curat von Campill, einem Dörfchen, das links von St. Martin in einem Nebenthale liegt, soll ein besondrer Liebhaber des Ladins seyn und sich viele Mühe gegeben haben, es schreibbar zu machen. Dieß sey ihm auch so weit gelungen, daß einige seiner Schulkinder ganz artige Briefe und Aufsätzchen in ihrer Muttersprache verfaßt haben.*)[7]
[458] Das Klima von Badia und von Enneberg insgesammt ist kalt, der Winter lang, Sommerreif und frühzeitiger Herbstfrost [459] stellen sich gerne ein, in Folge davon Miswachs und schlechte Ernten – alles kein Wunder, wenn man bedenkt, daß St. Vigil [460] im Rauthal 3826, St. Leonhard sogar 4355 Wiener Fuß über dem Meere liegt. Die Landwirtschaft des Thales gehört daher nicht zu den gewinnreichen und was der schlechte Sommer und der kalte Herbst verschont, das geht jezuweilen noch durch Erd- und Bergbrüche zu Grunde. St. Leonhard selbst liegt wie es ist auf solchem von den Höhen herabgekommenen Schutte, ja es läßt sich gleich von dem ganzen Thalgebiete sagen, daß wie Unterägypten ein Geschenk des Nils, so die fruchtbare Scholle ein Geschenk der Schrofen, ein späterer Bergbruch ist. Solcher Erdabsitzungen sind noch immer viele zu befürchten und in manchen Bergrevieren ist der Boden bis auf den heutigen Tag in beständiger Unruhe, klafft und öffnet sich, wirft dicke Wülste auf, trägt ganze Felder hin und her und bedeckt mit Schuttlawinen Wald und Wiesen, so daß mehr als einem Hofe der sichere Untergang vorauszusagen ist. Die jetzigen Dörfer sind zum Theil auf Schuttablagerungen erbaut, welche die Ortschaften, die früher da standen, überdeckt haben; ja in St. Vigil erinnert nach dem Abendgeläute ein besonderer Glockenschlag die Einwohner, daß ihre Häuser in uralten Zeiten schon zweimal durch einen Abfall des nahen Kalkberges bei nächtlicher Weile begraben worden sind. Bebaut wird die Scholle übrigens mit dem größten Fleiß, und wenn auch der Landmann mit schweren Lasten überbürdet ist, so hält ihn dieß doch nicht ab, jedes Fleckchen zu benützen. Die Sümpfe werden durch gutangebrachte Wassergräben urbar gemacht, manche jäh ansteigende Berghalde mit unendlicher Mühe zum Ertrag gezwungen. Auf vielen Feldern kann kein Pflug, kein Zugthier die Arbeit des Landmannes unterstützen, und wird dann alles mit der Haue gearbeitet. Das abrollende Erdreich und selbst größere [461] Bergschlipfe, die zu Thal gegangen, werden in Körben oder durch Winden wieder an ihre Stelle geschafft, Futter und Garben auf dem Rücken in die Scheune gebracht.
Das Ennebergerthal ist also wild und rauh, aber für den Wanderer voll abwechselnder Ansichten, auch nur wenn er dem Bache entlang geht, obgleich er da von den mährchenhaften Ungeheuerlichkeiten, welche die Bergwildnisse zur rechten Seite in ihren Tiefen bergen, nichts gewahrt. Im hintersten Theile von Kolfuschg und Corvara bis St. Leonhard finden sich Räumlichkeiten, die sich dem Anbau gerne fügen, abwärts aber von der Abtei geht der Weg aus einem Tobel in den andern, bald am Bache hin, bald an der schwindelnden Wand. Nur hie und da tritt das Berggehänge zurück, und schließt dann den hügeligen Thalgrund ein, auf dem die freundlichen Dörfer stehen. Gleich nach St. Leonhard führt der Pfad durch die Schlucht von Pontatsch, eine waldige Enge, von nahen Bergbrüchen bedroht, die da zu Ende geht, wo der Bach aus dem Wengerthal in die Gader fließt. An dieser Stelle sieht man rechts in das schöne Thälchen hinein, das von einem Tausend wohlhabender Leute in reinlichen Höfen bewohnt und von den Nachbarn seiner sonnigen Lage, seiner ergiebigen Roggen- und Weizenernten und des schönen Mastviehs wegen fast beneidet wird. Es liegen da ferner verschiedene Häuserhäufchen am Bache und verschiedene Höfe auf den Höhen herum, rothbraune hölzerne Gebäude, die von der Morgensonne beschienen recht angenehm abstechen von den grünen Wiesen und den gelben Kornfeldern, denen sie zur Hut bestellt sind.
Nach diesem erreicht man den Weiler Preromang (Pratum romanum) und abermals am Ende einer waldigen Schlucht St. Martin, wenige aber ansehnliche Häuser auf grüner Anhöhe über dem Bache gelegen, mit großer Kirche. Auch dieses Dörfchen steht auf einem eingebrochenen Berge, der vor mehr als vierhundert Jahren die alte Niederlassung sammt ihrer Kirche begrub. Noch jetzo findet man im Boden häufig Menschengerippe und auf dem Pereswalde grub man aus dem Schutte die kleine Glocke, die nun im Kirchenthum hängt. Im [462] Wirthshause machte ich kurze Rast und begann vom Wirthe unterstützt wieder Sprachstudien zu treiben. Hier erfuhr ich, daß die Ladiner die Italiener insgesammt Lomberdsch heißen, die Lombarden. An einigen feiertäglich gekleideten Frauen die auf der Wallfahrt nach den Kreuzkofel waren und sich zur Fortsetzung derselben mit etwas Wein vorbereiteten, war abzunehmen, daß die Tracht der Weiber von der grödnerischen nicht viel verschieden ist, nur die Fatzelhaube hat wieder etwas andre Gestalt.
Oberhalb St. Martin auf grasreicher Halde liegt das Schloß Thurn an der Gader, ansehnliches zweistöckiges Haus mit wehrhaftem Thurme versehen, von kleinem Buschwerk lieblich umgrünt. Es war einmal der Sitz eines kleinen Gerichtes, das bis zum Untergange des heiligen römischen Reiches dem Bischof zu Brixen gehörte; angeblich ein übergebliebenes Stück der Schankung, welche Kaiser Heinrich III mit einer Grafschaft im Pusterthal im Jahre 1091 dem getreuen Bischof Altwin verehrte. Jetzt ist der strepitus judicii aus den alten Mauern gewichen und heutzutage sitzen zwei friedliche Bauern in dem Schlosse. Die andern Dörfer des Thales gehörten, außer Kolfuschg, das dem wolkensteinischen Gerichte Gufidaun untergeben war, dem Frauenstifte zu Sonnenburg, das draußen im Pusterthale liegt.
Das reiche Stift zu Sonnenburg entstand aber, als Ottwin, der Graf von Lurn und Pusterthal sein Gut unter seine vier Söhne vertheilt und einer davon, Volkold mit Namen, sich bedacht hatte, seine feste Suaneburc zu einem Frauenkloster nach der Regel des heiligen Benedicts zu weihen. Dieß geschah im Jahre 1018 und er schenkte nach freilich nicht ganz unbedenklichen Documenten der frommen Stiftung alles, was er im Thal von Enneberg zwischen Plaiken (Plaicha) und dem Salarpach (Salarapach) bei Kolfuschg besaß.
Die Unterthanen des Stiftes und des Bisthums hatten, wenn nicht die Milde der frommen Frauen oder der Kirchenhirten eintrat, der Lasten genug zu tragen. Grundzins, Zehenten, Kuppel- (d. i. Hunds-) Futter, Wasserprügel, Robot, [463] Jugendzins, Rauchfangzins und wie diese fröhlichen Dinger alle heißen, waren in solcher Reichlichkeit über sie ausgelegt, daß dem Bauer kaum der dritte Theil von den Früchten seines Fleißes übrig blieb und daran zehrten später nicht allein Bisthum und Stift, sondern auch andre Priesterschaft und das Ritterthum, so daß jetzt noch 171 solcher Berechtigten in dem Steuerkataster eingetragen sind. Aber auch ihr Leben war nicht allzeit in Sicherheit, denn wenn die Frauen von Sonnenburg mit dem Bischof von Brixen oder seinen Rechtsnachfolgern des Gerichts zu Thurn wegen Stöße hatten, so gingen sie meist an den gequälten Ladinern aus. So waren einmal im dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderte die Herren von Schöneck als Lehensträger der Bischöfe im Besitze der Schlösser Thurn und Buchenstein und verfuhren mit den Unterthanen in so wilder Weise, daß die Aebtissin Dietmut, eine Landgräfin von Lienz, bei König Heinrich eine Klage erhob worin neben vielen andern Beschwerden über Räubereien an Vieh und Geld auch behauptet ward, daß Herr Paulus von Schöneck einem Mann des Gotteshauses den Fuß und seinem Schreiber die Hand abgehauen, daß Herr Nicolaus von Schöneck einen ehrlichen Unterthanen derselben Kirche gefangen, ihm Schatzung aufgelegt, und da er nichts erhalten, den Armen in siedendem Wasser verbrannt habe. Diese Klagen wurden so begründet gefunden, daß König Heinrich die ritterlichen Missethäter zu einem Schadensersatze von 16,000 Pfund Pfennige verurtheilte. Ein anderes Unheil brach im Jahre 1460 herein, als Nicolaus von Cusa, Cardinal und Bischof zu Brixen, die Stiftsfrauen von Sonnenburg mit dem Kirchenbann belegt, die Aebtissin Verena von Stuben ihrer Würden entsetzt und über alle Gilten, Gefälle und Einkünfte des Klosters die Sperre verhängt hatte, dieweil sich jene der von ihm versuchten Visitation und Klosterreform nicht unterziehen wollten. Die gebannten Stiftsfrauen thaten in diesem Jahre als wäre ihnen nicht viel am Fluche der Kirche gelegen und forderten von ihren Zinsbauern die Abgaben wie vorher. Die friedfertigen Ladiner kümmerten sich auch nicht um die Wirrniß, sondern zahlten ihren guten Gerichtsfrauen, was sie [464] sonst gezahlt hatten. Nun kam aber Herr Gabriel von Prack, des Bischofs Schloßhauptmann in Buchenstein, gen Enneberg. Auf den Knien betheuerten die armen Bauern ihre Unschuld, behaupteten nur ihre Schuldigkeit gethan und nichts Arges im Sinn gehabt zu haben, wollten gerne ins Gefängniß gehen und des Richterspruchs gewärtig seyn, aber es half nichts. Herr Gabriel schwang sein Schwert über sie, ließ sie sammt und sonders niedermetzeln und nach des Cardinals Befehl ihre Leichname den Vögeln der Luft zum Fraße aussetzen. Der Ritter von Prack gewann dadurch Ablaß seiner Sünden und einen vergoldeten Becher zum Geschenk vom hochwürdigen Kirchenfürsten. Die Aebtissin rief aber Erzherzog Sigmunden, den Landesfürsten von Tirol, zum Schutze auf und von dieser Zeit schrieb es sich her, daß die Grafen von Tirol auch von den Ennebergern die Huldigung forderten und die Hoheitsrechte über das Stift auszuüben anfingen, nicht ohne Einsprache der Fürstbischöfe von Brixen, welche die Aebtissinnen und die landesfürstlichen Commissäre in solchen Fällen noch etlichemal excommunicirten.
Es war ein altes Herkommen, daß die neuerwählte „gnädig gebietende“ Aebtissin sich von den stiftischen Zinsbauern huldigen ließ. Auf dem freien Platze zu St. Vigil vor dem Gerichtshause wurde eine Bühne aufgeschlagen und dort trat die Aebtissin, umgeben von den Frauen des Stifts und ihren Amtleuten, vor ihre Getreuen, und ließ sie schwören, ihrer „rechten und natürlichen Erbfürstin und Frau“ gehorsam und gewärtig zu seyn. Die Bauern auf der andern Seite begehrten dann von der gnädig Gebietenden Verwahrung vor neuen Lasten und Steuern und geriethen dabei, wenn die fürstliche Frau nicht mit ehrlichen Versprechungen zu Tage wollte, in großen Ungestüm, so daß seit dem Jahre 1732 die Huldigung lieber ganz unterlassen wurde. Dem Stift-Sonnenburgischen Gerichte Enneberg zu St. Vigil waren übrigens seit uralten Zeiten vier Männer mit dem Ehrentitel: Missier beigegeben, als Stellvertreter der Gemeinden Enneberg, Wengen, Abtei und Corvara und zur Besorgung der innern Verwaltung. Die Rechtshändel wurden vor die öffentliche Schranne [465] gebracht, welche nach alten Gewohnheitsrechten entschied, die im sechzehnten Jahrhunderte in die Feder verfaßt und verzeichnet worden sind. Das Verfahren, das da üblich war, mahnt an jenes, welches wir im Bregenzerwalde kennen gelernt.
Ueber dem Wasser bei St. Martin liegt der kleine Weiler Picolein, etliche zierliche Häuser, darunter zwei ehemalige adelige Ansitze und dabei eine Capelle. In dieser ist auf einem Seitenaltare dasselbe Gemälde zu sehen, wie in der Kirche zu Corvara. An den Wänden sind auf großen Tafeln die Wunder des heiligen Antonius angemalt: rechts die, welche er bei Lebzeiten, links jene, so er nach seinem Tode verrichtet hat – ein halbes Hundert recht sehenswürdiger Darstellungen. Unter den erstern ist auch die Fischpredigt nicht vergessen, und es nimmt sich sehr gut aus, wie die Geschwader der Fische, die in Reih und Glied sich aufgestellt, die naiven Häupter zum Wasser herausstrecken um das Wort Gottes zu vernehmen; unter den letztern hat mir besonders gefallen die Geschichte, wie der heilige Antonius einem bedrängten Factor aus der Noth hilft. Derselbe Factor, der seinem Herrn tausend Gulden schuldig gewesen, diese jedoch wieder bezahlt hatte, wurde nach dem Tode des erstern noch einmal darum angefordert, weil der Verstorbene vergessen hatte die Heimzahlung im Handlungsbuche zu bemerken. Der Factor rief nun in seiner Angst St. Antonium um Hülfe an, und der Heilige schaffte sie auch dadurch, daß er den todten Herrn, welcher verdammt war, vor die Pforten der Hölle beschied, um nachträglich die Quittung zu unterschreiben. Da steht nun, während die lebenden Erben im Comptoir disputiren, in der Ferne die Hölle offen und der arme, zu seinen Lebzeiten so vergeßliche Kerl, splitter nackt und rothgesotten wie ein Krebs, stellt am Eingang der Unterwelt die Urkunde aus, in Beiseyn des heiligen Antonius, des Factors und eines gluthäugigen Teufels, der mit der Feuergabel als Schildwache daneben paradirt.
Von Picolein steigt das Sträßchen in die Höhe und zieht dann oben an der steilen Halde des Plainsberges hin, so daß der stürmende Bach tief unten in der düstern Schlucht kaum mehr zu erschauen ist. Allmählich geht der Weg in schattigen [466] Lärchenwald ein und begünstigt ein träumerisches Lustwandeln, bis der Pilger auf der Höhe über Zwischenwasser, wo der Raubach in die Gader stürzt, aus dem Dunkel des Waldes hervortretend, jählings eine wundervolle Aussicht vor sich hat, zumal wenn er noch ein Stück über den Weg hinaufklettert. Da sah ich rechts ins Rauthal, wo aus fichtendunkeln Hügeln, die sich tief hinein in unbewohnte Wildniß verloren, gigantische Felsmassen, roth und blau, schier senkrecht aufstiegen, zwischen denen die Morgensonne ihre Strahlen seltsam gebrochen ins stille Alpenland hineinsandte, das noch Bären und Wölfe beherbergt. Die Häuser von St. Vigil steckten in leichtem blaulichem Duft, durch den sich die Rauchsäulen aus den Schornsteinen keck emporwanden. Ueber St. Vigil, dem Gerichtssitze, erhoben sich steile ragende Hügel, weitaus mit Korn bebaut und über sie hin zogen in geschäftigem Zug mit Roß und Pflug die ackernden Landleute bis ganz nahe an die Wälder hinauf, die ihre langen Schatten über diese Vorberge warfen. Auf einsamer Höhe liegt St. Maria, „die Pfarre,“ mit schönem gothischem Kirchthurm und ein paar bedeutsamen Häusern, wovon eines, ehedem ein adeliger Ansitz, jetzt ein Wirthshaus ist. Auf einer andern nahen Halde, auch rings umgeben von[WS 8] steilen Kornfeldern, prangt die Burg Asch, das Stammhaus der Ritter von Prack, ein dreistöckiges, hochgiebeliges Haus, mit vier Eckthürmen wohl bewehrt. Und wieder nicht weit von Asch zeigen sich auf steinichter Wand Kirche und Häuser von Plaiken. So ist die Gegend diesseits des Baches. Ueber dem allem aber, hoch oben auf dem steilen Gehänge, wo breite Ackerflächen mit finstern Wäldern abwechseln, ist die Kirche von Wälschellen hingeheftet, sammt den weitzerstreuten Häuschen, die sich am schwindelnden Berghang mühsam zu halten scheinen. Ueber diesem Hochlandsdörfchen steht roth und weiß, zerrissen und zerklüftet, steil und überhängend der Col de la Vedla, der Berg der Vettel, ein grauses dolomitisches Ungethüm, das aber dennoch vom Peitlerkofel, der hinten im schönen Seitenthälchen von Untermoi aufschießt, noch an Höhe und an Wildheit übertroffen wird. Diese beiden Hörner, der Col de la Vedla und der Puthia [467] stehen nahe beisammen und einer schaut grimmig auf den andern – es ist als ob sie so zusammengestellt seyen, damit sie sich ewig in ihrer Schauerlichkeit messen sollten. Das sind die Aussichten, die jene Berghöhe über Zwischenwasser in der Nähe bietet, eine farbenreiche Mischung, aber ihrem Zusammenscheine nach fast etwas ins Wilde schlagend, da die freundlichen Auen und Felder gegen die Schrecken der Dolomitgebilde nicht aufkommen können. Eben deßwegen ist’s eine erfreuliche Zuthat, daß der Blick auch an dem Gaderbach hinausgeleitet wird und über den rothen Thurm von Ohnach ins Hügelland des Pusterthales fällt. Und über den Hügeln des Pusterthales steigen die Berge des Pusterthales empor und über diesen tauchen in schneeweißem, eisigem Mantel die Ferner auf, die hinten im Zillerthale liegen, der Nefeser und der Zemer und andere weiße Spitzen, die gegen die Krimmlertauern ziehen. Die sanften breiten Formen dieser Schneeberge wirken beruhigend auf den Beschauer, den das Jähe, Unheimliche der Enneberger Hörner aufgeregt hat. Wenn er da mehrere Tage in Gröden oder Abtei gesessen ist, so verbindet sich damit vielleicht auch eine leise Freude wieder ins Gebirgsland zu kommen, das ihm heimathlicher ist, aus den rauhen Thälern, in welche die ladinischen Dolomiten unruhig hineinragen, in die zahmern, die die schneeigen Gipfel deutscher Berge umgürten.
Bedauerlich war es uns, daß wir nicht Zeit hatten nach Enneberg oder St. Maria hinüber zu steigen, um nach dem Tanzstadel, dem „Pajung" zu fragen, der zur Zeit, als Haller schrieb, noch vorhanden war. Es war ein uralter Gebrauch weit und breit in den rhätischen Alpen, daß sich jede Gemeinde ihr Tanzhaus erbaute, welches zugleich als Gedingstätte diente. So haben wir’s im Bregenzerwald gesehen, wo der Landammann auch im Tanzhause nieder saß, um Gericht zu halten, so ist es von vielen andern Gemeinden überliefert, und so ist’s auch da gewesen, wo jetzt keine Ueberlieferung mehr im Munde der Alten ist. Wo der Landmann sich sein Recht holte, da wollte er sich seine Freude holen und die Halle, wo sich die fröhliche Jugend und die rüstige [468] Mannheit im Ländler gedreht, schien gut genug für die ernstlichen Verhandlungen über Streit und Span. „Ein öffentlicher Tanzstadel gehörte so wesentlich zum Gemeingute der Ortschaft, wie jetzt Kirche und Schulgebäude.“ Mit älplerischer Einfachheit war er jeder andern Dreschtenne ähnlich; in der Mitte stand eine runde Säule, welche bis ans Dach reichte. Nicht nur bei Hochzeiten sondern an allen Sonn- und Feiertagen, die im Kalender stehen, zog das Volk dem Tanzboden zu, um selbst sich zu schwingen oder dem muntern Reigen zuzusehen. Unverwüstliche Alpennatur, die den armen Ladinern, welche an der Unfruchtbarkeit ihres Bodens, an Steuern, Abgaben und Frohnen fast erlagen, noch so viele Lebenslust übrig ließ, um am Sonntage sich zu freuen und der Kümmernisse der Werktage zu vergessen! Es galt als ein Ehrenvorzug, bei solchen Tänzen den ersten Reigen zu eröffnen. Ein Mann des Vertrauens, welcher der Platzmeister hieß, war der Unterhaltung vorgesetzt. Seines Amtes war, die Spielleute zu bestellen, das Volk geziemend zum Tanze zu laden und über Ordnung und Anstand zu wachen. Ein großer Hut mit ungeheuern Flügeln und winzig kleinem Kopfe, reichlich bebändert und mit Troddeln geziert, war das Zeichen seiner Würde.
„Diese Volksbelustigung, sagt unser Gewährsmann ferner, scheint sich bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts erhalten zu haben. Alte Männer einer jüngst vergangenen Zeit erinnerten sich noch der letzten Platzmeister. Mißbräuche und die Einwirkung geistlicher Behörden mögen zu ihrer Abstellung Grund und Veranlassung gegeben haben. Die Tanzstädel machten allmählich nützlicheren Gebäuden, Schulen und Wohnhäusern Platz und von der alten Sitte blieb endlich nichts mehr, als das Andenken und die Vorliebe für diese Unterhaltung übrig.“
Ein Nachklang der alten lärmenden Tanzlust hat sich noch bei den Hochzeiten erhalten. Verwandte und Nachbarn werden dazu in großer Anzahl geladen und es wäre sehr feindselig die Ladung auszuschlagen. Auch Seelsorger und Richter dürfen nicht fehlen, und an sie ergeht ein feierliches [469] Aufgebot zum Mahle. Die Hochzeiten werden meistens im Winter gefeiert und so gleiten die Gäste in prächtig bespannten Rennschlitten heran, mit Geschirr und Zeug, das wegen seiner Kostbarkeit als Familienkleinod vom Vater auf den Sohn vererbt wird. Nachdem die Trauung in der Kirche vorüber, geht der Zug ins Wirthshaus zum Tanze. Dort warten schon vor dem Thore die mit Kränzen und weißen Schürzen geschmückten Mädchen auf die Jungen, welche sie wählen und zum Tanze führen sollen. Gerade so wird’s bekanntlich auch in Bayern, im Gebirge wie in der Ebene gehalten und gilt nirgends als eine Versündigung gegen den Anstand. Ueberhaupt scheint der Tanzstadel in Enneberg und alles was damit zusammenhängt, ein deutsches Gewächs zu seyn, das vom Pusterthale aus in die günstige ladinische Luft hinein rankte.
Die Ritter von Prack, deren Stammburg jenes Asch bei St. Maria ist, waren seit alten Zeiten begütert im Enneberger Thal. Jenes hartherzigen Gabriels von Prack haben wir schon gedacht, wir müssen aber noch des kühnen Ritters Franz Wilhelm Prack zu Asch erwähnen, der der Nationalheld der Enneberger[WS 9] geworden ist. Sie erzählen viel von ihm, und nach ihren Mähren hatte er lebenslänglichen Unfrieden mit den Kolzen, war dabei ein trefflicher Armbrustschütze und verwegener Reiter. Einmal sah er von der Burg zu Asch aus einen der Kolzen aus dem hohen Plaieswalde heranreiten, spannte schnell den Bogen und schoß über das Thal hinüber in ungeheure Ferne gegen den Todfeind. Den traf nun zwar der Bolzen nicht, aber der Sattelknopf erklang von seinem Anprall. Ein schönes Wagstück gelang ihm einst, als er mit den Ampezzanern Fehde hatte. Damals machte er einem Fräulein den Hof, das auf dem Schloß zu Peutelstein verweilte. Eines Tags hatten nun die Ampezzaner, um ihm den Heimweg zu verlegen, die Brücke abgetragen, die über den schauerlich tiefen Abgrund der Tavernanza führt. Franz Wilhelm von Prack ritt seiner Liebe froh des besten Muthes von Peutelstein herab und kam an den Wildbach, sah aber keine Brücke mehr, sondern einen Haufen Bewaffneter, die [470] hinter ihm drein jagten. Er hatte nur die Wahl zwischen Gefangenschaft und dem ungeheuern Sprung. Da riß er sein Roß zurück, gab ihm die Sporen – das edle Thier setzte über die Schlucht, erreichte mit den Vorderfüßen den jenseitigen Felsen und arbeitete sich mit den hintern glücklich an der Wand hinauf. Als der Reiter wieder auf festem Boden war, stieg er ab, küßte dem Lebensretter die Füße und ritt im Angesichte der Ampezzaner, die rathlos auf der andern Seite standen, hohnlachend davon. Sein Leben endete am 7 Februar 1582 auf dem Felde bei Corvara, wo ihn seine Todfeinde Johann und Caspar Anton, die Kolzen, ermordeten.
Von Zwischenwasser geht das Sträßchen wieder steil in die Höhe und führt nach Pelfrad, dem Wirthshause, welches die Gränze der ladinischen Sprache ist. Der nächste Weiler ist Saalen, auch mit einem Wirthshause versehen, in welchem vor drei Jahren der Streit entstand, welcher den Tod des zitherkundigen Ennebergers zur Folge hatte. In Saalen ist alles pusterthalisch, Sprache und Art der Leute, wie auch die gelben Röcke mit dem breiten schwarzen Querbande, und die spitzigen, breitgekrämpten Hüte, welche die Weibsbilder tragen.
Von Saalen an verliert die Landschaft das Wilde und Großartige, das sie bisher an sich getragen, der Blick geht ins Weite, in die schöne Fläche des Pusterthals hinaus. Das Schloß Michelsburg, mit drei streitbaren Thürmen wehrhaft prangend, erhebt sich zur rechten Hand auf einem einzelnen Felsen, der bald steil abschießend, bald in sanften Abhängen sich ins Thal herniederläßt. Einzelne Kammern der Burg sind wohl noch bewohnt, denn es gehen reinliche, weiße Zierstreifen um die Fenster, die mit Blumenstöcken geschmückt sind, und in diesen Gemächern wird wahrscheinlich der Bestandsmann wohnen, den der Graf Künigl in dem Schlosse hält. In der Ferne erscheint das stolze Schloß von Brunecken mit seinen rothen Dächern, Stegens spitziger Kirchthurm, Dietenheim mit seinen ritterlichen Schlössern. Darüber hin öffnet sich die Schlucht des Tauferer Thales, von dessen innerer Höhe das Dorf Achornach aus einer Ferne von vier Stunden weit herunter blickt. In der Nähe verleihen mehrere bewaldete [471] Bühel der Gegend angenehme Abwechslung. Zwischen zwei solchen Anhöhen ist das verfallene Stift von Sonnenburg zu sehen, das auf ragendem Felsen über der Rienz liegt, einst stolz, reich und prächtig, jetzt, seitdem es Kaiser Joseph 1785 aufgelöst, gebrochen und zerfallen, als wenn das Verderben von Jahrhunderten darüber hingegangen wäre.
In diese Gegend kommen wir übrigens ein andermal, wenn wir vom Krimmlertauern durch das Ahrenthal herniedersteigen und in Brunecken Rasttag halten. Jetzt gehen wir wieder nach St. Leonhard zurück, um über Valparola nach Buchenstein zu wandern.
Es war ein schöner Abend, als ich von St. Leonhard dem hohen Ufer des Gaderbaches entlang zumeist über Wiesen hin nach St. Cassian ging, rechts von der langen senkrechten Wand des Kreuzkofels, der von der untergehenden Sonne beschienen, wie eine rothglühende Himmelsmauer aus den grünen Abhängen aufstarrte. Eine saubere Dirne war meines Weges, konnte mir aber sehr wenig mittheilen, da sie nur dürftig deutsch sprach. Sie suchte sich deßwegen, so gut es gehen wollte, zu entschuldigen und schien ihre Ungeübtheit in deutscher Zunge als etwas zu betrachten, was ihr bei ihrem Alter – von siebzehn Frühlingen – nicht ganz gut anstehe.
In St. Cassian fand ich sehr freundliche Aufnahme beim Curaten. Er ist ein geborner Enneberger und einer von jenen ehrenwerthen Männern, die sich mit Forschungen über ihre Muttersprache beschäftigen. Deßwegen legte ich auch mit meinen, obwohl sehr kurz gefaßten Kenntnissen im Ladin viele Ehre bei ihm ein. Das freundliche Gespräch, in das wir darüber geriethen, hielt uns bis gegen eilf Uhr beisammen.
Vom Herrn, der mich die Nacht beherbergt, hatte ich mich danksagend beurlaubt; ehe ich aber erzähle, was sich weiter begeben, muß ich noch der Sage Erwähnung thun, welche zu Wengen und St. Cassian von den vorzeitlichen Wilden erhalten ist. An beiden Orten findet sich nämlich ein Bach, den die Eingebornen Rü de gannes*) [8] nennen, den [472] Bach der Wilden. Diese Urbewohner hielten sich laut der Ueberlieferung in Wäldern und Felsenklüften auf dem Kreuzkofel zusammen, ohne Gesittung und fast ohne Sprache. Wildpret, Kräuter und Wurzeln und was sie etwa von den christlichen Nachbarn empfingen, war ihre Nahrung. Nur bei der grimmigsten Kälte, oder wenn Hungersnoth unter ihnen eingerissen war, kamen sie zu den höchst gelegenen Häusern herab, wärmten sich am Feuer, nahmen die Gaben, um die sie nie baten, und entfernten sich eilfertig wieder, ohne je eine Nacht unter Dach zu bleiben. Sie beleidigten Niemand, rächten sich aber grausam, wenn sie beleidiget wurden. Wie sie sich verloren, weiß die Sage nicht anzugeben. Es ist interessant, sagt Dr. Staffler, daß derlei Erzählungen von wilden Menschen sich auch in andern Gegenden Tirols wiederholen. Man würde nicht übel thun, sie zu sammeln; mir ist sonst nur noch die Sage von jenen Riesen bekannt, welche auf Schloß Tirol gehaust. Da wir einmal an unheimlichen Dingen sind, so kann auch erwähnt werden, daß sich in Enneberg und zumeist in der Gemeinde Wengen ein Berggeist findet, welcher Orco genannt und nicht unbillig mit Rübezahl im Riesengebirge verglichen wird. Er ist bösartig und gefürchtet. Verschiedene Mähren von ihm sind bei Staffler nachzulesen. Ueberhaupt scheint das Sagenwesen hier noch in blühendem Zustand zu seyn.
Also von St. Cassian weiter schreitend, der Alpe Valparola zu, bewundern wir zuerst noch die schönen, gemauerten, zweistöckigen Höfe, die hier herum auf den Bergwiesen zerstreut stehen, und vertiefen uns dann immer mehr in die Alpengegend, die sich gegen den Fuß des Joches hinzieht. In einer Stunde sind wir bei den Trümmern der alten Hochöfen, die ehemals hier betrieben, aber schon vor langer Zeit aufgegeben worden sind, da man es für vortheilhafter [473] hielt, die Wälder abzutreiben. Demnach stehen jetzt nur noch geschwärzte Mauertrümmer einsam in dem lichten Föhrenhaine, und wo ehemals die Knechte früh und spät den Brand nährten mit geschäftiger Hand, da herrscht zur Zeit die tiefste, schweigsamste Waldeinsamkeit.
Nicht weit dahinter liegt eine Alm, wo mehrere Hirten aus dem Pusterthale ihre Sommerfrische halten. Die Hütten sind geringer Art, aus Balken kunstlos zusammengelegt. Einer der Sennen nahm mich gastlich auf, gab mir Milch und Käse und sträubte sich nach einem allmählich erlöschenden Herkommen eine Bezahlung anzunehmen. Glücklicherweise war er ein Tabakraucher, so daß ich ihm durch ein paar Cigarren meine Dankbarkeit bezeigen konnte.
Von dieser Niederlassung erhebt sich der Weg steiler aufwärts durch den Wald und dann über freie Wiesen auf das Joch, welches in einer Stunde zu erreichen ist. So leicht man auch hinauf kömmt, so ist es doch oben so jochartig als irgendwo.
Zu beiden Seiten Dolomitenwände, deren Fußgestelle mit Edelweiß bewachsen sind, und eine prächtige Aussicht. Rückwärts ins Thal der Abtei geht sie, wo die Gemeinde St. Cassian ihre schmucken Häuser über die lieblich grünen Wiesen ausgestreut hat, überragt vom Kreuzkofel, eingeschlossen von düstern Felsen, zwischen denen das Auge gleichwohl hinausfindet bis auf die Zillerthaler Schneeberge. Gegen Mittag aber breitet sich vor dem Blicke eine Dolomitenwirthschaft aus, wie sie kaum noch ärger zu finden. Wer sich hier noch vor dem letzten Schritte auf das Joch das freundliche Thalgelände von St. Cassian betrachtet, das trotz seiner wilden Umgebung so milde abgeglättet, bebaut, mit Häusern besetzt, mit seiner weißen Kirche geziert ist, um die sich die Höfe schaaren wie die Küchlein um die Henne, wer dann, das Auge voll angesogen mit dieser grünen Lieblichkeit, auf die Wasserscheide tritt und gegen Mittag schaut, der muß fast erstarren ob dieser schauerlichen Wildheit. Da ist über die ersten Flächen des Abhangs weg weit und breit kein Grün mehr zu sehen, aber überall bis in die fernste Ferne hechelmäßig [474] aufgeschossene, ragende, schroffe, senkrechte Zinken und Hörner, aus denen sich wieder andre, schwarze, ungethüme Stifte hervorschieben und sich kreuzschnabelartig über einander legen – alles anzusehen wie Masten, Planken und Latten aus dem Schiffbruch einer Welt. Von Wiesen und Feldern keine Andeutung, noch weniger von Häusern. Es vermehrt den feierlichen Ernst der Landschaft, daß sich etwas unter dem Joche auch noch die Aussicht auf ein Schneefeld einstellt, das zur Rechten aufzieht, weiß, schön und still.
Abwärts geht es zunächst durch dünnes Gehölz, das mit vielen großen und kleinen Felsstücken durchwirkt ist, dann aber eben und glatt über Wiesen, bis man zuletzt vor dem Schlosse Buchenstein steht. Dieß ist eine herrliche Burg, innerlich zwar verlassen und verfallen, aber äußerlich noch ganz in alter Würde. Sie steht neben dem Thalwege und ist auf einem vereinzelten schroffen Felsenblock seltsam hingemauert, so nämlich, daß sie gegen Norden eine schöne Fronte hat, während auf der Südseite das Gestein fast bis in die Mitte des Gebäudes hinaufreicht. Eine Ringmauer zieht sich um den Fuß desselben herum und der Zugang zu dem Hauptthor geht über einen tiefen Graben. Hat man die Burg betreten, so führt rechts eine Treppe zum Burgverließ, links die große Stiege ins Schloß. Zuerst kommt man an die Pforte der Capelle, die zwar halb verfallen ist, aber noch manches Ueberbleibsel alter Zier zu schauen gibt. Eine andere Treppe führt zu einer eisernen Thüre, hinter der eine Zugbrücke im Innern den Weg zur Wohnung des Schloßhauptmanns bildete, so daß sich ein hartnäckiger Befehlshaber noch in seinen Wohnzimmern vertheidigen konnte, wenn die Burg schon über war.
Die Herrschaft Buchenstein kam an das Bisthum Brixen im Jahre 1091. Die Bischöfe gaben sie dann verschiedenen Edeln zu Lehen und kamen erst im Jahre 1426 wieder in den unmittelbaren Besitz. Seit dieser Zeit bis zum Jahre 1803, wo das Hochstift säcularisirt wurde, zählt die Chronik in der Burg fünfundvierzig Schloßhauptleute, darunter Männer aus den vornehmsten Geschlechtern des Landes. So lange solche Insassen darin walteten, mag sie wohl sehr wohnlich eingerichtet [475] gewesen seyn. Auch die Bischöfe klopften oft in unruhigen Zeiten unerwartet an des Schlosses Pforte und überwetterten da, bis die Luft zu Brixen wieder heiter war. Seitdem aber der letzte Schloßhauptmann ausgezogen, hat man die Burg ihrer besten Geräthschaften und ihres Archivs beraubt, letzteres wie es scheint zerstört, und das Gemäuer der langsamen Vernichtung hingegeben. Bei den Eingebornen heißt es Castel d’Andraz, und es gehört jetzt der Familie Faber im nahegelegenen Cernadoi, welche das Gebäude sammt Bauerschaft unter der bayerischen Herrschaft um 18,000 fl. gekauft hat. Man versichert, sie hätte damit eine sehr gelungene Speculation gemacht, da vor ein paar Jahren 20,000 fl. allein aus verkauften Waldungen gelöst worden seyen. Es ist übrigens fast seltsam, daß die Burg, obgleich sie schon weit drinnen in Wälschland liegt, noch einen so guten deutschen Namen führt und diesen auch auf die Gegend übergetragen hat. Der Adel dieses abgelegenen, durch keinen Fahrweg erreichbaren Hochlandes scheint aber auch deutschen Ursprungs gewesen zu seyn. So wird im Jahr 1296 eine Domina Agnesa vidua Conradi de Corte de Livina longa cum filiis suis Meinle, Wilhalm et Conrad erwähnt und es erhellt aus den Taufnamen der Kinder, besonders aus jenem Meinle, der wohl dem Grafen Meinhard von Görz nachgetauft ist, daß in der Familie deutsch gesprochen wurde. Auch unter den Pfarrern waren in älteren Zeiten viele Deutsche.
Ehe nun das Dorf Andraz erreicht wird, ist es Pflicht den Leser aufmerksam zu machen, daß wir abermals in ein neues Sprachgebiet treten, und zwar ins Fodomische. Das kleine Landgericht Buchenstein wird nämlich von dreitausend Aelplern bewohnt, welche von ihren wälschen und krautwälschen Nachbarn in Fassa, Gröden, Enneberg und Ampezzo Fodomi genannt werden. Dr. Staffler behauptet nicht unwahrscheinlich, dieser Name erkläre sich aus Feud’uomini, und beziehe sich auf die Lehensverhältnisse, in welchen die Buchensteiner früher zu den Bischöfen von Brixen standen. Sie selbst nennen sich nicht mit diesem Namen, hören ihn auch nicht gerne von andern. Wenn sie weiter über die italienische Gränze gehen, [476] etwa nach Belluno oder Feltre, so müssen sie sich gerade so gut wie die Grödner und Enneberger Tedeschi nennen lassen; ein Schicksal, das auch jedes Trientiners wartet, der nach Verona kommt. Ihre Sprache bildet den Uebergang aus den ladinischen Dialekten in jene Mundarten, die man dem Italienischen zurechnet, wie z. B. den Dialekt von Fleims oder den von Belluno, und insofern steht sie in gleicher Linie mit dem Idiome von Ampezzo, das gegen Aufgang an der neuen Straße von Pusterthal nach Italien liegt.
Nach dieser Vorbereitung nähern wir uns dem Dorfe Andraz, über hügeliges, seltsam verdrehtes Land, aus dessen Feldern noch manches Felsstück aufragt, das ein Castel d'Andraz tragen könnte. Die Leute waren mit der Roggenernte beschäftigt, denn das Klima ist hier bei weitem nicht so rauh, wie enthalb des Joches in der Abtei. Das Dörfchen durchwandelnd betrachtete ich mit vielem Interesse, obgleich nur der Race wegen, die Mädchen, die an den Brunnen heute zahlreich wuschen und bemerkte darunter manches blondhaarige Köpfchen und einmal unter einer Hausthüre drei Stumpfnäschen beisammen, wie man sie nur in Deutschland zu sehen gewohnt ist. Die Wohnhäuser unterscheiden sich nicht merklich von den in deutschen Thälern üblichen und sind zum Theil von Stein, zum Theil von Holz.
Von Andraz geht der Weg hoch am Tobel hin, mit einer herrlichen Ansicht der Giuitta, eines ehrwürdigen Schrofens, der zerrissen und zerklüftet im Thale links emporsteigt, fast symmetrisch von beiden Seiten zur schöngestalteten Spitze hinaufziehend. Zu seinen Füßen liegt tief im hintersten Winkel des Thales der See von Alleghe, hellgrün hervorblitzend zwischen dunkeln Wäldern. Zur rechten Seite dagegen fängt ein Ferner an aufzutauchen und entfaltet sich bald in voller Pracht. Es ist die Marmolata, links von der Etsch der südlichste der tirolischen Gletscher. Darauf ist vor vierzig Jahren ein Geistlicher mit seinem Hündchen in eine Eisspalte gefallen und nicht wieder, weder todt noch lebendig, ans Tageslicht gekommen. Er liegt noch steif gefroren unten in der unterirdischen, eisigen, blauen Todtenkammer, und die verborgenen [477] Fernerbäche sausen noch um das erstorbene Haupt, das sie einst in den schrecklichen Tod einlullten.
Buchenstein, das Dorf, die Pieve di Livinalongo, wie die Eingebornen sagen, der Sitz des Landgerichts, liegt gebieterisch auf dem Vorsprunge eines Abhanges, gegenüber von hohen schön bewaldeten Bergen, links die Aussicht auf die Giuitta, rechts der Blick gegen Varda hin, das in lieblich grüner Schlucht liegt – mitten durch die Landschaft und gerade unter dem kleinen Dorfe vorbeiziehend eine schauerliche stundenlange Kluft, durch welche der Cordevole dahin strömt. Von ebenen Plätzen ist hier nichts zu sehen, überall steigende Felsen und schwarze Wälder. Nur die Halde um das Dorf her prangt mit Wiesen und Kornfeldern und verliert sich oben hinauf in steilen Waldhang, gegen unten in jähen Absturz zum Wildbache. In dieser Tiefe ist ein schöner Wasserfall. Die Kirche hat einen alten, mit romanischen Säulenfensterchen gezierten Thurm, welcher sieben Glocken trägt, die einen besonders schönen Klang erschallen lassen, und zwar deßwegen, weil die Weiber einst ihre Ringe von Gold und Silber in die Glockenspeise geworfen haben sollen. Das Dorf besteht aus einem Duzend Häusern, worunter drei Gasthöfe. Das besuchteste, am meisten herrenmaßige ist das des Herrn Vinazers, der ursprünglich aus Gröden eingewandert ist und die Gäste nach Kräften und sehr billig bedient. Der Wein, der hier getrunken wird, kommt von Bassano, ist von guter, starker Beschaffenheit und einer dunkeln lockenden Goldfarbe. Auf dem Platze steht ein großes, graues, alterthümliches Giebelhaus, das stattlichste des Dörfchens, mit mittelalterlichen Fenstergittern von oben bis unten; dieß ist der Ansitz der Sisti von Sisthofen. Man muß nämlich nicht glauben, daß Buchenstein, das abgelegenste Gerichtchen in ganz Tirol, nicht auch seine vornehmen Herren gehabt; denn da sind außer den Sisti von Sisthofen, den Grones von Gronsberg, den Herren von Varda und Soratroi, von Chizzeli auch die Herren von Piazza erwachsen, die jetzt Grafen von Platz heißen. Der Ort ist der steilen Lage wegen im Winter den Lahnen aufs gefährlichste ausgesetzt und daher soll er seinen Namen Livina longo, [478] den man als Lavina longa erklärt, empfangen haben. Oft ist die Verbindung auf Wochen hin abgeschnitten und man erzählt, der Actuar, der in einem nur etliche hundert Schritte entfernten Dörfchen wohnt, sey vor drei Jahren durch einen Lawinensturz dermaßen von seinem Hause abgeschnitten worden, daß er acht Tage lang nicht mehr zu seiner Familie kommen konnte. Im letzten Jahre haben die Zeitungen wieder Aehnliches berichtet.
Eine andere Merkwürdigkeit des abgelegenen Bergdörfchens ist, daß sich hier aus dem Mittelalter bis in die neuesten Zeiten eine Brüderschaft der Flagellanten erhalten hat. Die Verbrüderten haben sich wirklich, unbekümmert um den Lauf der Zeit, noch bis in dieses Jahrhundert herein gegeißelt. Erst vor etwa zwanzig Jahren hat diese fromme Uebung ein Pfarrherr eingestellt, dieweil sich Mißbräuche aufgethan und, mit Staffler zu reden, nicht immer fromme Geißelungen statt gefunden.
- ↑ *) Klugwälsch heißen die Grödner und Enneberger, wenn sie deutsch sprechen, das Italienische. Diesem entgegensetzt ist der deutsche Name für ihre Sprache, die sie sonst ladin nennen – krautwälsch. Das d in ladin klingt übrigens wie ein weiches englisches th oder neugriechisches δ. (WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Fußnote wurde auf dieser Seite vervollständigt.)
- ↑ *) Gröden ist der deutsche Name, Gardéna der italienische, Gherdeina der ladinische.
- ↑ *) Joh. v. Müller, Schweiz. Geschichten 1. 5. „besser, meint er in Note 35, lasse sich das Ladin in Unterengadin und das Romansche kaum bezeichnen, als bei Livius V. 33. durch die Worte: – – Raeti: quos loca ipsa efferarunt, ne quid ex antiquo praeter sonum linguae nec eum incorruptum retinerent.
- ↑ *) Wenigstens lassen dieß die romanischen Hof- und Flurnamen jener Gegend annehmen, die denen des Grödnerthales vollkommen entsprechen. So findet sich z. B. bei Gufidaun: Pramstral, pra (prato) maestral; Moralt, mur alt; Pradefant, pra de fondo. In Lüsen: Piterschöll, petrisella; Kampfoß, camp de fossa; Gansör, camp de sura (sopra); Langerei, lung a rü; Pedritsch, petrazza. In Villnöß: Pramundt, pra de mont; Tschampleng, campo longo. Bei Layen: Parlung; pra longo; Pradlputz, pra del pozzo; Kolfoschg, col fosco. Bei Vels: Präckfall, pra de caval; Gaslid, caseletta; Funtenatsch, fontanazza; Petruß, petra rossa; Curtatsch, cortazza. Uebrigens kann man aus diesen Wörten schließen, daß z. B. in Vels und Lüsen das Deutsche älter ist, als in Layen und Villnöß, weil die Formen Kampfoß, Gansör, Präckfall, Gaslid zeigen, daß zur Zeit, als sie noch von romanischem Munde gesprochen wurden, der französirende Uebergang des ca in tscha, wie er sich jetzt in Gröden findet, in jenen Gegenden noch nicht eingetreten war, wogegen z. B. Tschampleng in Villnöß das Gegentheil darstellt. Auch aus Urkunden bei Sinnacher ließe sich vieles hieher Gehörige anführen.
- ↑ *) Um den Leser, der am Sprachlichen keine Freude hat, nicht aufzuhalten, wollen wir nur in der Note etwas näher auf die Sache eingehen. Es ist nicht zu läugnen, daß sich diese Dialekte in vielen Erscheinungen auf einer Fährte betreffen lassen, die auch das Lateinische in Gallien eingeschlagen hat. Pater ist ihnen ebenfalls zu pere geworden, ja mit weit getriebener Analogie haben sie auch aus latro (Dieb) ein lere gemacht. Da[s] [439] Französische nez, chef, chez (causa), sind hier durch nes, tgiè, tgiesa ersetzt, wobei jedoch zu bemerken, daß die beiden Idiome in diesem, wie in manchem andern Punkte nicht gleichen Schritt halten, sondern bald das eine dem andern, bald beide zusammen dem Französischen voraneilen, gleichwohl auch in manchen Fällen hinter diesem zurückbleiben. Der Grödner sagt tgiesa, ela (ala), mel (malum) der Enneberger tgiasa, ara (ganz dem lat. ala entsprechend, da l zwischen zwei Vocalen zu r wird wie in giarina, orontà = gallina, voluntas u. s. w.), jener dagegen frà (frater), wo dieser fre, beide miteinander aber sagen leg, lec, wo der Franzose bei lac stehen geblieben, aber auch lat, wo dieser zu lait vorgegangen ist. Die latein. Infinitive in are enden in beiden Idiomen in è (levè, arè, lat. levare, arare), was wenigstens mit der jetzigen Aussprache des Französischen zusammenfällt. Der Enneberger macht aus cor, oculus, rosa, coccinus, nox, eincör, ödl, rösa, cötsche, nött aus una, pluma, fumus, murus nach französischer Art ein üna, plüma, füm, und mür; der Grödner dagegen läßt das lateinische u in seinem Werthe und spricht dafür das o am liebsten spanisch wie ue aus, also daß ihm cor, homo, oculus, focus, coccinus, nox, ovum zu cuer, uem, uedl, fuec, cuetschung, nuet, uef werden, eine Analogie, die er auch in der Aussprache des e verfolgt, so daß herba, cervus, pretium, lectus bei ihm ierba, cierf, priesch, liet lauten. Beiden Dialekten ist gemein, daß sie das auslautende n nasaliren und daher wieder nach französischer, aber auch lombardischer Weise chrestiang, passiong, reschong (chrétien, passion, raison) sprechen; nur daß bei diesen Ladinern die Nasalirung noch durch ein schwachgehörtes g unterstützt wird. Der Uebergang des ca in tscha (tgia) entspricht ebenso dem des lateinischen ca in ein französisches cha, und wenn wir hier für campus, cavallus, canis ein champ, cheval, chien finden, so geben uns die Grödner und Enneberger gleicherweise ein tgiamp, tgiaval, tgiang. Der Enneberger ist bei der ursprünglichen Aussprache des lateinischen al geblieben, der Grödner hat sich auch hierin dem Französischen genähert und spricht altus, caldus – aut, tgiaud. Aus vicinus, vox, videre, velle (volere) macht der Enneberger visching, usch, odei, orei, der Grödner usching, ousch, udei, ulei und letzteres Verbum conjugirt er im Indicativ des Präsens sehr absonderlich also: je ue, tu ues, el uel, nous ulong, vo uleis, ei uel; im Imperfectum sagt er ie ulova und das Part. Präteritum lautet: [440] olù (voluto). Der ladinische Vocalismus, der bald an diese bald an jene der lateinischen Töchtersprachen erinnert, hat denn auch manche zu der Behauptung geführt, diese Idiome seyen aus Lateinisch, Italienisch, Französisch, Spanisch und Portugiesisch zusammengesetzt. Um hören zu lassen, wie die Sprache in fortlaufender Rede klingt, wollen wir hier eine der sechs Anekdoten mittheilen, welche Steiner ins Grödnerische übersetzt hat. Die Buchstaben ö, sch und tsch (tg) sind wie im Deutschen, ch und v wie im Italienischen auszusprechen, s im Anlaute und vor Consonanten wird wie in Wälschtirol als sch gesprochen. Die Anekdote steht am angeführten Ort Seite 46 und lautet: Una muta schöuna, che avova vuöja de se maridè, a tschiappà da si segniöura vint toleri per se fè la dota. La segniöura a ulù udei l’ növitsch. La muta l’a prsechentà. Chest fova ung buser, curt, gross, stramb, melfatt i burt assè. Prest che la segniöura l’a udù, s’a la fatt maruöja i disch: o per l’ amor de Die! chest tu es liet ora per ti növitsch i per ti uem? Co t’ es pa pödù inamurè d’ una tel persona? O mi segniöura, respuend la muta; tsche cosa pong avei de bel per vint toleri. Das heißt nun in italienische Worte umgesetzt: Una ragazza (muta) giovane, che aveva voglia di si maritare, ha ricevuto (chiappato) dalla sua signora venti talleri per si fare la dote. La Signora ba voluto vedere lo sposo (novizzo). La ragazza l’ha presentato. Questo era un villanzone (buser) corto, grosso strambo, malfatto e brutto assai. Presto che la signora l’ ha veduto si ha ella fatto meraviglia e dice: O per l’ amor di Dio! Questo tu hai scelto (eletto) per tuo sposo e per tuo nomo? Como ti hai poi potuto inamorare d’una tal persona. O mia signora, risponde la ragazza, che cosa posso avere di bello per venti talleri. Grödnerische Volksgesänge gibt es nicht. Vor einigen Jahren hat indessen jemand versucht ein Lied in dieser Sprache zusammenzubringen und dieß ist denn auch wirklich gelungen. Der Schulmeister von St. Ulrich hatte die Güte, mich eine Abschrift davon nehmen zu lassen. Es heißt: El vödl Mut, der alte Junggeselle, und spricht den Aerger aus, den ein oftmals angerannter Hagestolz über das schöne Geschlecht zu empfinden pflegt. [441] Es ist auch nicht unversucht geblieben, in der Sprache von Gröden Gedrucktes ans Licht zu fördern. Derselbe freundliche Schulmeister hat mir ein winziges Heftchen verehrt, welches den Titel führt: La Stazions o la via della S. Crousch’che cunteng de bella cunschiderazions i urazions. Metudes dal Taliau tel Parlè de Gördeina. Bulsan stamp[à] ura Carl Giusep W – (der Name ist weggerissen); zu deutsch: die Stationen oder der Weg des heiligen Kreuzes, welcher enthält schöne Betrachtungen und Gebete. Uebersetzt aus dem Italienischen in die Sprache von Gröden. Bozen, gedruckt bei Karl Joseph W. Es sind dieß kurze Gebete, wie sie bei Begehung der vierzehn Stationen üblich sind. Das Gebet für die fünfte Station, in welcher Simon von Cyrene dem Erlöser das Kreuz tragen hilft, theilen wir hier als Schluß dieser Sprachproben mit, wollen aber den geneigten Leser sich selbst darin zurecht finden lassen. Es lautet: V’ adore pra chesta quinta Stazion, salvator amabl, schudà (ajutato) dal Zirene a portè la crousch; je ve preje cun fidanza d’ armè mi euer deibl c’una gran pazienza a supertè i travajes de chesta vita, per sodisfazion de mi pichiei (peccati). Amen. Wegen der Sprachproben des Ennebergischen wollen wir lieber auf den Aufsatz des Landrichters Haller verweisen, nicht nur das Vater Unser und zwei Capitel aus dem neuen Testamente in der Sprache von Enneberg, sondern auch in jenen von Buchenstein, Fassa und Ampezzo zur anziehenden Vergleichung sich gegenübergestellt sind.
- ↑ *) Non may plus disligaides, zu Deutsch: Bindet es nicht mehr los. Der Anfang des Gedichtes, welches auch Lewald S. 158 mittheilt, lautet:
Ain künigin von Arragon was schon und zart,
dafur ich koyet zu willen raicht ich ir den bart,
mit hendlein wey so band sie darein ein ringlin zart,
lieplich und sprach: non may plus disligaides!
Von ihren handen ward ich in die oren mein
gestochen durch mit einem messin nädeleln,
nach ir gewonheit sloß sy mir zwen ring dorein,
die trug ich lang und nennt man sy: raycades. - ↑ *) Manchem Leser mag die Nachricht nicht unangenehm seyn, daß die Orte des Thales und der nächstgelegenen des deutschen [458] Gebietes in beiden Sprachen fast durchgängig verschiedene Namen haben. Wir geben hievon nachstehendes Verzeichnis: La villa heißt auf deutsch Stern; Badia, St. Leonhard oder Abtei; la val, Wengen; Lung à rü (längs dem Bach) führt bei den Pusterern einen ältern romanischen Namen, nämlich Campill. St. Vigil, wo der Sitz des Landgerichts, heißt al plang, auf der Ebene, St. Maria, was eigentlich das Dorf ist, dem die Deutschen vorzugsweise den Namen Enneberg beilegen, das aber auch „in der Pfarre“ genannt wird, heißt in der Thalsprache la pli, so viel als la pieve, plebs, die Gemeinde. Diese beiden Dörfer, St. Maria und St. Vigil, liegen in einem Seitenthale, das die Deutschen Rauthal, die Enneberger aber Val de Marò nennen. Dieser Name gilt übrigens auch für das ganze Thal, mit Ausnahme des innern Gebietes, der Abtei, und entspricht so wenigstens zum Theil dem deutschen Namen Enneberg, der wohl wie jener der enetbergischen Vogteien in der Schweiz von enet, enthalb, jenseits der Berge herrührt. Die von Marò abgeleiteten Ethnika lauten: Un Marou, ein Enneberger, una Maroura eine Ennebergerin. Außerdem nennen sich die Thalbewohner auch Ladins. Indessen haben die bescheidenen Enneberger bei ihren deutschen Landsleuten keinen der Namen durchsetzen können, auf welche sie von Rechtswegen Anspruch hätten, weder den einheimischen Marou, noch den deutschen; denn auch dieser, Enneberg, Enneberger, lebt mehr in Schriften und im Verkehr der Gebildeten, als bei den Landleuten. Diese heißen sie vielmehr die Krautwälschen und ihr Land die Krautwalsch, während doch die Einwohner von Gardena überall als Grödner bekannt sind. Die Krautwalsch gilt übrigens schon den Bauern am Eisack als ein ziemlich fern gelegenes, wenigen bekanntes Hochland, in welches sich ohne Noth niemand einläßt. In ältern lateinischen Urkunden heißt das Thal Marubium, bei den Italienern jetzo Marebbe. – Da wo der Raubach in die Gader fällt, liegt das oben erwähnte Zwischenwasser, ein Name, der nicht ganz genau dem ladinischen Lunghiega „längs dem Wasser“ nachgebildet ist. Auf der Höhe ober Zwischenwasser liegt Plaiken, welches die Thalbewohner Plüscha nennen. Jenseits des Gaderbaches, gleichfalls auf hohem Bergrücken, ist Wälschellen zerstreut, so genannt zum Unterschiede von Deutschellen, welches auf einer Hochebene links vom Ausgange des Thales zu finden ist. Dieses Wälschellen kommt in Urkunden des eilften [459] Jahrhunderts als Aelina vor und aus diesem Namen stammt sein heutiger deutscher; die Enneberger haben daraus nach der schon oben erwähnten zwischen zwei Vocalen vorgehenden Umwandlung des l in r zuerst Erina und aus diesem Rina gemacht. In einem Seitenthale, dessen Bach oberhalb Zwischenwasser in die Gader fällt, liegt Antermeia, von den Deutschen Untermoi genannt. Ungefähr eine Stunde unterhalb Zwischenwasser ist die Sprachgränze. Dort steht ein einzelnes Wirthshaus, bei den Ennebergern Pera forada „am durchbrochenen Stein“ geheißen, ein Name der bei den Deutschen Pelfrad lautet. In diesem einschichten Hause wirthschaften seit langen Zeiten ladinische Leute; eine halbe Stunde weiter aber liegt ein anderes Wirthshaus, Saalen, welches als der Anfang der deutschen Sprache gilt, da dort Pusterer seßhaft sind. Dieses Saalen heißt bei den Ennebergern Sares; in ältern Urkunden wird es Susulona genannt. Beide Orte liegen auf dem rechten Ufer des Gaderbaches; auf dem linken ist der letzte ladinische Ort das genannte Wälschellen, der erste deutsche das eine Stunde davon gelegene Ohnach, auf ladinisch Ognies. Westwärts ist der Bereich der Sprache sehr genau abgezeichnet durch die Dolomitmauer, welche sich vom Langkofel an den Thälern von Campill und Untermoi hinabzieht und auf deren linker Seite die Gebiete von Gröden und die jetzt deutschen Thäler von Villnöß, Affers und Lüsen liegen. Die östliche Gränze verliert sich im wilden Gebirge, das gegen die neue Straße von Ampezzo hin in verschiedene kleine Thäler sich einsenkt. Auf den dortigen Alpen stehen vielfältig sehr niedlich gebaute und mit heizbaren Zimmerchen versehene Sennhütten in dörflichen Haufen beisammen, unsichtbar für alle, die im Thale hinab wandern, freundliche Ueberraschung für den, der an den kahlen Wänden hinaufgestiegen und da von altherkömmlicher Gastfreundschaft Obdach und Erquickung findet. Sie sind nur den Sommer über von den Ennebergern bewohnt und werden im Herbst verlassen. – Der Dialekt von Ampezzo hat wieder manche Eigenthümlichkeiten und wird daher von vielen als in einer Linie mit dem Grödnerischen, Ennebergischen und Fassanischen stehend, nicht zum ächten Italienisch gerechnet. Zu diesen innerthalischen Namen wollen wir noch einige ladinische für die nächstgelegenen Orte im Pusterthale stellen. So heißt also Brunecken Burnec, Michaelsburg tschiastel de mür, [460] Stegen San Simong, Ollang Val Daura, Taufers Düresch, Innichen San Ghiane (S. Candidus), Sillian Soriang, Lienz Lienza. Auffallend ist, daß im Innern des Thales selbst mehrere der bedeutendern Höfe deutsche Namen führen. So heißt sogar in dem entlegenen Corvara der Hof Arlara bei den Deutschen: zum Maier am Zirm.
- ↑ *) Genau genommen ist gannes der Name der weiblichen Wilden, denn die Männer heißen Salvang. Der Name ganna selbst scheint in altdeutsche Mythologie hinein zu spielen. (S. deutsche Mythologie von Jacob Grimm S. 375 und 279 und 413 in den Noten.) WS-Anmerkung: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Fußnote wurde auf dieser Seite vervollständigt
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: niegelassen
- ↑ Schlacht bei Marengo brachte Napoleon am 14. Juni 1800 den entscheidenden Sieg über die Österreicher
- ↑ Vorlage: Erkerthürmchrn
- ↑ Pectiniten, versteinerte Kammmuscheln
- ↑ Ammoniten, ausgestorbene Gruppe ausschließlich mariner Kopffüßer
- ↑ Petrefact, frühere Bezeichnung für Fossil
- ↑ Vorlage: Mißhandhandlung
- ↑ Vorlage: vnn
- ↑ Vorlage: Ennebergerge
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