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Drei Sommer in Tirol/Nachtrag 2

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[605]
Nachtrag.

[607] – – – Die gute alte Zeit ging für Tirol etwa mit dem vorigen Jahrhundert zu Ende. Was vor diesem liegt, ist jetzt zum Ideal geworden, und es fehlt auch gewiß nicht an Zügen die sich zur Ausmalung desselben verwenden lassen. Mögen sie auch etwas anachronistisch benützt werden, die verschmelzende Hand der Zeit hat sie einmal eng an einander gerückt und der ungelehrte Bürger und Bauer denkt nicht mehr daran zu sondern.

Vor allem schmückt dieß Ehemals die Erinnerung, daß eigene Fürsten habsburgischen Geschlechtes im Lande saßen, deren Hoflager unter den Erzherzogen Ferdinand, Maximilian und Leopold zu den glänzendsten in Deutschland gehörte, deren Kunstsinn und Prachtliebe die Heimath mit manchem köstlichen Kleinod beschenkte, das noch lange hernach die Grafschaft zierte. Man weiß, daß einmal die Bergwerke einen wahrhaft fabelhaften Segen geboten, Tirol in diesem Belang zum wichtigsten Lande Europa’s gemacht, den Landesherren wenigstens zu vielsagenden Namen verholfen,[1] bürgerliche Berggewerkleute zu adeligen Ehren und fürstlichen Reichthümern gebracht, und großes Vermögen unter Stadt- und Landvolk verbreitet haben. Dazumal setzten auch noch die Imster ihre Canarienvögel in Ducaten um, die Stubeier machten Gold aus ihrem Eisen die Grödner bereicherten sich mit den Reichthümern Spaniens die Tesineser versorgten zu ihrem größten Vortheile den [608] halben Welttheil mit ihren frommen Bildern, die armen Lechthaler kamen reich aus Holland zurück – es blühten viele Industriezweige, die seither ganz eingegangen sind oder doch durch den Umschwung der Verhältnisse an Einträglichkeit bedeutend verloren haben. Der Durchzughandel warf viel Gewinn ab und die Bozner-Messen, die alten Haller-Märkte trugen wenigstens örtlich bei einen ansehnlichen Wohlstand zu begründen. Die Abgaben waren gering, die Einnahmen groß – fröhlicher Lebensgenuß in Tirol zu Hause wie in seiner Urheimath. Die Stände hatten auch noch ein kräftiges Wort in öffentlichen Angelegenheiten einzureden, und man that nicht klein mit den vielen schönen Freiheiten, welche die Noth der Fürsten, die Gunst der Zeiten und dreistes Zugreifen der biedern Landleute allmählich der gefürsteten Grafschaft zu Wege gebracht. Dieß freisamere, reichere, stolzere Leben ist dem Tiroler sehr fest im Gedächtnisse hängen geblieben und wo er immer auf eine Parallele geführt wird zwischen dem was ist und dem was war, da lispelt er leise: „Es heißt halt a nicht mehr!“ Diese Worte kehren jetzt so oft wieder, als wären sie der Wahlspruch von Tirol.

Der Krieg von Anno Neune, diese energische Protestation des tirolischen Provincialismus gegen die Einschmelzung in das damalige Bayerthum, dieser Krieg hat die Tiroler zu seiner Zeit in allen Ländern verherrlicht, wo die Franzosen verhaßt waren. „Es ist eine himmlische Wohlthat Gottes, an der wir alle gesunden könnten, eine solche Revolution“ schrieb damals Bettina an Goethe, und wie sie schrieb, so dachten Millionen. Es schien eine erhebende Erinnerung begründet für alle Zukunft.

Das große Jahr endete zwar über zerknickten Hoffnungen, gebrochenen Herzen und beweinten Leichen, allein der König, dem man so wehe gethan, war milde und vergab. Man tanzte wieder bei den Friedensfesten versöhnlich zusammen, Bayern und Tiroler, und schickte sich an, die Großthaten beiderseits zu vergessen. Der Kronprinz von Bayern, als General-Commandant im Inn- und Salzachkreise, wußte sich nicht minder als seine Gemahlin große Beliebtheit zu erwerben. [609] Die Regierung, die damals über den Innkreis, wie das bayerisch gebliebene Tirol nun hieß, zu Innsbruck eingesetzt war, waltete versöhnend und suchte die scharfen Wunden zu lindern, so viel die schwere Zeit erlaubte. Ob man sich ganz aufrichtig glücklich gefühlt, ist freilich zu bezweifeln, denn der Tiroler Herz stand zu Oesterreich; aber so viel ist gewiß, daß die Verwaltung des Freiherrn von Lerchenfeld, wie sie vom Jahre 1810 bis 1814 geführt wurde, von allen Urtheilsfähigen als musterhaft betrachtet wird.

So kam das Jahr 1814 herbei und mit ihm kam Tirol wieder an Oesterreich. Auch das Jahr 1816 erschien und während desselben zeigte sich der ersehnte Kaiser Franz zu Innsbruck. Man meinte in ihm die gute alte Zeit selbst wiederkehren zu sehen und der Jubel war unermeßlich. Es gab wieder ein Land Tirol und die Tiroler huldigten feierlich, „um ihre durch alle Stürme einer verhängnißvollen Zeit unter den schwersten Prüfungen so glänzend bewährte Treue und Anhänglichkeit neu zu bekräftigen.“ Es waren Tage des hellsten Freudenrausches und in der momentanen Freiheit mochte auch die milde bayerische Spannung, der man so eben entkommen war, sehr drückend erscheinen – es fehlte nicht an Demonstrationen, die der nächsten Vergangenheit einen Charakter aufdrücken wollten, den sie, so lange sie Gegenwart gewesen, kaum gezeigt hatte.

Man war also im Jahre 1816 und sah einer rosigen Zukunft entgegen. Was vor allem beruhigte und erfreute, war, daß der religiöse Boden wieder fest stand. Die frechen Aergernisse im Bereich des Glaubens, wie sie etliche bayerische Beamte, zumal in der Zeit vor dem Aufstande verübt, die waren nicht mehr zu befürchten, und überhaupt sollte die kühle, aufgeklärte Haltung, welche die bayerische Regierung gegen die Kirche angenommen, in ein warmes Freundschaftsverhältniß übergehen, wie es der frommen Kirchlichkeit des Volkes entsprach. Und so kamen denn auch schnell die abgeschafften Feiertage zu Ehren, alle Nebenandachten wurden wieder freigegeben, Gott der Herr ward wieder mit Glocken begrüßt, wenn er in Gewittern vorüberfuhr, und die Geburt des Heilands wie früher gefeiert [610] in der heiligen Stille der Christnacht. Auch gedieh es zur großen Freude des Volkes, als die alten Abteien und Stifter, die geliebten Klöster wieder sich bevölkerten und die früheren Würden neu erhielten. Wenn es Bayern in diesem Fache besser verstanden hätte, so wäre es, wie man sagt, selbst dem theuern Oesterreich in seinem Feuereifer für die Freiheit der Völker kaum möglich gewesen, ein Anno Neun zusammen zu bringen.

Weniger Lust, den früheren Zustand wieder herbeizuführen, bezeigte man in Militärsachen. Ehemals hatte der Tiroler in Kriegszeiten keine andere Pflicht, denn als Landwehrmann auf den Sammelplätzen zu erscheinen, wenn die „Kreidenfeuer“ auf den Höhen aufloderten und die Sturmglocken erschollen. Dann diente er nur gegen den eingedrungenen Feind in seinen Bergen; von allem andern Waffendienste war er frei. Dieß war so regulirt und bestimmt worden durch das Landlibell Kaiser Maxens von 1511, und die Einrichtung hatte sich trefflich bewährt, sowohl im Jahre 1703, als auch in den Kriegen der neunziger Jahre.

Kaiser Joseph gedachte die Conscription einzuführen, allein diese Neuerung war so verhaßt, daß er 1789 den Befehl selbst wieder suspendirte. Sein Nachfolger ging von der Maßregel gänzlich ab und es verblieb nur ein Regiment, welches durch freie Werbung erhalten wurde.

Bayern kam auf die Conscription zurück, fand aber dabei große Widerspenstigkeit; ja dieser Zwang zum Kriegsdienst war auch mit eine Hauptbeschwerde der Aufständischen. Kaiser Franz konnte es gleichwohl unbehelligt wagen, die Aushebung fortdauern zu lassen. Es wurde im Jahre 1815 ein Jäger-Regiment zu fünfthalbtausend Mann errichtet, das lediglich aus eingebornen Landeskindern von Tirol und Vorarlberg gebildet und in Friedenszeiten nur im Lande vertheilt seyn sollte. Der Kaiser übernahm selbst die Inhaberschaft, und man heißt das Regiment daher die Kaiserjäger. Als besondere Vergünstigung war es anzusehen, daß der Kaiserjäger nur acht Jahre dient, während das Linienmilitär bis vor kurzer Zeit einen Dienst von vierzehn Jahren zu überstehen hatte. Durch häufigen Urlaub läßt sich auch jene Begnadigung [611] noch versüßen. Mit der Einschränkung auf die engen Gränzen von Tirol wird’s indessen nicht streng gehalten. Die italienischen Wirren haben vor längern Jahren einmal die Anwesenheit der Kaiserjäger am Po nothwendig gemacht und seit jener Zeit ist auch eine Abtheilung dort geblieben. Sie ergeht sich noch immer in den kunstreichen Städten Italiens, zu Ferrara, Rovigo, Vicenza u. s. w. Im übrigen ist der Kaiserjäger in seiner grauen, grünaufgeschlagenen Jacke und dem Federhute etwas streng gehalten und muß, wenn er’s verdient, wohl auch ausgiebige Prügelstrafen erstehen. Trotzdem hat der junge Krieger, so wenig er sich auf den Einstand gefreut, doch immerhin einen gewissen Stolz ein Kaiserjäger zu seyn, und seine Befriedigung wächst noch, wenn er die Dienstzeit zurückgelegt und damit, sofern er vorher ein ungeschlachter Mensch gewesen, auch etwas Haltung, Unterricht und Lebenserfahrung gesammelt hat. Es ist zu bezweifeln, ob Franz I den Tirolern ein angenehmes Geschenk gemacht, als er ihnen das Kaiserregiment verehrte. Wie aber auch damals die Stimmung der Entgegennehmer gewesen seyn mag, man betrachtet jetzt die Einrichtung als etwas, das sich von selbst versteht. Die Loosung das „Löseln“ wird bei den Landgerichten vorgenommen und es ist ein anziehender Anblick, bei solcher Gelegenheit die schöne, starke Jugend der Berge beisammen zu sehen. Fast allgemein ist die Uebung, daß die Loosenden ein paar Thaler, oft auch ein paar Goldstücke auf den Tisch werfen, die dann gesammelt und denjenigen übergeben werden, die das Loos bestimmt hat, aus ihrer Mitte scheiden zu müssen.

Uebrigens wird gleichwohl die allgemeine Verpflichtung zur Landesvertheidigung noch für bestehend erachtet, und die Stände sind verbunden, außer dem Jägerregimente noch 20,000 Mann bereit zu halten, welche in vier Abtheilungen – Zuzüge genannt – zu fünf-, zehn-, fünfzehn- und zwanzigtausend Mann aufgeboten werden, so wie Feindesgefahr es nöthig macht. Ist damit nichts auszurichten, so erhebt sich das Volk in Masse, und das heißt der Landsturm. Indessen sind die Zuzüge zur Zeit nicht organisirt.

[612] Es wird von der Regierung manches gethan, um die wehrsame Geschicklichkeit der Schützen im Frieden nicht verloren gehen zu lassen. Zu Erhaltung derselben sind vorzüglich die privilegirten Schießstände bestimmt, welche vom Landesfürsten kleine aufmunternde Schießgaben erhalten zu Preisen für die besten Treffer. Es ist dem Lande Tirol dafür ein jährlicher Betrag von 1757 fl. C. M. ausgesetzt. Der privilegirten Schießstände finden sich in Tirol ohne Vorarlberg hundertzweiunddreißig, und zwar in den deutschen Kreisen hundertfünfundzwanzig, in den beiden wälschen, Trient und Noveredo, nur sieben. Außerdem ist aber das Scheibenschießen ein Nationalvergnügen und wird weniger zwar in den ärmern Hochthälern desto lebhafter aber in den wohlhabendern Gegenden am Lande betrieben. Dort steht fast neben jedem Dorfe, neben jedem Schlosse oder Ansitz eine eigene Schießstätte. Neues Leben hat diese fast einzig übergebliebene Volksbelustigung durch eine in diesem Jahre ergangene Verordnung erhalten, die mit großer Freude aufgenommen wurde.

Bis ins vorige Jahrhundert herein waren alle Zugänge Tirols mit Vesten, Klausen und Schanzen bewahrt. Mehrere bestanden nur aus einem festen Thurme mit etlichen Zugebäuden; manche waren sehr ansehnlich und müssen viel Geld gekostet haben. An der Scharniz zumal hatte die Erzherzogin Claudia († 1648) viele tausend Gulden verbaut und sie deßwegen auch mit dem Namen Porta Claudia beehrt. Kriegsläufe und geflissentliches Aufgeben haben jetzt alle diese Gränzwehren in Trümmer fallen lassen, bis auf die Veste Kufstein, an der bayerischen Gränze über dem Inn gelegen, welche noch in gutem Stande erhalten wird. Statt solcher Befestigungen an den Landesmarken hat es neuere Kriegsweisheit räthlich gefunden, im Herzen von Tirol zwei neue anzulegen und zwar die eine oberhalb Brixen auf dem Wege nach dem Brenner, die andere bei Finstermünz. Diese sperrt die obere Straße, jene die untere, und so hat man sich denn vollkommen in Stand gesetzt, jede Vereinigung feindlicher Heere, die aus Italien und von Deutschland her eine Verbindung [613] durch Tirol suchen möchten, gänzlich zu verhüten. Die neue Franzensveste bei Brixen ist besonders ein stattlicher Bau.

Die Tiroler, die nun einmal wenig von dem Fortisicationswesen verstehen, sind diesen neuen Erscheinungen, die so voll Kanonen mitten im Lande sitzen, nicht besonders geneigt. Es scheint sie das Geld zu reuen, das dafür ausgegeben worden, und sie meinen für die vielen Millionen, welche die Franzensveste aufgezehrt, hätte man nützlichere Dinge zu Stande bringen können, wie allenfalls die Regulirung der Etsch und dergleichen. Auch erinnern sie sich, daß das reguläre Militär in Tirol nie viel Glück gehabt, und sie vermuthen, vorkommenden Falls möchten sich da wieder mißliebige Begebenheiten einstellen. Man mag ihnen entgegenhalten, daß die Unternehmung nicht aus Landesmitteln durchgeführt worden sey und Tirol gar nichts dazu gegeben habe – gleichwohl kann man nicht an der Brixnerveste vorbeikommen ohne leise Seufzer zu hören über das schwere Geld, das dieser Bau gekostet.*)[2]

Es ist bisher noch nicht gelungen, die Geschichte der tirolischen Stände bis auf ihre ersten Keime zurückzuführen. Ein oft angerufener Bundesbrief, den im Jahre 1323 am Sonntag nach Margarethen die Herren, Ritter und Knechte, Städte, Märkte, Gerichte und Thäler der Grafschaft zu Tirol und der Landschaft an der Etsch und in dem Innthale und der drei Bisthümer zu Trient, zu Chur und Brixen miteinander aufgerichtet haben sollen, wird deßwegen nicht für beweisend [614] weisend erachtet, weil er nur mehr in einer unbeglaubigten Abschrift vorliegt und an einem bedenklichen Anachronismus leidet. Sowohl unter Ludwig dem Brandenburger als auf den beiden Landtagen, welche 1361 zu Meran und 1363 bei der Uebergabe der Grafschaft an die Herzoge von Oesterreich zu Bozen abgehalten wurden, traten übrigens die nachmaligen vier Stände schon kennbar und deutlich hervor, wenn auch der Bauer erst seit Friedrich mit der leeren Tasche, der ihm so viel verdankte, seine standschaftlichen Rechte gesichert sah. Mit den Jahren entfalteten sich die Formen der ständischen Vertretung immer reichlicher, und in den letzten Zeiten vor der durch die bayerische Regierung verfügten Aufhebung hatte sie ungefähr folgenden Bestand:

Die vier Stände waren der Prälatenstand, der Herren- und Ritterstand, der Bürgerstand und der Bauernstand.

In voller Anzahl erschienen die Stände auf den offenen Landtagen, welche früher oftmals, von 1720 bis 1790 aber nicht mehr berufen wurden. Der letzte offene Landtag in seinem ganzen alterthümlichen Glanze trat im Jahre 1790 zusammen, als Kaiser Leopold den Tirolern, sintemalen sie durch die Reformen seines Vorgängers schwierig geworden, Gelegenheit geben wollte, ihre Wünsche und Beschwerden in feierlicher Versammlung darzulegen. Dazu erschienen vom Prälatenstande die Gesandten der Fürstbischöfe von Trient und Brixen, welche bis in die letzten Zeiten die Territorialhoheit Oesterreichs bestritten und sich am liebsten Conföderirte nannten; ferner die Abgeordneten dieser beiden Domcapitel, der deutsche Ordens-Commenthur an der Etsch und im Gebirge, die Pröpste der Collegiatstifte von Bozen und Innichen (ersterer für die Aebtissin des aufgehobenen Klosters Steinach bei Meran), die Pröpste der Augustinerstifte zu Wälschmichael, Grieß und Neustift, die Aebte von Wilten, Stams, Marienberg und Georgenberg (Viecht), endlich die Aebtissin des Damenstifts zu Innsbruck für das aufgehobene Kloster Sonnenburg; für den Prior der Karthause zu Schnals trat das Collegiatstift Arco ein.

[615] Vom Herren- und Ritterstande erschienen bei offenen Landtagen alle Tiroler Landmänner, sofern sie zu ihren Tagen gekommen waren, d. h. die Jahre der Mannbarkeit erreicht hatten. Tiroler Landmann ist aber nicht jeder Adelige, sondern nur derjenige, dessen Geschlecht in die Adelsmatrikel der gefürsteten Grafschaft eingetragen ist, und es kommt dann nicht darauf an, ob er Grundbesitz habe oder nicht. Ehemals erschienen mit dem Herren- und Ritterstand auch besonders begnadigte Bauern, nämlich die Freisassen von Nauders und Goldeck, denen durch uralte Privilegien dieses Ehrenrecht verliehen war; aber die Freisassen von Nauders waren seit dem Landtage von 1633 dergestalt verschollen, daß man sie später nicht mehr zu erfragen wußte, und die Freisassen von Goldeck wurden 1790 nicht mehr unter dem Adel, sondern unter den Gerichten (den Bauern) aufgerufen. Dazumal traten also theils in Person, theils durch Bevollmächtigte nicht weniger als fünfhundertfünfzig Herren und Ritter auf.

Aus der Mitte des Adels wurde der Landeshauptmann erwählt. Das Amt des Landesmarschalls war erblich bei den Herren der Burg Sprechenstein bei Sterzing.

Der Bürgerstand schickte die Deputirten der zwölf immatriculirten alttirolischen Städte Meran, Bozen, Innsbruck, Hall, Sterzingen, Lienz, Glurns, Rattenberg, Kufstein, Kizbühel, Roveredo und Arco.

Der Bauernstand war vertreten durch die Deputirten der alttirolischen immatriculirten Gerichte. Jedes derselben besandte den Landtag mit zwei Bevollmächtigten.

Die Abgabe der Stimmen geschah curienweise, so daß jeder Stand nur eine Gesammtstimme hatte. Uebrigens war der offene Landtag ebensowenig öffentlich als die andern ständischen Versammlungen, die ihn ersetzten. Nur in ältern Zeiten wurden die zwischen den Ständen und dem Landesfürsten gewechselten Schriften gedruckt; dieß unterblieb aber seitdem die letzte Nebenlinie von Tirol ausgestorben war.

Wegen des großen Aufwandes, den diese offenen Landtage verursachten, suchte man sie schon frühzeitig durch einen Ausschuß zu ersetzen: Im Jahre 1519, nach dem Tode Kaiser [616] Maximilians, trat zum erstenmale unter dem Direktorium des Landesmarschalls der große Ausschuß zusammen, welcher aus fünfundvierzig Stimmführern, Vocalen, zusammengesetzt war und die Gewalt hatte, „alles was in jetzigem und vorigen Landtagen beschlossen worden, auch ansonsten vorfallen und nöthig seyn möchte, mit und neben der Regierung zu besorgen.“ Auch diese Anstalt blieb nicht das regelmäßige Organ der Ständegewalt, vielmehr wurde es bald der engere Ausschuß, der allmählich die volle Wirksamkeit der ehrsamen tirolischen Landschaft ausübte.

Dieser engere Ausschuß versammelte sich zum erstenmale im Jahre 1570, berufen von Erzherzog Ferdinand zur Berathschlagung über die Mittel, einer hereingebrochenen Getraidenoth zu steuern, und kam seit 1728 alle Jahre regelmäßig in Innsbruck zusammen. Er bestand aus den vier Stimmführern, von Trient und Brixen, aus vier „Erkiesenen“ des Prälatenstandes, fünf „Verordneten“ des Herren- und Ritterstandes, sechs Deputirten der Städte und sechs Deputirten des Bauernstandes.

Außer diesen ständischen Körpern bestand noch seit 1720 zu Innsbruck die perennirende Activität, zu welcher jeder Stand ein Mitglied stellte. Sie hatte die Aufgabe, die Beschlüsse des engern Ausschusses durchzuführen und die laufenden Geschäfte zu erledigen.

Das wichtigste Recht der tirolischen Stände war das der Selbstbesteuerung. Der Landesfürst hatte keine Macht, ohne Einwilligung der Stände neue Steuern zu erheben, und für jede Bewilligung stellte er einen Revers aus, daß sie den Landesfreiheiten nicht nachtheilig seyn sollte. Deßwegen hatten auch die Stände die Einhebung der Grundsteuern durch ihre Beamten zu besorgen und außerdem standen ihnen noch andere Gefälle zu. So stellte sich ihre Einnahme auf jährlich fünfmalhunderttausend Gulden, welche freilich allmählich nicht mehr zureichten, da außer dem Postulate, den Kosten der Verwaltung und einigen Beiträgen zu öffentlichen Anstalten auch die Zinsen der ständischen Schulden bestritten werden mußten, und selbige beliefen sich über dreimalhundertausend [617] Gulden. Diese Schulden aber stammten aus der Zeit Erzherzog Ferdinands, des Stifters der Ambraser Sammlung, der einmal seine treuen Stände und nicht ohne Erfolg gebeten hatte, zur Erleichterung seiner betrübten Umstände 1,600,000 fl. landesfürstliche Schulden auf ständische Rechnung zu übernehmen. Seit diesen Tagen waren sie immer lästiger angewachsen. Nebst dem Rechte der Selbstbesteuerung sprachen die Stände auch den Beirath zur Gesetzgebung in Justiz- und Polizeisachen an, hatten ihn auch zeitweise sehr kräftig geltend gemacht, aber die Regierung wollte ihnen später in diesen Dingen ebensowenig eine Mitwirkung gestatten, als sie ihre Beistimmung zu Krieg und Frieden einholte, während man auch dieses Recht aus einer Stelle des alten Landlibells und einem Vertrage mit Kaiser Max ableiten zu können vermeinte. Eine Magna Charta welche sämmtliche Rechte der Stände bestimmt hätte, bestand nicht; sie beruhten auf dem Herkommen, der Gepflogenheit, und auf landesherrlichen Reversen und Freiheitsbriefen.

Dieß war in allgemeinen Umrissen die alte ständische Verfassung von Tirol. Sie hatte sich oft sehr zweckmäßig gezeigt im Widerstand gegen landesfürstliche Geldforderungen wie gegen äußere Feinde, und viel höher war ihr in den letzten Zeiten die Aufgabe nicht gestellt. Maximilian von Bayern hat sie am 1 Mai 1808 aufgehoben, indem er dem engern Ausschuß vermelden ließ, er gedenke seinem Reiche eine neue Constitution zu geben, dabei auch eine allgemeine Nationalrepräsentation erstehen zu lassen, und demnach sey es sein Wille, daß die Provinziallandschaften aufgelöst würden. Man hat behauptet, es habe diese Verfügung in Tirol wenig Aufregung verursacht: so viel ist richtig, daß sie ein Jahr darnach desto emsiger ausgebeutet wurde. Die Krone Bayern hatte im Preßburger Frieden die gefürstete Grafschaft übernommen mit allen Freiheiten, Rechten und Titeln, wie sie der Kaiser von Deutschland und Oesterreich besessen hatte, et pas autrement, und nicht anders. Diese Worte wurden von den Leitern des Aufstandes gern und oft wiederholt.

[618] Als das Land wieder mit Oesterreich vereiniget war, erinnerten sich die Tiroler auch gerne ihrer alten Privilegien und manche mochten vielleicht hoffen, sie würden jetzt nach einem siebenjährigen Schlummer frischer und blühender wieder auferstehen, als sie zu Schlafe gegangen. Man legt dem Kaiser Franz ein Wort in den Mund, das zu damaliger Zeit erflossen, solchen Wünschen nicht gerade günstig scheinen mochte. Die Vorstellungen, welche die Tiroler damals ihrem kaiserlichen Herrn überreichten, lassen auch fast schließen, sie hätten Gründe gehabt, wegen der Wiederherstellung ihrer Freiheiten besorgt zu seyn. Sie ergehen sich in ausführlichen Motivirungen ihrer Ansprüche, die kaum nothwendig waren, wenn die Ueberzeugung galt, daß sie auf Seiten des Landesfürsten nicht beanstandet werden würden. „Mehr als Tirol, sagt eine Vorstellung etlicher Tiroler Stimmführer, welche zu Wien am 23 Junius 1814 abgefaßt wurde, *)[3] mehr als Tirol im Jahre 1809 für das allerhöchste Interesse Ihrer Majestät und für das ihm wiedergeschenkte Kleinod seiner alten Verfassung kann kein Land thun.“ Man erlaubte sich daher, den Monarchen an das früher so oft gegebene Kaiserwort zu erinnern und bemerkte, wie es der allerhöchsten Gnade, dem großen Vaterherzen Seiner Majestät nicht angemessen sey, daß die Spuren der unglücklichen Begebenheiten, unter denen die Völker gelitten, gerade in Tirol für alle folgenden Jahrhunderte durch den Verlust der Verfassung, an welche des Tirolers Existenz geknüpft sey, verewigt werden sollten.

Indessen zeigte Franz nach kurzer Zeit, daß es nicht seine Absicht war, den Tirolern ihre Verfassung vorzuenthalten. Er stellte sie wieder her und zwar, wie im Patent vom 24 März 1816 gesagt ist, aus Gnade, doch in voller Anerkennung der vielfältigen Verdienste und der hochherzigen Gesinnungen der biedern Bewohner des Landes Tirol; jedoch „mit denjenigen Verbesserungen, welche die veränderten Verhältnisse [619] und das Bedürfniß der Zeit erheischen.“ Nach diesen Verbesserungen ist der Bestand der tirolischen Verfassung in kurzem folgender:

Die Möglichkeit eines offenen Landtages ist vorausgesetzt, doch sind bisher die besondern Fälle nicht eingetreten, welche seine Berufung veranlassen konnten. Der engere und der größere Ausschuß sind antiquirte Formen, und statt ihrer ist allerdings zum Ersatz des letztern als regelmäßiger Repräsentationskörper der große Ausschußcongreß eingesetzt, der sich alle Jahre im Mai zu Innsbruck versammelt. Er besteht aus den vier Ständen, deren jeder dreizehn Repräsentanten aufstellt, so daß der Congreß zweiundfünfzig Mitglieder zählt. Auf der Prälatenbank sitzen die beiden Fürstbischöfe von Trient und Brixen, welche jetzt in Person erschienen, die Verordneten ihrer beiden Domcapitel und der des Damenstifts zu Innsbruck, die Aebte von Wilten und Stams, der Propst von Neustift, die Aebte von Marienberg und Viecht, endlich der Propst des Collegiatstiftes Innichen. Für die noch nicht wieder hergestellten Stifter zu Gries und Wälschmichael werden die Pröpste von Bozen und Arco als Vertreter aufgestellt.

Für den Herren- und Ritterstand wurden die Verordneten anfangs von gesammten tirolischen Landmännern gewählt; im Jahre 1838 aber ist durch landesfürstliche Entschließung den beim Congresse versammelten Repräsentanten des Adels das ausschließende Wahlrecht übertragen worden.

Die Vertretung der Städte hat eine Stimme gewonnen, da die fünf ehemals bischöflichen und auf dem Landtag nicht vertretenen Städte Trient, Riva, Brixen, Klausen und Brunecken mit ständischen Rechte zu begaben waren. Es ist daher bestimmt worden, daß Roveredo mit Arco, Trient mit Riva und die drei Brixnerischen Städte unter sich je eine Wechselstimme führen sollen. So treten denn statt der ehmaligen zwölf alttirolischen Städte jetzt dreizehn auf.

Um die gesetzliche Anzahl der Repräsentanten des Bauernstandes herzustellen, wird das Land ungefähr nach der alten Weise in dreizehn Wahlbezirke, zehn Viertel und drei Gerichte [620] geschieden, und jedem anheimgegeben, einen Vertreter abzuordnen. Die Ausschußmänner der zum Viertel gehörigen Gerichte senden zwei Deputirte nach dem Orte der Wahlconferenz, die dort unter Leitung eines hiezu ermächtigten Landrichters die Wahl des Vertreters nach Stimmenmehrheit vollziehen. Bei dem unbedingten Vertrauen, das der Tiroler Landmann zur Zeit in die höheren Einsichten seiner Obrigkeit zu setzen gewohnt ist, möchte es diesen Wählern schwer werden, sich von dem Einfluß der Landrichter immer ganz frei zu erhalten. Uebrigens hängen alle Wahlen von der landesfürstlichen Bestätigung ab, und die Wirksamkeit eines Repräsentanten endet sich regelmäßig nur mit dessen Tode. Ersteres verhütet das Eindringen unlieber Personen, letzteres dämpft den ständischen Ehrgeiz, da keine Wiedererwählung in Frage steht. Jeder Vertreter bezieht des Jahres für Präsenzgebühren und Reisegelder einen Betrag von 300 fl.

In den Congreßsitzungen hat der Landeshauptmann das Präsidium. Der Landeshauptmann als Vorsitzer der ständischen Collegien, als ihr Sprecher gegenüber Seiner kaiserlichen Majestät, war in ältern Zeiten eine sehr wichtige Person; er galt, wo immer die Stände mit der Regierung in Uneinigkeit geriethen, als der Pfeiler des Widerstandes. Es war daher in Kaiser Josephs Sinn nicht übel angelegt, als er verordnete, die Stelle des Landeshauptmanns solle künftighin mit der des Landesgouverneurs vereinigt seyn. Auf dem offenen Landtage von 1790 wurde indessen den Ständen verkündigt, daß Kaiser Leopold diese beiden Würden wieder trennen und der Landschaft gestatten wolle, dem Hofe zur Ernennung des Landeshauptmanns einen dreifachen Vorschlag zu machen. Diese Entschließung wurde unter Trompeten und Paukenschall und ungeheuerm Beifallruf verlesen. Freilich war der schon lange verhallt, als Kaiser Franz neuerdings dieselben Aemter vereinte, welche sein Vorfahrer auseinander gethan hatte. Man mag sich billig wundern über das Zutrauen dieser Zeiten, welche zwei ihrer Natur nach so verschiedene Gewalten ohne Arg in einem Haupte nebeneinander[WS 1] ruhen sehen.

[621] Der Landeshauptmann, als Präsident der Sitzungen, bezeichnet die Gegenstände der Berathung, entscheidet bei gleichen Stimmen und eröffnet den Beschluß. Dem Landeshauptmann zur Linken sitzt der Landesmarschall, der ohne eigenes Votum über ordnungsmäßige Abgabe der Stimmen wacht. Seine Würde ist wie früher ein erbliches Mannslehen, das auf der Burg zu Sprechenstein ruht und jetzt dem Fürsten von Auersperg zusteht, der sich aber gewöhnlich vertreten läßt. Bei der Abstimmung wird zuerst ein Mitglied des Prälatenstandes, dann einer der Herren, dann ein Vertreter der Städte, zuletzt einer aus dem Bauernstande aufgerufen. Die Stimmen werden mannweise gezählt. Es ist Gepflogenheit, daß die Vertreter des Bauernstandes, auch wenn sie sonst als Herren gekleidet gehen, bei festlichen Aufzügen in der Bauerntracht ihrer Heimath erscheinen. Außerdem wurde ungefähr mit den alten Befugnissen die ständische perennirende Activität wieder hergestellt. Für Ausarbeitung und Abhaltung sämmtlicher Vorträge, sowohl in den Congreßsitzungen als in der ständischen Activität, ist, nach früherem Gebrauche, ein Generalreferent mit dem sogenannten votum informativum bestellt, der von den Ständen ernannt und vom Landesfürsten bestätiget wird.

Die Rechte der Stände können wir wohl nicht besser umschreiben, als mit Stafflers eigenen Worten. Es gehören dahin nämlich: „das schöne Vorzugsrecht, des Landes Nutzen, Wohlfahrt und Ehre in Wort und That zu fördern; dann insbesondere das Recht der eigenen Besteuerung (offenbar euphemistisch statt: Steuererhebung); das Recht auf die Dotation des ständischen Fondes aus dem Staatsschatze; die freie Wahl der Repräsentanten (vorbehaltlich der landesfürstlichen Genehmigung); die Ernennung der ständischen Beamten; die Verleihung einiger Studienstipendien; die Verwaltung des Approvisionirungsfondes;*)[4] die Vertheilung der Marschkosten-Beitragspflicht; [622] die Anstalt zur Vergütung der Brandschäden; das Recht der adeligen Mitglieder des zweiten Standes auf eine eigene Uniform; endlich das Recht Vorschläge, Bitten und Beschwerden an den Landesfürsten zu richten.“

Das Steuerpostulat beträgt nach jetziger Festsetzung in runder Summe 543,000 fl.; es fließt aber nicht mehr wie früher in eine ständische Casse, die ehemals der Domesticalfond hieß, sondern die Landschaft ist der eigenen Verrechnung überhoben, und erhält jetzt die nöthigen Geldmittel zur Bedeckung ihrer Erfordernisse aus der landesfürstlichen Casse.

Erwägt man nun, daß das Postulat, welches aus der Grundsteuer zu decken, der Bewilligung der Stände entzogen und daß ihnen bei Festsetzung und Erhebung der übrigen Abgaben gar kein Einfluß gegönnt ist, daß ihnen ferner auch keine Mitwirkung bei der Gesetzgebung zusteht, so muß der Nachdruck bei Aufzählung ständischer Befugnisse wohl auf das Petitionsrecht fallen, was freilich immerhin noch mehr ist, als das Recht des Adels, eine Uniform zu tragen, welches neuere Bücher über Oesterreich als die einzige wirkliche Prärogative der Stände gelten lassen wollen.

In dieser Art hat Kaiser Franz den Tirolern ihre Verfassung zurecht gestellt. Er liebte das Patriarchalische, schätzte vor allem die weise, alles umfassende Fürsicht und Sorge des Einen Hauptes, und in seinem Sinne waren es gewiß Verbesserungen, was er an den alten Landesfreiheiten angebracht. Die Tiroler bei ihrer tiefgewurzelten Anhänglichkeit an das Herkommen, an die Gepflogenheit, wollten indessen diese Neuerungen nicht mit jenem Namen belegen, sondern riefen nach der alten Verfassung wie sie gewesen war und nichts anders, wie sie versprochen war im Kriege von Anno Neun. Es hat in den ersten Jahren des Gnadengeschenkes nicht an Petitionen und Vorstellungen gefehlt, welche mit altherkömmlicher Aufrichtigkeit [623] darzuthun suchten, daß die Wünsche des Landes mit dieser Redaction nicht erfüllt seyen; doch war’s nun zu spät, das schwere Werk wieder aufzunehmen. Eines hatten die Tiroler gewonnen – sie konnten wieder von ihren alten Freiheiten sprechen, und das geschah auch und geschieht noch zur Stunde. Die Regierung legt diesen Reden nichts in den Weg – ja vielmehr sie sind officieller Styl geworden. Sie finden sich von Zeit zu Zeit im Tiroler Boten, sie tauchen bei feierlichen Gelegenheiten in Liedern auf, sie verewigen sich in Druckschriften. Wenn der Kaiser oder die Erzherzoge in das Land kommen, so spricht man zu ihnen von den alten vielhundertjährigen Freiheiten Tirols und lobt die Treue der Habsburger, die „das köstliche Kleinod“ je und je gewahrt. Die Fürsten pflegen dann milde zu lächeln und freuen sich der Anerkennung ihres Verdienstes.

Allein die Freiheit hat hier so zu sagen nur ein amtliches Kanzleileben; der durchschnittliche Tiroler zeigt keinen Stolz darauf und nimmt auch das Wort nie in den Mund. Auf die eine Hälfte der ständischen Wirksamkeit, auf den Antheil an der Gesetzgebung, hat er freilich nicht sehr schwer verzichtet. Er hat die österreichischen Gesetze überkommen, ohne daß er darum gefragt wurde; allein sie sind ihm gerecht und bequem geworden. „Tirol und Vorarlberg wird nach den österreichischen Gesetzen verwaltet und, wie Staffler mit Wahrheit bemerkt, das Land freut sich dieses Gemeingutes mit andern Provinzen. Unverkennbar wohnt in allen Zweigen der Gesetzgebung der Geist der Ordnung, des Rechts und der Billigkeit, der überall darnach strebt, nicht nur den ruhigen Genuß der Privatrechte den einzelnen Staatsbürgern sicher zu stellen, sondern auch deren Bedürfnisse in ihrer Gesammtheit zu befriedigen, mit Einem Worte das Glück des Volkes zu gründen und zu fördern.“

Insofern die österreichischen Gesetze mit tirolischen Verhältnissen in Widerspruch kamen, wurden von jeher zweckdienliche Ausnahmen festgestellt und außerdem manche gute althergebrachte Einrichtung dem Lande wohlwollend erhalten.

Der Tiroler weiß, daß man in allen diesen Dingen nur sein Bestes wolle; daß man ihm das Alte selten genommen, ohne [624] ein besseres Neues an die Stelle zu setzen. Er ist in dieser Beziehung so zufrieden, daß er sich über die versagte Theilnahme an der Gesetzgebung allmählich ganz beruhigt hat. Je weniger er aber seine Freiheiten, Gnaden und Rechte in dieser Richtung betonen mag, desto kräftiger und lebendiger möchte er sie in der Steuerbewilligung gewahrt wissen. Das ist ein wunder Fleck, der immer innerlich zu bluten anfängt, so oft von den alten Freiheiten die Rede ist.

Die Tiroler haben diese Gesinnungen in günstigen Zeiten sehr deutlich an den Tag gelegt. Hören wir zum Beispiele, was die obenerwähnten Deputirten in der angeführten Eingabe dem Kaiser Franz zu verstehen gaben:

„Die Tiroler müssen als Ansiedler eines von der Natur stiefmütterlich behandelten Erdstriches betrachtet werden, welche bloß durch größtmögliche Befreiung von jedem Finanzdrucke und durch die allen Gebirgsbewohnern eigene Anhänglichkeit an ihr Vaterland an die Scholle gekettet sind. – Tirol ward daher von den frühern Regenten glorreichen Angedenkens nie als eine Finanzquelle betrachtet und kann um so minder für die Folge als solche betrachtet werden, da der Druck der bayerischen, illyrischen und italienischen Herrschaft, die Verwüstung des vorletzten unglücklichen und die nach der frühern Erschöpfung so empfindlichen Lasten dieses letzten glorreichen Krieges bereits viele einst wohlhabende Familien vielleicht für eine Generation contributionsunfähig gemacht, viele ganz an den Bettelstab gebracht haben. Dagegen aber war Tirol von jeher die Vormauer, der Schild des österreichischen Kaiserstaates. Als eine ungeheure Festung, Deutschland und Italien beherrschend, unüberwindlich durch seine Felsenwälle und Engpässe, durch eine eigene mannhafte Besatzung und durch die unerschütterliche Anhänglichkeit derselben an ihren Fürsten sowohl als an ihr Vaterland, ist es ein festes Bollwerk gegen jeden nach dem Innern der Monarchie eindringenden Feind, ein sicherer Stützpunkt für jede Operation nach außen. Tirol hat daher für Oesterreich keine finanzielle, wohl aber eine große strategische Wichtigkeit. Auf diesem Grundsatze nun, den die erleuchtete Staatsweisheit aller frühern Regenten und [625] Staatsmänner anerkannte, den die Geschichte so vieler Jahrhunderte und ganz vorzüglich die neueste Zeit als unwidersprechlich bewährte, beruht die alte tirolische Verfassung.“

Diesen wohlmeinenden Rathschlägen wurde indessen durch die Verhältnisse mächtig entgegengewirkt. Man erkannte zwar gerne und vollkommen an, daß Tirol eine ungeheure, unüberwindliche Festung sey, allein man konnte sich nicht entschließen ihm seine finanzielle Jungfräulichkeit zu lassen. Der Geldbedarf des Kaiserreiches war ins Ungeheure gewachsen und erlaubte ihm keineswegs die gefürstete Grafschaft in Steuersachen als einen unabhängigen Freistaat zu betrachten. Die Versprechungen früherer Proclamationen scheiterten nothwendig an der Gewalt der Umstände.

So traf sich’s denn, daß zuerst die Grundsteuer erhöht werden mußte. Man hatte seit 1784 drei Termine jährlich bezahlt (274,000 fl.), die bayerische Regierung forderte seit 1808 deren fünf; der Kaiser schrieb im Jahre 1817 zum erstenmale sechs Termine vor (543,000 fl.), wovon jedoch zwei zur Bezahlung der hochaufgelaufenen landschaftlichen Schuldzinsen verwendet wurden. Auch in andern Abgaben war’s ihm nicht möglich sich gefälliger zu zeigen. Unter der altösterreichischen Regierung waren außer der Grundsteuer noch die Zollgefälle, das Umgeld, der Malzaufschlag, der Intrinsecozoll, die Wegmauth, die gerichtlichen und politischen Taxen, dann das Salz-, Forst- und Domainengefäll erhoben worden; den Papierstempel hatte die Landschaft der Regierung einmal abgelöst, aber die dazu contrahirte Schuld ging freilich später mit den übrigen Landesschulden an die Regierung über.

Die bayerische Regierung behielt diese Auflagen bei; führte aber den Papierstempel wieder ein. Bei der neuen Einrichtung des Landes wurden die provisorischen Gefälle forterhoben, allein man sah bald, daß sie nicht so viel abwarfen, als man der Provinz überbürden zu müssen glaubte. Drum wurde zuerst im Jahre 1815 das Taxwesen neu geregelt. Das Jahr 1818 führte ein Stempelmandat heran, wobei man umsonst an die frühere baare Ablösung erinnerte; zur selben Zeit erschien eine Erwerb- nebst einer Classen- (Vermögens-) [626] und Personalsteuer. Im Jahre 1821 ward das Wegmauthgefäll neu geordnet. Das Jahr 1828 brachte die Aufhebung der freien Befugniß Tabak zu erzeugen – eine Maßregel, welche unbequem war, obgleich die Betheiligten nach gerechtem Maßstabe entschädigt wurden. Seit dieser Zeit ist der Tabak, wie in den übrigen Erbländern, Staatsmonopol. Im Jahre 1829 wurde endlich auch die allgemeine Verzehrungssteuer eingeführt, wogegen allerdings die derselben bisher entsprechenden Gefälle, so wie auch die Classen- und Personensteuer erloschen. Das Heer der Gefällaufseher, der „Finanzler,“ das tagtäglich in Kaufläden und Kellern herumwühlt, fällt höchst lästig. Dazu kamen noch schwere Gemeindeumlagen, um die in der Noth von Anno Neun entstandenen Schulden zu tilgen, und ein weiterer finanzieller Nachtheil ging wenigstens der südlichen Hälfte des Landes dadurch zu, daß an der bayerischen Gränze wieder Zollschranken auferstanden waren.

Es ist begreiflich, daß sich der Tiroler nach all diesem fragte, um wie viel er nunmehr besser daran sey als Anno Achte? Und die Antwort lautete im allgemeinen nicht günstig für seine neuen Erwerbungen. Die Wiedererlangung der alten Freiheiten schien ihm um diesen Preis jedenfalls zu theuer und er wunderte sich, warum man ihn zu den Waffen gerufen, wenn man ihm doch kein leichteres Joch zu geben gedachte, als jenes, das er abschütteln sollte.

Dieser Stimmung hat es gelingen müssen, das Gedächtniß des glorreichen Aufstandes ganz und gar zu depoetisiren. Daß man den zükunftseligen Erinnerungstaumel, wie er im Jahre Vierzehn hervorbrach, eben sowohl wegen der wünschenswerthen Beruhigung des aufgeregten Landes als wegen der Beziehungen zu dem Nachbarstaate baldmöglichst in ein harmloses, bescheidenes Angedenken hätte hinüber beschwichtigen mögen, – daß man die monumentale Erscheinung nicht als ein dauerndes Staatsfideicommiß betrachtet, sondern eher der stillen Aufbewahrung der Familien heimgegeben wissen wollte, schien durch manches angedeutet, früher schon wie später auch durch die kühle, fast bedenkliche Aufnahme, welche den drei muthigen Jäger-Officieren zu Theil wurde, die freilich ohne [627] Erlaubniß und ohne Auftrag des Sandwirths Gebeine von Mantua nach Tirol gebracht. Indessen sind die Tiroler im Laufe der Zeit noch weiter gegangen und zum großen Theile, vielleicht ohne die glückliche Mitte zu treffen, auf die Gegenseite übergesprungen.

Das Jahr Neun ist ihnen nun das Bild eines großen Unheils ohne Segen – um so überflüssiger, als Gut und Blut einer strategischen Diversion geopfert worden sind, die völlig unütz war, hinter der aber auch, wenn sie von Erfolg gewesen wäre, nur ein Zustand lauerte, der – nach jetzigen Begriffen – noch in allen Fällen früh genug kam. Man hatte so lange Jahre die alten Kriegslasten zu tragen und die neuen Steuern dazu. Das vergossene Blut war verschmerzt – die Väter, Brüder, Söhne ruhten auf den stillen Kirchhöfen und ihre Seelen waren im Himmel – die Zeit verwischte das Gedächtniß ihrer Züge, die Gewohnheit lehrte sie entbehren; aber der immer wiederkehrende Druck auf den sauern Erwerb der Hände ließ sich nicht durch die Zeit erleichtern und schien all der sanften Macht der Gewohnheit zu widerstreben. Ein böses Jahr, das Jahr Neun – sagte einst einer der grauen Helden: So viel Blut umsonst vergossen – erwiederte ein jüngerer, den Zeiten ferner Stehender. O laßt das Blut! versetzte jener – aber die Kosten!

Dadurch fällt denn auch ein eigener Wiederschein auf die Männer des blutigen Jahres, deren Namen damals durch Europa gingen, um jetzt selbst in ihrer Heimath verschollen zu seyn – auf die Männer, welche damals Freiherr von Hormayr – wie er selbst sehr gerne behauptet – inspirirte, leitete, führte und – wie sie behaupten – anführte.

Die tirolische Wirklichkeit sticht da so mächtig ab von dem, was sich begeisterte Bewunderer jener Volksbewegung vorstellen. Sie denken sich die Helden, die dem allmächtigen Kaiser trutzten, mit all der Ehrfurcht umgeben, die ihr graues Haupt verdient, die ihre Thaten, ihre Narben jedem gebieten sollten, als angesehene Häupter der Gemeinde, als die Großväter stolzer Enkel, die sich im Ruhm der Vergangenheit sonnen und dem Aeltervater mit hochklopfender Brust zuhorchen, [628] wenn er die Erzählung führt von den Bauernschlachten auf dem Sterzingermoos und auf dem Berge Isel, von den Tagen, deren Herrlichkeit damals durch die ganze Welt gefeiert wurde, so weit sie sich nach der Freiheit sehnte. Kommt ihr nach Tirol, so werdet ihr Mühe haben sie zu erfragen. Gebt ihnen aber ja keinen auszeichnenden Namen – sprecht nicht etwa von den Helden des glorreichen Jahres, sondern fragt einfach und schlicht nach „den alten Rebellern, nach den Brigandenchefs, nach den Bauernkönigen von Anno Neune,“ – denn dieß sind die Titel, die ihnen im Lauf der Jahre angewachsen. Aber auch so sind sie schwer aus ihrer Dunkelheit herauszuholen, und wenn sie ihre Erzählungen beginnen, so ist ihr Erstes zu erklären, daß sie gezwungen waren – daß keiner gefragt worden sey, ob er gehen wolle oder nicht. Es sind wenige, sehr wenige, die sich die Begeisterung, mit der sie damals in Kampf und Tod gingen, vor der Trübung späterer Zeiten rein zu halten gewußt, wenige auch, die nicht die Ehre der Selbstbestimmung, des eigenen Willens gerne hingeben um die jetzt wirksamere Entschuldigung damaliger Bethörtheit. Von allen den Häuptlingen, die zu jener Zeit in der Hofburg als Gebieter ein und ausgingen, hat kaum einer mehr frohe Tage gesehen. Speckbacher ist mißvergnügt gestorben, andre gingen, zweideutigen Nachreden zu entweichen, in die nächsten Länder Oesterreichs, andre, die vor dem Kriege schon den schweren Zeiten zu erliegen drohten, konnten sich auch nachher nicht mehr aufraffen und verloren sich in der Kümmerniß. Drum mag es wohl ein wahres Wort seyn, daß dem tugendhaften Hauptmann der Passeyrer das schönste Loos beschieden war, daß er nichts besseres thun konnte, als auf den Wällen von Mantua zu sterben. Freiherr von Hormayr bemerkt, er würde in Wien unendlich gelangweilt haben, und es wäre in der That möglich, daß man ihn am kaiserlichen Hoflager nicht recht amüsant gefunden hätte. Aber auch sein schöner Tod hat die Augen der Landsleute nicht blenden können, und sie nennen ihn jetzt etwa fromm und ehrlich, aber beschränkt und einfältig, leichtgläubig, oft schlecht gegängelt von schlimmen Vertrauten, vollkommen im Einverständniß mit dem Freiherrn, [629] der sein „Mannequin“ mit Adlerblick durchschaute und der seine Aussprüche über ihn mit voller Zustimmung geben könnte, wenn er weniger Hohn und mehr Schonung zeigte gegen die treuen Manen des ehrlichen Passeyrers.

Derartige Betrachtungen werden sich dem ergeben, der über Gegenwart und Vergangenheit beim tirolischen Landvolke die Stimmen sammelt. Die Ansicht der Städter ist anders gefärbt, aber dem Inhalte nach nicht sehr abweichend. Die gebildeten Stände, zumal der Adel, und das Landvolk befinden sich seit Jahrhunderten in einer Spannung, die allerdings in langen Friedensjahren, wenn die Anregung fehlt, nahezu einschlummert, aber bei günstiger Gelegenheit, zuvörderst wenn der Feind im Lande steht, schnell wieder hervortritt. Dann ergibt es sich, daß der Bauer nicht abgeneigt ist, den „Herrn“ für wenig ehrlich zu halten, daß er ihm vorwirft, er sey unfähig etwas zu wagen, zu furchtsam um sich auszusetzen, zu friedliebend um den Krieg zu wollen, oder am Ende auch, er halte es heimlich mit dem Feinde. Es bedarf keiner sehr angesehenen Autorität, um den Landmann argwöhnisch zu machen, und ist er’s einmal, so erschallt aus tausend Kehlen der Ruf: „Herrn derschießen, Herrn derschlagen.“ – So zerrissen im Jahre 1703 die Rittner Bauern wegen geringen Anlasses ihren Pfleger Georg Plankenstein, so schrien dazumal die Algunder, ehe man ausziehe, müsse man etlichen Herren die Häuser über dem Kopf zusammenbrennen, und als ein Opfer solcher Volkswuth fiel damals nicht minder Vigil von Hohenhausen, der Oberstwachtmeister der Landmiliz im Burggrafenamt. Auch seinem Tod war der Ruf vorausgegangen: Ihr Herren seyd alle Schelme. Als im Jahre 1762 die aberwitzigste Ausführung neuer Münzverordnungen das Burggrafenamt und das Vintschgau in einen denkwürdigen Bauernrummel versetzt hatte, hieß es abermals: Nieder mit den Stiefelherren! und die racheseligen Bauern kümmerten sich wenig, ob sie den rechten träfen. So hat auch in den Neunziger Jahren der Kreishauptmann in Vorarlberg unter den Händen der Montavoner sein Leben gelassen. Das große Jahr von Anno Neune blieb frei von diesen Gräueln, aber [630] es fehlte nicht an Gelüsten dazu. Mancher unschuldige „Herr“ entkam der Wuth der Landleute nur durch die List der Bürger oder die Fürbitten der Priester. Die nackten Arme und die winkenden Locken der schönen Frauen von Innsbruck behandelten dazumal die Passeyrer mit so rauher Ascese, daß eine der Schuldigen an zu früh eingetretenen Wehen sterben mußte. In solchen und andern Gewalthätigkeiten fand sich das ganze Herrenvolk beleidigt und da die „Handierer“ auch viele Noth mit den Bauern hatten, so waren die Städte mit weniger Ausnahme gegen die Landleute. Die Innsbrucker zum Beispiel galten das ganze Jahr lang für verdächtig. Nun haben sich zwar allerdings manche der Gebildeten über die Verstimmung der damaligen Zeit hinausgehoben und aufrichtiger Bewunderung der großen Volksbewegung zugewandt, aber in den Meisten brütet noch immer das unheimliche Gedächtniß jener „Bauernwirthschaft,“ die alles beargwohnte, was durch Geburt und Stellung, Bildung und Wissenschaft überlegen war. Drum ist auch der Bauernkrieg als literarischer Stoff fast bei Seite gelegt und wird ungern berührt. Die jungen Dichter verfehlen zwar selten, in ihrer unbewachten Erstlingsperiode etliche Reime oder eine sapphische Ode auf den „Freiheitskampf“ zu verfertigen, betrachten sich aber dann als quitt fürs ganze Leben. Auch was sonst in Prosa seit der Zeit über jenes Jahr geschrieben worden, zeichnet sich durch lobenswerthe Mäßigung aus, die zwar auch der Nüchternheit des Volkes, mehr aber noch der Betrachtung anheim zu geben ist, daß man sich durch zu großen Enthusiasmus in Zwiespalt mit der öffentlichen Meinung setzen würde. Drum konnten sich auch Immermanns Trauerspiel in Tirol und J. F. L......’s Bauernspiel in Tirol niemals zu starker Gelesenheit emporschwingen, obgleich sie beide – verboten worden sind. Jenem half weder die poetische Kraft, noch diesem genaue Localkenntniß zu inländischer Beliebtheit, welche unter andern Umständen dem Bauernspiel in Triol auch der Fehler vielleicht nicht vorenthalten hätte, daß darin mit seltsamer Vermessenheit auf ein oder zwei düstere verworfene Figuren wie auf hochherzige Heldinnen die Namen von bekannten tirolischen [631] Familien geklebt sind, welche seit Menschengedenken unter ihren Angehörigen weder einen Verbrecher noch eine Heroine gezählt.

Die Errungenschaft betreffend, so anerkennt man zwar im gebildeten Mittelstande das Glück, wieder mit der großen Monarchie unter dem angestammten Herrscherhause vereiniget zu seyn, hat aber dabei so manchen Vortheil, den man unter der vorigen Regierung genoß, noch nicht vergessen. Die größere Milde der Censur, der zwanglose literarische Verkehr mit ganz Deutschland, die Freiheit, die besten deutschen Hochschulen auch für tirolische Jünglinge benützen zu dürfen, das regere, strebsamere Leben, das sich schnell eingestellt hatte – diese und andre kleine neuere Freiheiten wünschte man herzlich gerne den großen alten einverleibt.

Während sich so diese Stimmungen langsam ausbildeten, kam der ständische Congreß alle Jahre vorschriftsmäßig zusammen, wohnte dem feierlichen Gottesdienste in der Hofkirche bei, zog in den großen Saal der Hofburg, wo das Bildniß Seiner Majestät unter einem Thronhimmel aufgestellt ist, ließ sich da mit dem Zwecke der Versammlung in schöner Rede bekannt machen, hörte das landesfürstliche Postulat ablesen und den Landmarschall in herkömmlichen Sprüchen erwiedern. Darauf begab er sich jedesmal in das Landhaus zur ersten Congreßsitzung und setzte die Sitzungen an den nächsten Tagen und mit Ausnahme der Feiertage so lange fort, bis der Gouverneur den Congreß auflöste. So verlieh er Jahre lang seine ständischen Studienstipendien, verwaltete den Approvisionirungsfond, vertheilte die Marschkosten und brachte Vorschläge, Bitten und Beschwerden an den Landesfürsten. Man hat immer weniger von ihm gehört, denn die Theilnahme verminderte sich in eben dem Grade, als das Vertrauen in seine rechtliche Pflichterfüllung wuchs. Nicht einmal bei der jedesmaligen Auflösung erregte er das öffentliche Nachsehen, denn es werden keine Lantagsabschiede ertheilt, sondern die ständischen Anbringen erhalten ihre Entgegnung in einer oft lange ausbleibenden Uebersicht von Rescripten, welche dann in Abschriften an die Vertreter gelangt, die unterdessen schon [632] vorlängst wieder an den heimischen Herd zurückgekehrt sind. Diese mögen sofort ihre Committenten von dem Inhalte unterrichten, wenn er überhaupt der Art ist, daß er sie ansprechen kann, oder daß sie etwas davon verstehen.

So war der Congreß zwanzig Jahre lang dagesessen fast „ohne Schmerz und Klage,“ bis ihn im Jahr 1836 eine Bitte an den Landesfürsten dem Publicum wieder näher brachte, nämlich die Bitte um Vertreibung der Zillerthaler. Wir haben schon früher erzählt, daß sich in den innern, weltentlegenen Dörfern des Zillerthales in den letzten Decennien über hundert Familien religiösen Bedenken hingegeben hatten, aus denen sie so allmählich ein einsweiliges, baüerlich construirtes, kunstloses Dogma herausarbeiteten, das zwar, wie sich später erwies, mit keiner der bis jetzt vorhandenen christlichen Confessionen, Secten und Häresien genau zusammen stimmte, das sie aber nach festem Vorsatze durch Aufnahme lutherischer Geistlichen an etwas Bestehendes anknüpfen wollten. Nach Maßgabe des sechzehnten Artikels der Bundesacte dürfte, wie man allgemein dafür hielt, einem solchen Vorhaben in einem deutschen Bundesstaat nichts entgegen gesetzt werden, doch entsprach der Ausgang keineswegs dieser Erwartung.

In dieser Sache war besonders thätig der Freiherr Joseph von Giovanelli zu Bozen, einer der Verordneten des Herren- und Ritterstandes, und ihm vor allen hatten die unglücklichen „Inclinanten“ ihre Deportation zu danken. Dieser Edelmann hat seit der Wiedervereinigung mit dem angestammten Herrscherhause so großen Einfluß auf die Angelegenheiten seines Vaterlandes geübt, daß es nöthig ist, ihn hier näher zu besprechen.*)[5]

Wir sehen den Herrn von Giovanelli, damals der Junge genannt, weil sein angesehener Vater zu Bozen noch lebte, am 14 April 1809 mit dem Freiherrn von Hormayer Abends um sieben Uhr unter Trompeten- und Paukenschall und unter dem [633] Geläute aller Glocken in seine Vaterstadt einfahren und den letzteren in sein väterliches Haus aufnehmen. Von dieser Zeit an blieb er im öffentlichen Dienst beschäftigt, zumeist zu Innsbruck, und erwarb sich durch seine Gewandtheit in schriftlichen Arbeiten die volle Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Als die Sachen schlimmer gingen, verschwand er ins schützende Oesterreich und blieb dort bis zur Restauration. Um diese Zeit ging von ihm jene Bittschrift aus, welche für Tirols alte Verfassung und eine milde Besteuerung spricht. Bei der Wiedereinführung der Stände wurde Herr von Giovanelli, als dessen politisches Programm jene Vorstellung galt, zu einem der Verordneten des Adels gewählt, und seitdem begann sein Name im Lande zu wachsen. Sein Naturell zeigt manchen Zug, der ihn bei seinen Landsleuten empfehlen konnte – zum Beispiel einen festen, sich selbst genügenden Provincialismus, der gegen jede Erweiterung des Gesichtskreises ankämpft, und im Aeußern eine gewisse derbe Grobkörnigkeit, mit der bekanntlich der bojoarische Stamm gerne die Idee von alter deutscher Treue und Redlichkeit verbindet. Dieses Alpenhafte seines Wesens erschien von besonders großem Werthe, wenn die Herren von Wien einen Blick ins Tirol warfen. Er gab sich dann als schlichten, biederen tirolischen Landmann und erntete jederzeit herablassenden Beifall. Es schien auch nothwendig im Lande einen Mann zu wissen, dem man, ohne Höheres zu gefährden, als einem Gesammthaupte, jene Ehren und Auszeichnungen erweisen durfte, die das Volk sich verdient hatte – einen Mann, der zwischen dem Herrn, der die Krone trug, und dem ungelehrten, nicht repräsentationsfähigen Bauern, den unbevollmächtigten aber desto vertraulichern Mittler spielen konnte. Die Teimer, die Eisenstecken, die Speckbacher waren hiezu nicht geeignet – sie paßten nicht recht in die neue Zeit der alten Freiheiten. Man wünschte einen civilen Helden, und da Herr von Hormayr längst eine andre Bestimmung gefunden, so wurde Herr von Giovanelli der Universalerbe von Anno Neune. Er machte, wenn hohe Reisende zu bewillkommen waren, die conservativen Honneurs der Revolution, und um jenen Nachlaß besser verwalten zu können, [634] wurde er auch zum Freiherrn erhoben. Gut angesehen bei dem Kaiser und dem Hofe, weil man ihm großen Einfluß bei den Tirolern zutraut, ist er geachtet und gefürchtet bei den Landsleuten, weil man glaubt, er gelte viel zu Wien.

Was seine ständische Wirksamkeit betrifft, so hat er seinen tirolischen Patriotismus nie verläugnet. Darauf gestützt, wagte er zuweilen sogar zu opponiren und lästigen Anforderungen vorsichtig zu widerstehen. Für seine Verdienste genoß er den Vorzug, daß ihm wenig übel genommen wurde. Wie es nun in patriarchalisch regierten Reichen öfter geschieht, so hat sich auch in Tirol seit den Friedensjahren und seit der Wiedererlangung der alten Freiheiten viel unmännliche Herzensschwäche und viel sanfter Servilismus eingestellt. Es gibt dort, im Landhause ganz unabhängige Leute, welche, wenn sie überhaupt etwas sagen, nur etwas solches wagen, wofür schon ein Andrer die Verantwortlichkeit übernommen. Für solche Collegen galt seit langen Jahren der Brauch, das zu sagen, was der Giovanelli gesagt. Damit wußte man, daß man gut fahren werde.

Herr von Giovanelli war seiner Zeit ein strebsamer Jüngling gewesen, lebenslustig, der deutschen Literatur geneigt, mehr noch dem alten Horaz, den er auswendig weiß, selbst einmal ein Dichter, dessen Verse wenig Blödigkeit verrathen. Mit den Jahren indessen legte sich der Humor; er überließ sich jenen andächtigen Strömungen, die nun das Land überfluten, und gerieth allmählich in einen compacten Bigottismus hinein und in einen sauern Haß gegen alles was protestantisch ist. Er fing an den Knaben, auf deren Erziehung er Einfluß hatte, Schiller und Matthisson wegnehmen zu lassen und erklärte überhaupt alles „Lutt’rische“ für unnütz und verwerflich. Dabei wurde er immer strenger in seinen Anforderungen an die Kirchlichkeit seines Vaterlandes und kam zuletzt so weit, daß er, wie allgemein behauptet wird, vortrefflich charakterisirt ist in einem Sonette, das ihm in den Mund gelegt, also schließt:

[635]

Selbst Kaiser Franz war mir noch zu Josephisch,
Die Klerisei ist mir zu wenig pfäffisch,
Der Papst auch ist mir nicht genug Papist,
Und Christus selbst mir fast zu wenig Christ.

Als nun die Angelegenheit der Zillerthaler im Ständesaal zur Berathung kam, versuchte es der Bürgermeister Maurer von Innsbruck ihnen das Wort zu reden. Er sprach mit Nachdruck von der Freiheit der Gewissen, von jenem Artikel der deutschen Bundesacte, der von der Verschiedenheit des christlichen Bekenntnisses einen Unterschied im Genusse der bürgerlichen und politischen Rechte abzuleiten verbietet, von dem Geiste unsers Jahrhunderts, der eine Verfolgung um des Glaubens willen nicht gestatte. Ihm entgegen erhob sich der Freiherr von Giovanelli, voll heiligen Zornes über die neue Ketzerei. Solche Reden vor den frommen Ständen von Tirol habe man dem Weihrauch zu danken, den der Jude Lewald dem Bürgermeister von Innsbruck gespendet; das seyen die Folgen ausländischen, fremden Einflusses, der das christkatholische Land seiner alten Religion entfremden, neuen, bis dahin nie geduldeten, unerträglichen Irrlehren Zugang verschaffen wolle. Habe man nur erst eine Gemeinde dem falschen Glauben überlassen, so sey vor der Ansteckung nichts mehr zu schirmen. Besser das kranke Glied abgeschnitten als daß der ganze Leib dahinsieche; besser die Zillerthaler verjagt, als ein lutherisches Tirol. Dieses Wort übte auch hier wieder seine Kraft. Die Stände waren erschüttert bei solchem Ausblick in die Zukunft und gaben dem Redner ihren Beifall zu erkennen. Der Bürgermeister von Innsbruck, der die Sache verloren sah, schwieg. Die Stände baten den Kaiser, er möge den Zillerthalern befehlen, entweder zur Landeskirche zurückzukehren oder Tirol zu verlassen. Der Kaiser willfahrte seinen getreuen Ständen und die Zillerthaler zogen fort; bald nach ihnen auch der edle Maurer, der sich aus seinem Vaterlande wegsehnte und zu Grätz in Steiermark zum Bürgermeister ernannt wurde. Die Einwohnerschaft von Innsbruck sah den geschätzten Mann ungern ziehen, Ein schöner Nachruf [636] eines tirolischen Dichters wußte sich durch die Censur bis in den Tiroler Boten zu schleichen.

Ein Jahr, nachdem die Zillerthaler Tirol verlassen hatten, wurden die Jesuiten hereingerufen. Diese waren bald nach der Stiftung ihrer Gesellschaft in Tirol aufgenommen worden und hatten sich dort bis zu ihrer Aufhebung erhalten. Ihre damalige Aufführung war nicht schlechter und nicht besser als anderswo. Man hat nachgewiesen, daß sie durch ihre knechtende Erziehungsweise und ihre Probabilitätsmoral viel Schaden und Unsegen herbeigeführt, daß sie die Landesfreiheiten untergraben, Gleißnerei und äußerliche Kirchlichkeit gefördert, die Laster des Hofes gehätschelt, den Vorurtheilen des Adels geschmeichelt, Hexenprocesse und Aberglauben begünstigt und das Volk zur gedankenlosen Spießbürgerei herabgebracht haben. Nachdem die Gesellschaft aufgehoben war, dachten die Tiroler wohl nicht mehr daran, daß sie bei ihnen wieder lebendig werden sollte, und man kann der Wahrheit gemäß behaupten, daß sie sich auch nicht darnach sehnten. Vor mehr als einem Jahrzehnt erschienen indessen die Vorläufer der Gesellschaft Jesu, die Liguorianer oder Redemptoristen im Lande. Aber auch nach diesem Zuwachse fanden sich noch einzelne Männer, denen die zahlreiche Priesterschaft nicht ausgiebig, ihre Richtung nicht gottselig genug erschien, die nur in der Gesellschaft Jesu den letzten Schlußstein kirchlicher Zustände sahen. Der Freiherr von Giovanelli, der gewaltigste unter diesen Eiferern, benützte nun beim Landtage des Jahres 1838 eine Sitzung, wo es sich um Unterstützung der die Theresianische Ritterakademie verlassenden, mittellosen Jünglinge handelte, um eine Vorstellung zu beantragen, in welcher der Kaiser gebeten werden sollte, jene Schule, deren Leitung die Prämonstratenser von Wilten so eben aufgegeben hatten, so wie auch das Gymnasium zu Innsbruck der Gesellschaft Jesu zu überlassen. Der Antragsteller stützte sich dabei auf die Erfolge ihrer Lehranstalten in Galizien und im uechtländischen Freiburg, so wie auf die Verdienste, welche sie sich in frühern Zeiten um den tirolischen Katholicismus erworben – es dürfe sich daher keiner, der ein guter Katholik seyn wolle, der Aufnahme dieses [637] Ordens widersetzen. Die Mitglieder des Landtages waren bei diesem Vorschlage höchlich überrascht, denn in der Uebersicht der zu behandelnden Gegenstände, welche vor dem Landtage den Abgeordneten zugestellt wird, damit jene der Städte und Viertel vorerst von diesen ihre Instructionen erholen können, in der sogenannten Vortragsordnung also war nichts angezeigt von der Anrufung der Gesellschaft Jesu. Die Stände aber, als sie hörten, was in dieser Sache eines guten Katholiken Schuldigkeit sey, ließen sich den Antrag gefallen.

Kaiser Ferdinand, der im Sommer zur Huldigung nach Tirol kam, wollte in dieser festlichen Zeit den getreuen Ständen eine so harmlose Bitte nicht abschlagen. Er gab seine Genehmigung, und noch im selben Jahre erschienen zu Innsbruck fünf Mitglieder des Ordens mit ihrem Superior, Pater Lange, und übernahmen unverzüglich die Leitung der Ritterakademie und des Gymnasiums.

Nach diesem Einzuge trachteten die Freunde der Gesellschaft alsbald, ihr das Feld zu erweitern. Schon im Jahre 1840 brachte der Matrikelconseß, das ständische Collegium der Verordneten des Adels, geleitet von dem Freiherrn von Giovanelli, das Gesuch vor, man möge die Räumlichkeiten des Theresianums durch miethweise Ueberlassung eines Theils des Universitätsgebäudes angemessen erweitern, allein der damalige Landesgouverneur, Graf von Wilczek, ließ den Antrag keine Folge haben. Bald darnach trat aber sein Nachfolger Graf Clemens von Brandis an die Stelle, und da diese Veränderung für günstig galt, so brachte der Freiherr vor den Landtag des Jahres 1841 den erweiterten Antrag, durch Ausschreibung einer Steuer zum vierten Theile eines Grundsteuertermins ein Convict für die zu Innsbruck studirenden Jünglinge unter der Leitung der Jesuiten zu errichten. Die Abstimmung über diesen Vorschlag blieb jedoch weit hinter den Wünschen des Antragstellers zurück. Die Stände fanden nämlich für besser, dem Gutdünken der Privaten anheimzugeben, ob sie sich durch freiwillige Beiträge an dem Unternehmen betheiligen wollten. Ebenso genehmigte der Kaiser zwar die Errichtung des Convictes, jedoch sollte dafür weder [638] das Aerar, noch sonst ein öffentlicher Fond belastet, dagegen aber Plan und Statuten der Gesellschaft den Behörden zur Prüfung und Genehmigung vorgelegt werden.

Die Gesellschaft hielt die Zeit des nächsten Landtags für schicklich, um eine öffentliche Einladung zu freiwilligen Beiträgen für das beabsichtigte Convict ergehen zu lassen. In einer „Ankündigung,“ die zu diesem Zwecke erging, wurde an die segensvollen Wirkungen der Gesellschaft Jesu gegen die im sechzehnten Jahrhundert pestartig um sich greifenden Irrlehren erinnert und zur Errichtung des Convictes um einen Zuschuß von 68,000 fl. gebeten, wogegen dann nicht bloß die inländischen Ansprüche an diese Anstalt, sondern auch jene der übrigen Länder des österreichischen Kaiserstaates befriedigt werden sollten. Daß die Stimmung bei all diesen Erscheinungen nicht allenthalben im Lande sich gleich günstig zeigte, räumte die Ankündigung insofern ein, als sie die Freude über die Ankunft der Jesuiten nur eine „gleichsam ungetheilte“ nannte.

Indessen wollten die Jesuiten den Bau des Convictes nicht verschieben, und als im Frühjahr 1843 der päpstliche Nuntius zu Wien durch Innsbruck reiste, sollte der Beginn durch eine glänzende Feierlichkeit bezeichnet werden. Dabei ergab sich nun aber, daß jenes gleichsam, mindestens für die Hauptstadt, noch fast zu viel gewesen, denn als die bürgerlichen Stadtschützen aufgefordert wurden, bei dem Feste zu paradiren, lehnten sie das Ansinnen durch eine schriftliche Erklärung ab und erlaubten sich so eine Demonstration, wie sie die Wenigsten erwartet hatten. Der Freiherr von Giovanelli und Graf Reisach, ein andrer Freund der Jesuiten, wurden mit Gezisch empfangen, dann aber in lateinischen Reden dem Volke auseinandergesetzt, was es alles von dieser Gründung zu erwarten habe.

Immerhin flossen dem Bau durch Schenkungen und noch mehr durch Darlehen reiche Mittel zu, und im Herbste 1844 stand die Behausung für dreihundert Zöglinge und für alle Handwerker, deren sie bedurften, vollendet da. Dagegen erlebten die frommen Väter in diesem Jahre das Schicksal, daß [639] ein Benedictiner von Marienberg, Professor Albert Jäger, der Geschichtschreiber des Jahres 1703, einer der geachtetsten Männer des Landes, in einem Vortrage, den er vor dem Vereine des Ferdinandeums hielt, die Wirksamkeit des Ordens in Tirol vor seiner Aufhebung historisch beleuchtete und daraus Ergebnisse zog, die auch für seine Zukunft nur düstere Vermuthungen gestatteten. Der Eindruck dieser Begebenheit wirkte im Lande lange nach.

Nach all diesem hatten die Jesuiten nicht die freundlichste Aufnahme gefunden, suchten aber gleichwohl mit Geduld und Ausdauer ihre Fäden immer weiter zu spinnen. Die Urtheile über die Thätigkeit des Ordens sind begreiflicherweise sehr verschieden, doch scheinen auch jene, welche seine Wiedereinführung gewünscht, nicht gänzlich zufrieden gestellt. Die Gegner aber wollen in seiner Lehrweise nur die alte jesuitische Methode, wie sie vor hundert Jahren gewesen, wieder finden, behauptend: wenn die Gesellschaft auch vielleicht manches aus ihren damaligen geistigen Erübrigungen vergessen, so habe sie doch nichts Neues gelernt. Wenn sie von dem k. k. vorgeschriebenen Studienplan abweiche, so sey dieß nur, um einen noch schlechtern an die Stelle zu setzen. Man wirft ihren Lehrern vor, daß sie durch angestrengte Uebung des Gedächtnisses jedes tiefere Eingehen in den Kern der Dinge hintanzuhalten suchen, daß sie die Classiker der Sprache nach nur dürftig, dem Sinne nach gar nicht verstehen, daß sie die deutsche Sprache zu Gunsten des Lateinischen vernachlässigen, ja ihren Gebrauch den Schülern nur an Vacanztagen gestatten; in Geschichte, Geographie und dergleichen Studien aber selbst viel zu wenig unterrichtet seyen, um andre unterrichten zu können. Man will dafür kaum als Entschuldigung gelten lassen, daß die meisten der Professoren fremde, im Slavenlande erzogene Männer sind und daher die geistigen Bedürfnisse Tirols weniger zu würdigen wissen, oder daß manche von ihnen noch in zartem Mannesalter und so kümmerlicher Vorbildung sind, daß sie die für ihre Lehrkanzeln vorgeschriebenen Prüfungen allerdings nicht zu bestehen vermocht. Ferner sagt man ihnen nach, daß sie das sittliche Gefühl der Lehrlinge untergraben, [640] indem sie dieselben zu Spionen ihrer Mitschüler erziehen, daß sie vom Beichtstuhle aus das Innere der Familien erspähen und durch Entzweiung der Hausgenossen ihre Herrschaft zu sichern suchen. Namentlich soll ihre Gewalt über die Weiber groß und dieser Weg ihnen der liebste seyn zum Herzen der Männer. Was allgemein anerkannt wird, ist der rege liturgische Eifer und die fromme Erfindungsgabe des Ordens, welch ersterer alle der Gesellschaft schon früher geläufige Erbauungsmittel in Bewegung setzt, während letztere durch verschiedene originelle Neuerungen den kirchlichen Apparat noch sachdienlich zu vermehren sucht. Da gibt es prachtvolle Gottesdienste, die den halben Tag andauern, Ablässe für viele Jahrtausende, wunderthätige Medaillen und Mirakelbüchlein, für die Frauen stachlige Bußgürtel, Keuschheitsgelübde für die Jungfrauen, geistliche Exercitien für die Weltpriester. Die letztern haben am schlimmsten angeschlagen. Auf solche Art wollte sich der Weltclerus von Tirol nicht heiligen lassen, und diese mystischen Kränzchen sind daher seit mehreren Jahren wieder unterblieben. Auch im übrigen haben die Jesuiten, wenn man aufrichtig seyn will, bisher nicht viel Glück gehabt. Zwar wußten sie sich schon manches reiche Vermächtniß zufallen zu lassen, aber sie haben noch keinen häuslichen Unfrieden gestiftet, ohne als Verursacher erkannt, keinen Nachschlüssel angesteckt, ohne dabei ertappt zu werden; sie haben noch keiner Ehefrau ein Cingulum gegeben, ohne daß man es gefunden, und als einer der Novizen über den ascetischen Exercitien in Wahnsinn verfiel, kam trotz aller Vorsicht selbst dieses zur Kunde der Welt. Auch die Weigerung, bei einer Diebstahlsuntersuchung ihren Sacristan vor das weltliche Gericht zu stellen, hatte nur zur Folge, daß die kaiserliche Hofkanzlei an die Behörden den Auftrag erließ, den Anmaßungen dieses Ordens in keiner Weise nachzugeben. Daß sie eine Mutter, die aus der Ferne herbeigeeilt, um ihren todkranken Sohn zu besuchen, von der Schwelle wiesen, hat ihnen endlich auch nicht viel genützt.

Eine bekannte Art von Schaustellungen, welche die Gesellschaft mit ihren Schülern veranstaltet, sind die Concertationen. [641] Sie dauern längere Zeit des Jahres hindurch und werden mit großem Fleiße vorbereitet. Eine derselben, die im Mai 1844 stattfand, können wir hier beschreiben. Der Schauplatz war ein großer Saal, hinten mit zuhörenden Gymnasiasten besetzt, in der Mitte die Väter der Gesellschaft und einige Herren von Innsbruck, auf dem Ehrenplatze in einem Lehnstuhl der Gouverneur. Vor diesem öffnete sich die Arena, über welcher an der Wand St. Ignatius und Xaverius hingen und zwischen diesen die Mutter Gottes. Durch ein geschriebenes Programm, welches herumlief, wurden wir unterrichtet, was alles vorgehen sollte. Auf dem Kampfplatze standen sich gegenüber zwei Reihen von acht Knaben – Athener und Spartaner nannten sie sich – im Alter von eilf bis vierzehn Jahren, einer der untern Classen angehörend. Einige derselben trugen blauen Frack mit rothen Aufschlägen und einen Degen, was sie als Zöglinge der Theresianischen Ritterakademie bezeichnete. Der Streit war schon begonnen und spann sich fort wie folgt: Ein Kämpfer der einen Reihe las von einem Zettel einen deutschen, zur Uebersetzung bestimmten und daher mit einigen Schwierigkeiten versehenen Satz herab, den ein Krieger des andern Treffens lateinisch zu machen hatte. Der Herausgeforderte wiederholte den Satz, um zu zeigen, daß er ihn verstanden, und dann gab der Angreifer die lateinischen Worte, welche der andre gleichfalls wiederholte. Nun sollte der Satz lateinisch hergesagt werden. Traf es der erste nicht, so sagte der Aufgeber: Male dixisti, sequens! und so kam der Satz immer an den nächsten, bis er fehlerlos da stand. Die Leistung war keineswegs überraschend. Gewöhnlich gerieth die Aufgabe in die vierte und fünfte Hand, und den Satz: Als König Pyrrhus gehört hatte, daß einige Jünglinge schlecht von ihm geredet, erzürnte er so sehr darüber, daß er sie vor sich führen ließ – diesen Satz stellte erst der siebente fehlerfrei her. Nach diesen Ergebnissen konnte man sich unter anderm wohl fragen, warum hier das erste lateinische Lallen dieser unschuldigen Kinder dem Publicum unter einem Gepränge preisgegeben wird, das jedenfalls viel mehr verspricht [642] als man zu leisten im Stande ist? Nachdem nun diese Uebung einige Zeit gedauert, sprach einer der Väter: Satis, und es begann etwas anderes, nämlich die Recitation aus drei Lebensgeschichten des Cornelius Nepos. „Nun, sagte der leitende Lehrer zu einem Schüler, geben Sie dem und dem ein Capitel auf.“ „„Also das dritte aus Epaminondas.““ Der Genannte begann mit größter Geläufigkeit das aufgegebene Capitel herabzusagen. „Schnell ein anderes.“ „„Viertes aus Datames.““ – – – „Schnell ein anders. – Schnell ein andres.“ – Schnell ein andres.“ – Es versteht sich von selbst, daß dieser zweite Theil des Schauspiels als eine glänzende Probe des Eifers gelten sollte, mit welcher die Uebung des Gedächtnisses betrieben wird. Vielleicht geben sie auch Preise für das beste Gedächtniß, wie solche in der guten alten Zeit zu Trient an jene vertheilt wurden, welche ein ganzes Buch vor und rückwärts aufsagen konnten. Den Werth dieser Leistung zu schätzen, wollen wir den Pädagogen überlassen. Den Schluß jener Concertation bildete der Vortrag einiger deutscher Gedichte. Für die Innsbrucker scheint gleichwohl die ganze Gymnastik dieser Concertationen nichts Bestechendes gehabt zu haben. Sie beklagen es noch immer, ihre Kinder beim Mangel einer andern Anstalt den Jesuiten übergeben zu müssen. Mehrere Väter lassen ihre Söhne privatim studiren und dann im benachbarten Hall die Prüfung bestehen. Um so unlieber wird es vermerkt, daß die Gesellschaft alles aufbietet, um auch dort die Leitung des Gymnasiums zu erhalten. Solche Uebernahmen schon bestehender Schulen sind allerdings viel ausgiebiger, als die Gründung neuer; denn bis zum April dieses Jahres hatte sich zur Aufnahme im Convictsgebäude – im Knabenzwinger, wie die Innsbrucker sagen – ein Einziger gemeldet, und es schien sehr zweifelhaft, ob jene ersehnten Zehn zusammenkommen werden, mit welchen man im heurigen October die Anstalt wenigstens einmal eröffnen will. Die Glieder des Ordens haben sich indessen weidlich vermehrt. Statt der fünf Väter, die im Jahre 1838 schlechtgenährt, demüthig, anspruchslos zu Innsbruck einzogen, [643] sind es jetzt ihrer achtzig, wohlgehaltene, machtbewußte, ausgreifende Herren.*)[6]

Nun noch einige allgemeine Betrachtungen über das tirolische Volk.[WS 2]

Die innere Tüchtigkeit des tirolischen Bauernstandes ist weltbekannt. Aus gesundem Kern hervorgewachsen, durch die früheren Geschichten seines Vaterlandes gehoben, seit Jahrhunderten aller Leibeigenschaft ledig, frei auf seinem Eigen, durch den rauhen Boden und die frischen Lüfte seiner Alpen nur gekräftigt, mit trefflichen Anlagen ausgerüstet, gibt er jedem Unbefangenen vieles zu loben, manchen schönen Zug auch zu bewundern. Von seinen eigenen Thaten her ist ihm großes Selbstgefühl geblieben und eine hohe Meinung von der Ehre seines Standes, von seiner eigenen Begabung, nicht allein das Land zu schützen, sondern wohl auch mit eigener Weisheit ohne Zutritt der Herren es zu verwalten. Diese Germanismen, die ehedem vor den landschaftlichen Ständen ihre gesetzliche Verlautbarung fanden, haben sich seit dem Verwelken der Institution wieder einwärts geschlagen, sitzen aber im Bauernblute wie vorher, nur daß die Wünsche formloser, unbestimmter geworden. Legt man nun zu dieser innern bildungsfähigen Selbständigkeit ein frisches kräftiges Volksleben, mit allem ausgestattet was dazu gehört, mit sinnigen Ueberlieferungen, schönen Gebräuchen, heitern Festen, so kann man leicht der Ansicht werden, daß der Tiroler Bauernstand, wenn man zu rechter Zeit seiner vernünftigen Entwickelung ihren Weg gelassen, seine geistigen Kräfte gefördert, seinen Bildungstrieb entfaltet hätte, viele Aussicht hatte ein Musterschlag zu werden.

Aber die hohen Freunde und Gönner, die er sich durch seine Thaten erworben, scheinen seine Talente nie überschätzt, selten nur recht gewürdigt zu haben. Als die Befreiungskriege vorüber waren, legte man viel mehr Werth auf seine [644] Liebe zum Herkömmlichen, als auf jene Anlagen, die einem neuen Jahrhundert zur Ausbildung vorbehalten schienen. Ein tiefer aber seliger Schlummer des theuern Alpenvolkes, über dem das mütterliche Auge der Regierung wachte, empfahl sich als der beste Zustand. Dazu gehörte vor allem Beschwichtigung der noch nachzitternden innern Bewegung, eine hermetische Abschließung gegen außen und eine entsprechende Erziehung durch Kirche und Schule.

Bald nach der Restauration stellte sich heraus, daß auch die Priesterschaft für ihr Belange den Bauern nicht anders wünschte, als der Hof. Wie er diesem gerecht war, so paßte er auf für jene. Man konnte ihn daher vertrauensvoll ihren milden Händen überlassen, und diese nahmen den Pflegling willig auf.

Der tirolische Clerus – denn man kann nicht von den Bauern reden, ohne zugleich von ihm zu sprechen – steht nach jetziger Einrichtung unter den beiden Fürstbischöfen von Brixen und Trient; nur wenige Pfarreien gehören dem Erzstift Salzburg an, dessen Suffragane die beiden tirolischen Bischöfe sind. Die auswärtigen Kirchenhirten, die Bischöfe von Chur, Constanz, Augsburg, Freising, Chiemsee, sind im Jahre 1815 – wie schon unter Joseph II die wälschen Bischöfe von Feltre, Padua und Verona – um alle ihre Diöcesanrechte gekommen, und es zeigte sich auch bei dieser Gelegenheit wieder, wie Oesterreich in bestem Frieden durchführen konnte, was, wenn es Bayern versuchte, die Gemüther auf das tiefste verletzte. Die Zahl der Geistlichen wurde im Jahre 1837 zu zweitausendneunhundertvierundzwanzig angegeben und es traf daher auf zweihundertachtundsiebenzig Menschen ein Priester. Unter jener Zahl mögen etwa fünfhundert Mönche seyn, die in den vier Abteien der Prämonstratenser zu Wilten, der Benedictiner zu Marienberg und Viecht, der Cistercienser zu Stams, in der Augustinerpropstei zu Neustift, in ein paar andern geistlichen Stiftern, endlich in den verschiedenen Mendicantenklöstern leben, deren dreiundvierzig im Lande sind. Weibliche Klöster zählt man zwanzig, in denen über vierhundert Nonnen. Einige davon haben Erziehungsinstitute, deren Leistungen aber sehr gering angeschlagen werden.

[645] Der tirolische Clerus geht zum größern Theile aus dem Bauernstande hervor. Die Aussicht auf frühe Sicherung des Lebensunterhaltes läßt den Söhnen armer Eltern, falls sie studiren wollen, kaum eine andre Wahl. Sie erhalten sich am Gymnasium – als „Lotterstudenten" – durch Freitische und Wohlthaten der Stadtleute, gehen dann nach Innsbruck um an der Universität den philosophischen Cursus durchzumachen, und bleiben zuletzt vier Jahre in einem der Seminare zu Brixen und Trient. Wer die Einrichtung der österreichischen Schulen kennt – und nach dem Vielen, was man darüber veröffentlicht hat, ist dieß Urtheil nicht mehr schwierig – der wird selbst berechnen können, wie weit ihre Ausbildung auf diesem Wege gedeihen mag.

Den tiefen Zug von Gutmüthigkeit und Wohlwollen, der durch den tirolischen Charakter geht, finden wir auch in dem Priester wieder, und die Lage, in der die meisten leben, gibt ihnen auch Anlaß genug, ihre Menschenfreundlichkeit in schwerer Selbstverläugnung zu üben. Die Beschwerlichkeiten einer Seelsorge in den Bergdörfern haben wir an einem andern Orte zu schildern gesucht. Arm und einsam verlebt der Curat die schönsten Jahre seines Lebens und wird dadurch nicht weniger als durch Andacht und Gebet gelehrt, von der Welt sich abzuwenden und alle seine Hoffnungen auf ein besseres Jenseits zu stellen, dessen er sich und seine Gemeinde immer würdiger zu machen sucht. Fremdartiges, Weltliches, Zerstreuendes strebt er als Versuchung abzuwehren, und sein Vorbild ist weniger das Ringen nach wissenschaftlicher Vervollkommnung als nach stiller Erbauung und Beschaulichkeit. Um Bücher zu kaufen, fehlen alle Mittel, und so geht zuletzt auch die Schätzung ihres Werthes verloren. Von dem Daseyn einer deutschen Literatur, von der Nothwendigkeit sie zu kennen, findet man kaum eine Ahnung. Die classischen Studien werden durch das Brevier ersetzt, das ja auch lateinisch ist. Nur wohlhabende Decane lesen „Journäler,“ verstehe Sion und die Postzeitung. So kann man denn, wenn man sich nicht vor etwas scharfen Worten scheut, auf den tirolischen Clerus ungefähr dasselbe anwenden, was vor nicht langer Zeit von dem [646] französischen so gesagt wurde: „die Mehrzahl der Geistlichen besteht aus Bauernsöhnen, die gute Seelsorger werden, aber keine Theologen. Von philosophischer, historischer, staatswissenschaftlicher Bildung, von Zurechtstellung in Zeit und Zeitgeschichte, in ihren Beziehungen zum Ewigen kaum eine Spur; die strengste Sonderung von der Welt und der Gesellschaft ohne die Kraft, die Energie, die Vortheile eines durchgearbeiteten Ascetismus; daneben eine einseitige Auffassung alles dessen, was in der Zeit geschieht, als mehr und mehr vom Bösen gefärbt.“

Stellen wir nun diesen Clerus mit dem Bauern zusammen, wie er nach der Zeit war, als Tirol wieder an Oesterreich fiel, so haben wir auf der einen Seite einen frommen, der Zeit und der Welt mißtrauenden Quietismus, auf der andern einen noch sprudelnden Nationalgeist, ein Volk, das sich so eben viele Anerkennung erfochten, das seiner Ehre, seinen Ansprüchen nichts vergeben wollte, das da, lebenslustig und heiter, einer Zukunft entgegen sah, von der es noch vieles erwartete. Der Clerus fühlte, daß der Schwerpunkt auf die andre Seite fiel, wollte sich aber davon nicht imponiren lassen und fand diese Selbständigkeit belästigend. Sollten jene Richtungen noch weiter gehen, sollte das Volk durch Erziehung und Unterricht noch gehoben werden, so schien der Gehorsam und die Ergebenheit leiden zu müssen. Man fing daher an, das ganze reiche Volksleben als Verderbniß anzusehen. Mit dem Waidspruche: Ora et labora sollte sich alles abthun lassen. Die Glieder sollten frei bleiben für die Arbeit, der Mund für Gebete, aber die Ausbildung andrer Kräfte schien vom Uebel. Man kam allmählich zur Ueberzeugung, die man jetzt offen ausspricht, daß es dem Bauern nicht gut thue etwas zu wissen, daß es gefährlich sey, seine geistigen Anlagen zu entwickeln. Es gibt vielleicht auch Viele, die darin ein geschichtliches Herkommen sehen und der Meinung sind, es sey in diesem Stücke von jeher so gewesen wie jetzt.

Es ist nun zwar schon lange her, daß es anders war, aber vielleicht noch nicht zu spät, zuweilen daran zu erinnern. Wie uns jetzt durch das Verdienst der Brüder Grimm die [647] Welt des germanischen Alterthums vor Augen gelegt ist, so ergibt sich, daß unser Stamm in seiner Begabung nicht zurückstand vor irgend einem, der jemals in der Geschichte groß war. Frühere deutsche Schriftsteller wußten zwar kein besseres Zeugniß für ihre Kritik und ihre Unbefangenheit zu geben, als grelle Gemälde roher Barbarei und unmenschlicher Versunkenheit, aber dieselben alterthümlich rohen Züge finden wir auch bei den Griechen und Römern. Diese waren, wie Jacob Grimm sagt, nur duldsamer gegen ihr eigenes Alterthum, als wir gegen das unsere; sie suchten ihm geistige Triebfedern unterzulegen und es zu erheben, nicht zu erniedrigen; denn darin eben erwiesen sich die Alten großartig, daß sie die Nacktheit und das Dunkel ihrer Vorzeit gewissenhaft ehrten. – Wie die Sprache damals klangreicher, bildsamer und edler, so war auch noch die geistige Bewegung des Volkes gefügig, reich und schön. Das Leben so eng an der Natur hatte es dahin geführt, ihre Kräfte kennen zu lernen, und wenn diese auch mannichfach überschätzt wurden, wenn dem Zauber zu viel Macht beigelegt war, so erfreut doch auch in diesem Treiben wieder die dichterische Anschauung. Wie Baum, Kraut und Gras, der Berg und seine innersten Tiefen, Quell, Strom und Meer dem Deutschen durch Verknüpfung mit der Göttersage poetische Bedeutung erhielt, so auch das blaue Gewölbe und seine glänzenden Insassen über ihm. Jornandes, der Gothe, berichtet, daß seinen Landsleuten lange vor seiner Zeit außer den Planeten dreihundertundvierundvierzig Sterne bekannt gewesen. Die Milchstraße kennt ja noch Aventin unter dem Namen Euringstraße, den sie von dem mythischen Heroen Iring erhalten hat. Wenn wir nun auch diese volksthümliche Kunde der Natur und ihrer Kräfte durch die neuere Wissenschaft übertreffend vertreten seyn lassen, so ersetzt doch nichts mehr das alte deutsche Recht und die alte deutsche Poesie. Die Verkümmerung des geistigen Lebens unsers Landmannes ist mitunter auch der Einführung eines fremden Rechtes und einer Gerichtsverfassung zuzuschreiben, die ihn als Urtheilssprecher überflüssig machte, dadurch seinen offenen Sinn für die Gewährschaft des Rechtszustandes abstumpfte, die große [648] Schule der Oeffentlichkeit ihm benahm und die Gelegenheit, seinen Verstand in logischen Problemen zu üben. Die Rechtssprüche durch den Mund des Landvolkes sind, nach den Worten Grimms, ein herrliches Zeugniß der freien und edlen Art unsers eingebornen Rechts. „Es ist wahr, daß in manchen Bestimmungen eine derbe heidnische Ansicht waltet, die den gemilderten Sitten der Nachwelt Anstoß gibt, aber wir müssen eingedenk seyn, daß neben einzelnen Wildheiten, die uns beleidigen, im altdeutschen Rechte die erfreuende Reinheit, Milde und Tugend der Vorfahren leuchtet und noch unbegriffene Züge ihrer Sinnesart unser ganzes Nachdenken anregen müssen.“ Ein Säcularcursus in jener biedern Rohheit würde uns, wenn er möglich wäre, gewiß weit weniger schaden, als der Durchgang durch die servile Schlechtigkeit und die andächtelnde Heuchelei des vorigen Jahrhunderts, aus dem wir noch immer nicht recht heraus sind. – Ein Verlust, fast ebenso groß und noch weniger zu ersetzen, ist der der deutschen Volkspoesie, deren Stoffe ja bis ins älteste Heidenthum hinauf reichen und ein Stammgut aller deutschen Stämme waren von den Eisbergen Islands bis in die wälschen Gassen von Verona. Ueberall erklangen die Lieder von Sigfrid, dem Drachentödter, und der liebenden Chriemhild, von dem guten König Ezel und dem starken Dietrich von Bern. Aventin berichtet uns, daß noch zu seiner Zeit die Bauern von keinem Könige mehr erzählt, als von Dietrich von Bern, welches nämlich der alte Gothenkönig Theodorich ist. Gewiß war damals in Tirol noch reichlicher die Rede von ihm, da ja die Burg zu Bern und jene andre zu Garten fast vor Augen lagen, während König Laurin und die Mähr vom Berge zu Gloggensachsen (Gossensaß) und noch so vieles andre der deutschen Heldensage gerade auf tirolischen Boden einwurzelte. Wenn damals der Sinn des Volkes überhaupt für Ueberlieferungen noch offener war, so dürfen wir annehmen, daß auch seine eigene Historie fester haftete, und wie die Hellenen die Geschichte ihrer Heldengeschlechter viele Jahrhunderte lang mündlich fortgetragen haben, so ging wohl auch bei den Deutschen das Gedächtniß ihrer Thaten länger mit, während sich jetzt das [649] Landvolk nur mehr an den Franzosenkrieg und an die Zeit der Schweden erinnert, und was zwischen diesen beiden und über den Schwedenkrieg hinaus liegt, in kimmerischer Finsterniß ruht. Wie im Gebiete des Rechts die Zerstörung des Volksthümlichen sich dadurch rächt, daß der Bauer keine Idee mehr hat von den Gesetzen, unter denen er lebt, und jedem Schreiber anheimgegeben ist, der ihn ausbeuten will, so zeigt sich auch in der Poesie die Verwüstung darin, daß der Bauer, nachdem seine reichen Schätze versunken, statt tiefer, deutscher Volkslieder die flachen Gesänge nachleiert, die ihm fahrende Harfenistinnen hinterlassen, während die Unkenntniß vaterländischer Geschichte wieder schädlich auf seine Vaterlandsliebe wirkt. – Und so war in der alten Zeit auch jedes wiederkehrende Ereigniß des Lebens, der Muth der Männer, das weise Walten der Frauen, die holde Anmuth der Mädchen mit höhern Dingen in Bezug gesetzt, dadurch gehoben und poetisch verklärt. So gab der Deutsche auch den Jahreszeiten göttliche Ehren und ihre Ankunft feierte er mit fröhlichen Festen. Durch viele andere Gebräuche dieser Art wurde das Jahr reich an bedeutsamen Vorgängen, mit deren Verkommen wir bestimmt eingebüßt haben. Dabei überall fröhliche Lieder und Tänze und eine freudige Erhebung. Der Gesang begleitete den Tanz und dieser erhielt dadurch eine eigene Würde und sank wohl viel seltener als jetzt zu jener Ausgelassenheit herab, die unsern Polizeileuten so viel zu schaffen macht.*) [7]

Fassen wir diese Andeutungen zusammen, so erscheint uns die Geschichte des deutschen Bauers als eine durchaus tragische, wie die eines Hauses, das von der Höhe des Reichthums und des Ansehens zu Dürftigkeit und Verachtung herabgesunken. Einst war der freie Bauer so gut wie der Edelherr der Träger der geistigen Errungenschaft der Nation, er hatte dieselben Kenntnisse und Wissenschaften, dasselbe Recht; die deutsche Vorzeit hatte einen poetischen Schatz hinterlassen, in [650] welchen sich Ritter und Bauersmann brüderlich theilen konnten, und so stand jeder auf seinen eigenen Füßen.

Wenn wir nun von diesen Besprechungen, bei denen der Blick wohl auch über die tirolischen Gränzen hinausgeworfen werden konnte, wieder auf unser Alpenland zurückkommen, so finden wir freilich, daß derlei Gedanken, Meinungen und Ansichten in dortiger Praxis gar keinen Widerhall finden. Da ist alles, was außerhalb der Kirche liegt, von gar keinem Werth, und die Sinnigkeit des Volkslebens gilt für sündhaft. Vorerst ging man aus, den Baum des alten heidnischen Aberglaubens zu fällen und dazu schien auch die vollste Berechtigung gegeben. Man hört nämlich nirgends so viel von Aufklärung sprechen, als in Tirol, und man versteht darunter nicht etwa vernünftigen Unterricht, sondern die Vertilgung alles dessen, was dem Volk von alten harmlosen Glaubensstücken, Mähren und Ueberlieferungen geblieben ist. Im Ganzen darf man diese Verfolgung nicht zu streng beurtheilen, denn wir sind ja selbst erst neuerlich belehrt worden, welcher Schatz in diesen Dingen liege, und dürfen uns nicht verwundern, daß die Kunde davon noch nicht nach Tirol gedrungen. Ueberhaupt möchte nicht jeder zu überzeugen seyn, daß der archäologische Reiz des weltlichen Aberglaubens die Pflege desselben wünschenswerth mache, wenn es auch jetzt höchst nothwendig geworden, die Reste alle zur Aufbewahrung zu sammeln. Etwas ungünstiger stellt sich die Sache, wenn die Verfolgung auch gegen die Sagen gerichtet wird, und das ist leider der Fall. Die Aufklärung sieht auch in ihnen nur ein albernes Spielzeug, das dem Volke zur Unehre gereiche, und vermag die Bedeutung derselben nicht zu ahnen. Die historischen Sagen sind fast alle längst verklungen; eine Menge, welche neuere Bücher als noch lebend anführen, können nicht mehr erfragt werden und bei näherer Erkundigung ergibt sich, daß sie nur aus älteren Handschriften und gedruckten Werken zusammengesucht sind. Auch die Natursagen, die Erzählungen von den Berggeistern, den Norkelen, den Riesen und sofort ersterben mehr und mehr. Der Bauer hat den Glauben und [651] den Gefallen daran verloren, und was da einmal vergessen und verschollen, das ist nie mehr zurückzuführen.

Sitten und Gebräuche anlangend, so wurde und wird auch da mehr und mehr alles Eigenthümliche weggekehrt, in manchen Fällen mit gefälliger Hülfeleistung der weltlichen Be­hörde, die nicht überall Unrecht daran that und thut, denn das alte Roblerwesen zum Beispiel und das Widderstoßen auf jener Au im Zillerthale wird für unsre Zeit kaum mehr haltbar erscheinen dürfen. Aber auch gegen andre, zum Theil bedeutsamere, jedenfalls unschädliche Gebräuche ist gewirkt worden, wie gegen das an der heidnischen Frau Berchte hän­gende Berchtenlaufen, das zu Lienz im Pusterthale noch bis auf unsre Zeiten in Uebung war, gegen andre alte Gebräuche in dieser Gegend, gegen das Schemenlaufen im Oberinnthale, gegen eine lange Reihe anderer, die wir hier nicht aufführen wollen. Das tirolische Volksleben hatte sich ungemein vieles von diesen Alterthümern erhalten, was jetzt noch zu erfragen ist und mit Eifer erforscht werden darf, ehe es ganz vergessen wird. Das Volk hat nicht immer gerne nachgegeben; man hört noch manchmal klagen über den Abgang dieser oder jener fröhlichen Sitte mit dem immer wiederkehrenden Refrain: Es heißt halt a nicht mehr. Es ist zwar zu bedauern, zumal gerade jetzt, wo das Verständniß aufgegangen, daß so vieles Werthvolle mit Gewalt ausgerottet wurde, aber man kann auch zugeben, daß das Wenigste davon noch eine lange Dauer versprach. Es ist unmöglich, selbst ein Alpenvolk, zu gelehr­ten Zwecken vor allem Eindringen neuerer Anschauungen abzusperren, und selbst die sorgsamste, liebreichste Pflege würde es bei seinen alten Mähren und Sagen, bei allen ehrwürdi­gen, anziehenden, aufschlußreichen Sitten und Gebräuchen nicht zu erhalten vermögen. Die stolze Eiche des alten Heidenthums ist erstorben und ihre letzten Blätter säuseln wehmüthig von den Zweigen herab. „Der Hochmuth der Prosa“ ist auch ins Volk gedrungen und seine Ueberlieferungen sind ihm so ziem­lich verleidet. Das geht zunächst die Sagen und Mährchen an; in Betreff erheblicher, eigenthümlicher Volkssitten ist aber auch die ganze Gesammtheit zurückgegangen und spröde geworden. [652] Aehnliches wird sich nicht wieder machen lassen, wie 1401, da Herzog Stephan zu München und seine Gemahlin und die Fräu­lein auf dem Markte tanzten mit den Bürgerinnen bei dem Sunnwendfeuer, oder wie 1497, da zu Augsburg vor Kaiser Maximilian die schöne Susanna Neidhart das Johannisfeuer mit einer Fackel anzündete und den ersten Reigen um die Flamme that an der Hand Philipp des Schönen. Wenn da ehemals die Fürsten mit dabei waren, so läßt sich wohl denken, daß sich auch die Herren und die Bürger solcher Mitwirkung nicht zu schämen brauchten. Jetzt aber haben sich die „anständigen“ Leute schon lange von allen solchen öffentlichen Vorstellungen zurückgezogen, und so ist zuletzt die Bewahrung dieser Alterthümer dem un­tersten Volke zugefallen, was allerdings ihr letztes Stadium scheint. Immerhin wird den tirolischen Volkserziehern der Tadel bleiben, daß sie aus der Physiognomie des Landes viele schöne Züge weggestrichen haben, die sie ruhig von selbst er­löschen lassen durften.

Aber das Wesen geht noch viel weiter. Der baürische Mustermensch, wie man ihn hier heranbilden will, soll nämlich von allem Irdischem abgewendet, aller Lebensfreude entwöhnt und gelehrt werden, ganz und ausschließlich im Gebet und in der Erbauung seine Erholung zu suchen. Der „lustige Tirolersbue“ fängt an eine Fabel zu werden. Man predigt im ganzen Lande gegen das Sündhafte weltlicher Freuden, deren vorübergehender Reiz mit langen Jahren im Fegfeuer, mit höllischen Flammen und unter den Martern der Teufel abgebüßt werden müsse. So geht man denn feindlich auf alles los, was dem trübseligen Einerlei des Alltagslebens noch einigen Schmuck verleihen kann. Man verbietet der Jugend des Landes, sich an der süßen Wehmuth der Zither zu erfreuen, man sagt dem Bauern, seine Lieder, selbst die unschuldigsten, seyen dem Seelenheile gefährlich, man hat fast überall im Lande den Tanz verboten. Wenn der redliche Weizenegger sich noch im Alter an die ehemali­gen Tänze der vorarlbergischen Jugend mit Freuden erinnerte, so prahlt jetzt mancher Pfarrer in Tirol, daß man in seinem Sprengel außer der Kirche das ganze Jahr hindurch keine Geige höre. Selbst bei den Hochzeiten hat eine lautlose Völlerei die heitre [653] Fröhlichkeit von ehemals verdrängt. So wird das alte, frische, saftige Leben, Kraft, Regsamkeit und freudiges Selbstgefühl zum größten Theile dahingehen, um stumpfer Ruhe und ge­dankenloser Abspannung die Stelle zu überlassen.

Wenn nun aus diesem puritanischen Treiben gleichwohl das Streben hervorträte, den Landmann durch Unterricht und intellectuelle Erziehung zu erheben und so mit der Ascese auch eine, wenn noch so geringe geistige Bildung zu verbinden, so würde sich das mancher noch gefallen lassen, allein man hat sich auch diesen Zuschuß nicht vorbehalten. Es gibt zwar sehr viele Landschulen in Tirol und sie steigen von der Ebene hinan fast bis ans Eis der Ferner, aber man lernt nichts dar­innen, oder wenigstens die Erziehung nach der Schule ist so beschaffen, daß alles Gelernte wieder vergessen werden muß. Ma sieht’s nicht gerne, wenn der Bauer liest, außer in einem vergilbten Gebetbuche oder in neuvertheilten Andachtsblättchen, und es findet sich daher auch selten Andres vor, als etwa eine alte ungenießbare Hausscharteke. Sonstigen Bildungsmitteln wird der Eingang sehr erschwert, und man hat an einigen Orten sogar die Schriften des Verfassers der Ostereier verboten. Die früher geschilderte „Aufklärung“ gilt als Inbegriff der Volksbildung, „Meine Kinder können mir auch nicht helfen, klagte einmal ein Passeyrer Kraksenträger, Katechismus und Gebetlein wissen sie wohl prächtig herzusagen, aber wenn sie mir einen Brief schreiben oder eine Rechnung machen sollen, sind sie’s nicht im Stande.“

Zither und Tanz werden freilich die Lücke allein nicht ausfüllen, aber darum müßte die alte Wissenschaft des Volkes wie­der in ihre Heimath zurückgeleitet werden. An Verbreitung gu­ter Volkschriften denken hier die wenigsten, und doch würde ein populäres Buch etwa über tirolische Geschichte vielleicht mehr Segen stiften als die fünfundzwanzigste Auflage von Pater Kochems Höllenbildern oder ein neurevidirter Himmelschlüssel. Auf dem Wege auf dem die höhern Stände gebildet worden sind, auf demselben werden sie, in Tirol wie im übrigen Deutschland, auch das Volk zu bilden haben. Nur so wird [654] wieder ein achtbarer Bauernstand entstehen, der in den Geschicken seines Vaterlandes mitzählt, und nur in dieser Her­anziehung liegt das Geheimniß, den Landmann mit der Idee zu versöhnen, daß es auch einen Städter, einen Herrn geben darf, und jene Drohungen unschädlich zu machen, die man in Tirol vielleicht öfter hören mag als anderswo.

Fragt man nun aber, was bleibt dem Bauern, nachdem man ihm seine Sagen und Mährchen, seine Lieder, seine Musik und seinen Tanz, seine Feste und seine Freuden, seine Rechte und seine Freiheiten, seine politische Wirksamkeit genommen, während man seinen Anlagen die Entwicklung, seinem Geiste alle Anregung versagt, so lautet die Antwort: die Religion. Da ist nun freilich alles schön bestellt, an allen Hälsen hän­gen Amulette, auf allen Pfaden schallt es: Gelobt sey Jesus Christus, auf allen Straßen ziehen betende Wallfahrer und glanzreiche Processionen, auf jeder Flur steht ein Feldkreuz, auf jedem Bühel eine Capelle – überall schöne Kirchen, deren Glocken erbauend durch das Land hallen, Gotteshäuser voll bußfertigen Volkes, überall Klöster und Stifter, überall Weltpriester und Mönche, überall Andachten, Litaneien und Ge­bete, von Zeit zu Zeit auch eine „Heilige,“ durch die der Himmel dem Lande sein Wohlgefallen erzeigt. Wenn gleich­wohl der Landmann immer mehr verdumpft, verdorrt und austrocknet, wenn er von ferne nicht das ist, was er seyn sollte, so kommt man unfreiwillig zu der Ansicht, daß sich ein Volksleben, daß sich Bildung und Entwicklung durch den Kirchendienst, durch Andacht und Frömmigkeit allein nicht er­setzen lassen.

Das ist nun allerdings auch die Meinung der Einsichtigen in Tirol, allein sie hat natürlich wenig Freiheit sich zu äußern. Daß es auch viele gibt, die andrer Ansicht sind, geht indessen daraus hervor, daß man zu größerer Befestigung des schon Errungenen noch ein neues Werkzeug willig aufnahm, nämlich die „Missionen“ – dasselbe Beförderungs­mittel der Frömmigkeit, vor dem in Bayern selbst ein Erzbischof gewarnt hat, während es Hochwürden Duile, der ehemalige [655] Decan zu Innsbruck, jetzige Domherr zu Brixen, zu preisen und öffentlich zu empfehlen nicht müde wird. Es sind die Redemptoristen, denen man die Wiederaufnahme dieser alten je­suitischen Erfindung verdankt. Der Verlauf der Unternehmung aber ist ungefähr folgender:

Wenn ein Pfarrer sich bewogen gefunden hat eine Mission zu erbitten, so ergeht die Verkündigung, und alles Volk richtet sich ein, acht oder vierzehn Tage zu feiern. Die Wirthe, welche große Gönner der Missionen sind, und etliche Andächtige der Gemeinde schießen einen Zehrpfennig zusammen und überneh­men die unentgeltliche Verpflegung der geistlichen Gäste. Sind dann diese mit festlichem Gepränge empfangen, so beginnen die Uebungen, theils in der Kirche, theils auch außerhalb, wobei von einer rothausgeschlagenen Bühne herab gepredigt wird. Den Anfang bilden die Standespredigten nach vier Abtheilungen, nämlich für Junggesellen, Jungfrauen, Ehemänner und Wei­ber. Es fehlt dabei für die ledigen Leute nicht an ausführ­licher Schilderung der Gefahren der Keuschheit, und mit den verheiratheten werden weitläufig die Geheimnisse des Ehe­bunds besprochen. Alles Volk das herbeigekommen, legt nun auch die Beichte ab. In dieser werden die Bußfertigen sehr eindringlich geprüft, mit unermüdlichem Eifer, aber ungemein wenig Menschenkenntniß. Da soll die innerste Falte des Her­zens sich öffnen, und deßwegen wird insbesondre die Jugend oft nach Lastern gefragt, von denen sie sich vorher nichts träumen ließ. Folgt dann in schwarzbehängter Kirche die Buß­predigt im Großen, der Kern des Ganzen. Dazu wird gerne ein wohlgestalter junger Priester gewählt, der mit süßer Tenorstimme einzudringen weiß in die Seelen des schwachen Geschlechts, denn diesem steht die Initiative der Empfindung zu. Er ergeht sich zuerst über die Erbsünde, die Verdorben­heit der menschlichen Natur und über die Nothwendigkeit der Entsündigung durch Buße. Dann schlägt er ein öffentliches Bekenntniß der Sünden vor, und da diese Idee zunächst keinen Anklang findet, so beginnt er mit öffentlicher Selbstanklage. Er sey selbst ein unwürdiger Priester, selbst voll Sünden und voll Laster, sey nicht werth hier oben zu stehen und die priesterlichen [656] Gewänder zu tragen. Unter sprühender Declamation und kunstreichem Gebärdenspiel zieht er dann nach einander Stola, Manipel und alles, was er erübrigen kann, von seinem Leibe und wirft es unter das Volk. Dann steigt er selbst gedemüthigt, vernichtet und mit thränenschwerem Auge von der Kanzel. Der Effect dieses Stückes ist ungeheuer, ob­gleich es ganz genau in derselben Art und Weise bei jeder Mission wiederkehrt und mancher der Zuhörer sich den jungen Zeloten nicht allein auf der Kanzel vergegenwärtigen dürfte, sondern auch in seiner Stube, wie er die Rolle memorirt und vor dem Spiegel die Mimik einstudirt. „Warum ist er denn hinaufgestiegen, fragte ein Bauer seinen Nachbar, wenn er vorher wußte, daß er nicht würdig ist.“ „Sey still, ant­wortete der Andre, das gehört ja zum G’spiel.“

Durch jene Demüthigung hat indessen der Redner sich das Recht erworben, eine gleiche auch von den Zuhörern zu fordern. Das bisher Erzählte war nur das Vorspiel, um die Anwesenden mit Gewalt als selbsthandelnde Personen in dieß religiöse Schauerdrama hereinzuziehen. Er besteigt die Kanzel wieder und mahnt das Volk, sich auf die Knie zu werfen. Die im Vordergrunde stehenden Geistlichen thun dieß, die näch­sten aus dem Volke folgen, und bald liegen alle, oft mehrere tausend Menschen auf dem Boden. In diesem Augenblick läßt sich zuweilen vom Chore herab ein Bußgesang hören, um das Kommende vorzubereiten. Nun ergeht neuerdings die Aufforderung zur lauten Selbstanklage und zu diesem Ende beginnt der Prediger Fragestücke vorzulegen. Da anfangs nur Einzelne mit gepreßter Stimme antworten, so wird die Frage wiederholt und das Volk angeeifert, lauter zu sprechen. Die Antworten werden nunmehr lauter und allgemeiner unter Weinen und Schluchzen. Weinen und Schluchzen mehrt sich und geht in andauerndes Wimmern über. Der Prediger wird immer heißer, flammender, donnernder, die eingestreu­ten Bilder aus der Hölle werden immer schauderhafter, der Eindruck immer dämonischer. Durch das Gewimmer brechen einzelne Schreie und schrillendes Geheul. Sofort allgemeines Geschrei und Geheul des Entsetzens. Der Priester, der mit [657] einem Crucifix oder mit einem Todtenkopfe agirt, beginnt in die­sem Stadium die Beschwichtigung des Sturmes, und das Trauer­spiel endet mit einer Art allgemeinen Tugendgelübdes, mit der Abschwörung aller Weltfreude und dem Versprechen eines streng ascetischen Lebens. Am andern Tage ist großes Abendmahl, wozu die Junggesellen unter schallender Musik im Schützengewande aufziehen. Die Jungfrauen tragen Blumenkränze; die Gefallenen erscheinen ohne diese Zier und in dunkeln Kleidern.

Was die Folgen dieser Missionen betrifft, so sind be­reits mehrere der Zuhörer wahnsinnig geworden und das hat selbst hohen Gönnern den Gefallen an dem frommen Werke etwas verdorben. Auch von Selbstmord als Ergebniß innerer Verzweiflung wird gesprochen. Bei einigen zeigten sich die Missionen bloß als eine nutzlose Quälerei; die meisten wurden zwar nicht besser, aber finster, trübselig, zerfallen und hatten lange zu thun, das Uebel wieder aus den Gliedern zu brin­gen. Auch wollten manche Seelsorger finden, daß viele, die von diesem wälschen, dem deutschen nüchternen Volkscharakter widerstrebenden Reizmittel gekostet, durch den ruhig würdigen Vortrag des göttlichen Wortes sich nicht mehr befriedigt fühl­ten. Etliche ältere Bauern, die den höllischen Schwefelgestank nicht mehr los werden konnten, haben sich mit neuer Liebe dem calmirenden Säuferhandwerk zugewendet. Allem nach scheinen diese Missionen folgerecht fortgesetzt das beste Mittel, um den Bauern gemüthlich vollständig auszuzehren und ihm den letzten gesunden Tropfen Blutes abzuzapfen, auch oft den letzten Groschen Geldes, der nach Wälschland wandert zu Messen, die in Deutschand nicht mehr gelesen werden können.*) [8]

Diese Weise der Bauernerziehung ist bekanntlich auch für Altbayern empfohlen worden. Wenn man bedenkt, wie der Bauer des altbayrischen Flachlandes im Laufe der Zeiten noch weiter zurückgekommen, als der des Hochlandes, wie er bei schwerfälligerem Geiste viel weniger gegen verdumpfende Einflüsse [658] reagirt als der Landmann im Gebirge, so wird man gestehen müssen, daß solche Art von Pädagogik im lieben Bayerlande alle Aussicht hat, wo möglich noch verderblicher zu wirken als anderswo. Ist der Bauer ja so schon nur mehr ein armes, ödes Menschenbild, das in die Kirche geht und Steuern bezahlt, und nicht zu verwundern, wenn er ein­geschüchtert und zaghaft in politischen Dingen zu nichts mehr brauchbar ist, als Adressen zu unterschreiben, von denen er nichts versteht.

Gehen wir nun von dem tirolischen Bauern zu den Bür­gern über. Dieser Stand ist in Tirol nicht sehr zahlreich ge­worden, da das Städteleben überhaupt nie zu großer Bedeu­tung kam. Der Gewerbsmann – hier zu Lande Handierer genannt – ist selten wohlhabend, bringt sich ehrlich fort, und befleißt sich einer großen Bescheidenheit gegen den Herrn sowohl als gegen den Bauern, der ihm zu arbeiten gibt. Der höhere Bürgerstand, zumal in Bozen und Innsbruck, fällt un­ter die Gattung der „Herren,“ von denen wir alsbald sprechen werden.*)[9]

Eine erhebliche Mittelstufe zwischen dem Bauern und dem Bürger bilden die Dorfwirthe. Nicht selten sind dieselben wohlhabend, durch den Verkehr geschliffen, unternehmend, in weltlichen Dingen die Sprecher in der Gemeinde. Ihre Be­deutsamkeit trat zumal im Jahre Neun an den Tag, und ist daher auch von Freiherrn von Hormayr ihres Orts gehörig hervorgehoben worden.

Da der Bürgerstand in Tirol so wenig zu bedeuten hat, so mag man sagen, daß da außer dem Landvolk, mit dem der niedere Clerus gleichsam zusammengewachsen ist, nur mehr ein zweites, dem ersten eher entgegen als neben angestelltes Element zu finden sey, nämlich die „Herren.“ Darunter begreift sich, den Handierer abgerechnet, alles, was nicht Bauer ist, also Adel, Beamtenthum, der herrisch sich gebärdende Großbürger und die Gesammtheit der Geldleute. Auch schließen [659] sich diesem Stande wenigstens äußerlich die geistlichen Würdenträger und der Stadtclerus an.

Diese Theilung des Volkes in zwei Hälften geht in ferne Jahrhunderte zurück. So weit man die Geschichte erforschen kann, haben sie sich zu keiner Zeit mit überlästiger Zuneigung behelligt, vielmehr oft mit dem Schwerte, oft in unblutigem Hader die streitenden Belange so kräftig geltend gemacht, als es nur die Umstände erlaubten.

Der Tiroler Adel ist zum größten Theile deutschen Ur­sprungs, und selbst solche Geschlechter in Wälschtirol, die sich mit römischen Tribunen und Senatoren als Ahnherrn brüsten, möchten die Quelle ihres Blutes wohl viel sicherer in irgend einem longobardischen Recken suchen als unter den alten Quiriten. Die eigentliche Zeit des Burgenbaues mag die der fränkischen Gaugrafen gewesen seyn. Damals waren die Eingewanderten­ bereits heimisch genug, um an feste Ansitze zu denken, und aus ihren Thürmen heraus begannen sie bald ihre Landsleute zur Ueberzeugung zu bringen, wer die Macht habe, sey auch im Rechte. So erstanden die Vesten immer dichter neben einander, bis im zwölften Jahrhundert jenes Kämpfen und Ringen der einzelnen Gaugrafengeschlechter und der hohen Pfaffheit begann, das mit dem Fall der Herzogs­macht, mit dem Untergang der Eppaner und der Bändigung der kleineren Gesellen endigte, sofort auch dem Conglomerat von Besitzthümern an Etsch und Inn die Tiroler Grafen als Oberherren und Taufpathen zurückließ. Von da an Zeiten des Streitens und Gehorchens, des Steigens und Fallens im Adel. Es erheben sich einzelne Geschlechter durch Gunst und Macht; die ganze Kaste eint sich im Adelsgericht zu Bozen; auf allen Landtagen spielt sie mit Nachdruck ihre Rolle. Rechte und Uebergriffe der Dynasten sind ebenso nachweisbar als anderswo, wie sich denn in der Gegend von Imst noch Leibeigenschaft bis ins sechzehnte Jahrhundert erhalten hat. Eine neue Höhe seiner Macht erreichte der Adel unter König Heinrich, der sich vergeblich mühte in den Städten einen Bürger­stand wie den der Reichsstädte heranzuziehen. Jener Zustand erhielt sich auch unter seiner Tochter Margareth. In ihren [660] letzten Tagen regierten die „Landherren“ allein und schenken sich, freilich nur auf kurze Zeit, viel schönes Besitzthum. Sie fanden für zweckmäßig, die Habsburger, unten an der Donau wohnhaft, zu Landesfürsten zu erküren, dieweil sie diesen weniger als den nahen Herzogen zu Bayern die Macht zutrauten, ihnen über den Kopf zu wachsen. Aber schon Rudolf zeigte deutlich, wo er sie hingestellt wissen wolle, und seine Nachfolger ließen nicht von seinem Gedanken. Da rafften sie sich zuletzt alle auf, die Landherren mit ihren Dienstmannen, erinnerten sich, wie der Graf von Tirol einst ihres Gleichen gewesen und meinten, sie wären am besten des Rei­ches. Daher der letzte Kampf der Ritterbünde gegen Herzog Friedl, ausgehend in die große Katastrophe der Rottenburger, der Starkenberger, der Wolkensteiner. Die Bauern hatten sich fürsichtig genug dem Fürsten zur Hülfe geboten und unter den Schlägen des Landvolkes und des demokratischen Fürsten und Agitators brach die Bedeutung des Adels zugleich mit seinen Burgen. Die Oligarchie ging unter in der Monarchie. Mit dem Ende des vierzehnten Jahrhunderts und im fünfzehnten erloschen viele alte Namen, und viele Schlösser wurden zu Ruinen. Mit Max I beginnt eine Einwanderung neuer Geschlechter, denen schon früher einzelne Vorläufer unter dem Brandenburger und den Habsburgern den Weg gezeigt. Es erwuchs der Landsknecht- und Schreiberadel; geritterte Söldner­führer und Gelehrte ließen sich im schönen Etschlande nieder, und neben ihnen erhaschten die Gewerksleute an den neugefundenen Gruben, die Geldmacher, alsbald Titel und Wappen. Der Reformation waren die Herren keineswegs abgeneigt; als diese aber in den Bauernkriegen auch ihnen feindselig ent­gegenzutreten schien, wendeten sie sich wieder liebevoller dem alten Glauben zu. Sie wußten dazumal die Abschaffung des berühmten, den Bauern günstigen Landlibells von 1525 zu veranlassen und wurden von nun an eifrige Hofdiener, bemüht nach Aemtern und Diensten aller Art. Um diese Zeit be­ginnt die Luxusperiode des Tiroler Adels, die etwa bis zum Tode des letzten Landesfürsten, bis zum Jahre 1665 dauerte. Dieß ist die Zeit der „Ansitze“ und der „Prädicate,“ jener [661] wohlklingenden Beinamen von alten Burgen und neuen Schlössern. Nach diesem hören allmählich die einträglichen Dienste auf, dagegen wird der Briefadel zahlreich und die Matrikel füllt sich unglaublich. Jetzt werden auch die Freiherren und die Grafen gemacht, deren früher sehr wenige waren. Mit der Masse wächst aber der Verfall. Man hat sich all­seitig erschöpft, unter anderm auch sehr stark in geistiger Be­ziehung. Allmählich trat die Verarmung ein und das Herabkommen. Eine Menge kleinen Adels flüchtet sich in die Städte und nagt an den Schnüren der Wappenbriefe, bleibt aber dabei herrisch und sich vordrängend wie früher. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts war es diesem Stande wirklich gelungen, eine Stellung zu gewinnen, so unbeliebt als je, worüber man das schon öfter gedruckte Promemoria der Landeckerbauern vom Jahre 1801 nachlesen mag. Im Kriege von 1809 beobachtete der Adel mit wenigen Ausnah­men eine standesgemäße Neutralität, immer mehr von den Bauern fürchtend, als von den Bayern. Seit der Säculari­sation war indessen auch der zahlreiche Bischofsadel in die Matrikel gekommen und die vielen tridentischen Conti di Nonanta, die ihre Titel 1790 während des Reichsvicariats hatten improvisiren lassen, verwandelten sich größtentheils in öster­reichische Cavalieri. Somit mag man wohl nirgends einen zahlreichern Kleinadel finden, als heute in Tirol. Alte Familien von Bedeutung, denen es nicht an Macht, das heißt an Geld fehlt, das Prästigium aufrecht zu erhalten, sind in­dessen wohl kein Duzend, und auch von diesen wenigen fällt die Mehrzahl auf Wälschtirol. Die übrigen benützen ihre Titel als Empfehlungen zu Beamten- und Officierstellen und zur hie und da sehr nöthigen Ritterhülfe (Unterstützung aus dem Matrikelfonde). Auch die Landtagsplätze sind ersehnte Sinecuren. Viele sitzen auf dem verbliebenen Väterboden und treiben gemüthlich ein herrisches Bauernthum, ohne große An­sprüche an das Leben, zufrieden, daß sie einst begraben werden mit dreizehn Geistlichen und ihren Wappen an der Bahre. So wenig die Glieder dieses Kleinadels zu blenden vermögen, weder durch Ansehen oder durch Vermögen, noch durch den [662] Glanz historischer Erinnerungen, so sind sie doch, einfach als tirolische Landeskinder betrachtet, aller Ehren werth. Sie leben still und fein, enthalten sich alles Hochmuths, thun mit mäßigen Opfern manches fürs allgemeine Beste, machen neue Versuche in der Landwirthschaft und treiben mitunter vaterländische Studien, zumal Geschichte. Ihre Zugänglich­keit, ihr artiges Wesen, ihre Gastfreundschaft wird auch der Fremde oft Gelegenheit haben, angenehm zu empfinden. Man spricht den Edelmann wie den Herrn im allgemeinen mit „Gnä­diger“ an und seine Gattin heißt die „Gnädige.“

Unter dem Herrenstande im weitern Sinne findet man denn auch die „Gebildeten“ in Tirol, die literarisch Streb­samen, die Gelehrten und Schriftsteller. Die wissenschaftliche Bewegung dieses Landes ist während der letzten Jahre oft genug in deutschen Zeitschriften besprochen worden und mag dahier, wo es uns zum Schlusse drängt, mit kurzer Berührung zufrieden seyn. Der Eifer für vaterländische Geschichte ist sehr groß und wird vom Grafen Landesgouverneur mit Nachdruck unterstützt. Die ferdinandeische Zeitschrift bringt von Jahr zu Jahr anziehende Monographien über Natur und Volk von Tirol. Professor Albert Jäger hat sich jetzt, nachdem er den Krieg von 1703 so rühmlich beschrieben, der Geschichte Herzog Sigmunds des Münzreichen zugewendet. An seinen Schriften sieht man auch mit Vergnügen, daß selbst die Wiener Censur einsichtiger geworden und nicht mehr des Glaubens ist, durch ihre Thaten die Geschichte beherrschen zu können. Unter den jüngern Dichtern hat insbesondre Hermann von Gilm durch seine gedankenreichen Sonette und eigenthümliche Lyrik sich Anerkennung errungen, obgleich noch nichts davon gedruckt ist. Wenn man, ohne indiscret zu seyn, von der Stimmung der tirolischen Gebildeten sprechen darf, so ist sie so ziemlich die­selbe, wie in den andern deutschen Ländern der Monarchie. Es gilt die Ansicht, daß man dem Systeme entwachsen und daß die Regierung am besten thäte, sich mit der Intelligenz der Zeit aufrichtig zu verständigen. Man erkennt die Unzu­länglichkeit der Unterrichtsanstalten, den bedauernswerthen Zu­stand der Presse, den Mangel an öffentlichem Leben. Man [663] beklagt, daß so vielen Talenten zu Kunst und Wissenschaft, die der tirolische Boden erzeugt, doch nicht die rechte Lebenslust vergönnt sey; daß es bei der bestehenden Einschnürung so un­endlich schwierig, einen Wuchs zu erreichen, der über die Mittelmäßigkeit hinausgeht; man erkennt mit Bedauern an, daß die wenigen Tiroler, die einen Namen in Deutschland erworben, ihn nicht auf vaterländischer Erde gewinnen konnten. Man belächelt die vielen Austriacismen, die noch als politisches Rococo in unsre Zeit hereinhängen, die zappelnde Aengstlichkeit vor der Verbreitung neuer Ideen, die trotz des Cor­dons jetzt in alle österreichischen Länder eingedrungen sind, die „unaufsichtliche Aufsicht,“ die über alle Regungen des öffent­lichen Geistes verhängt ist. Alles, was da von Wien aus eine Aenderung verspricht – und in neuerer Zeit hat es anerkanntermaßen nicht an Fortschritten gefehlt, – wird mit größter Befriedigung aufgenommen. Die Verhandlungen des jüngsten Landtags in Bayern, als dem nächsten Nachbarlande, sollen manche Vergleichungen herbeigeführt haben, die den alten Freiheiten nicht sehr günstig lauteten. Von dem Werthe der Ueberwucherung kirchlichen Lebens hat man aber in diesen zur nächsten Beobachtung geeigneten Kreisen so mäßige Schä­tzung, daß man die Versuche, Bayern in dieser Beziehung zu tirolisiren, nicht zu würdigen weiß. An den Vorgängen im großen germanischen Vaterlande nimmt man von Jahr zu Jahr lebhafteren Antheil, obwohl es herkömmlich ist: da draußen in Deutschland – zu sagen.

So gleicht denn Tirol sowohl für den deutschen Gast als für den einheimischen Landesfreund, der an eine Zukunft glaubt, einer großen Halle, von alten Zeiten her geschmückt mit Inseln und Krummstäben, mit Helmen und Wappen, mit schmucken Stadtbannern und insbesondere mit trophäenartig aufgerichteten Dreschflegeln und Heugabeln, Morgensternen und Büchsen, zwischen denen eroberte Fahnen prangen, – einer schönen, prunkenden, mit historischen Erbstücken reich gezierten Halle, in welcher viele denkwürdige Haupt- und Staats­actionen vorgegangen, aber es ist zu lange kein Fenster mehr geöffnet, keine frische Luft mehr hereingelassen worden, und [664] darum ist die Atmosphäre etwas dumpf und sticklich. Man sieht darin auch so ähnliche Gestalten, wie den Barbarossa im Kyffhäuser, gute, ehrliche, mitunter auch kräftige, edle, deutsche Häupter, die da in langen ständischen Reihen ruhig sitzen und schlafen, die Ritter, die Bürger, die Bauern, nicht ohne manchen guten Traum, der einmal in Erfüllung gehen kann, – während auf der Prälatenbank alles gleichsam wach ist und sich über den süßen Schlummer der Landsleute freut und eine leise, summende, wiegenliedartige Litanei über sie ergehen läßt.

Nun kommt aber vielleicht auch einmal der Tag, wo die Fenster, zumal jene gegen Deutschland hin wieder aufgethan werden, und ein frischer, angenehmer Luftzug wird wieder durch den Saal gehen und es wird wieder verschiedenes Leben geben in der alten großen Bergeshalle. Die alten Helme werden wieder neu erglänzen und die alten Wappen erblühen in frischen Farben und die Stadtbanner wieder lustig wehen in dem Saal. Auch den Inseln und den Krummstäben wird der Wohlgesinnte eine fröhliche Motion im neuen Luftzuge nicht verübeln, wenn sie auch die Dreschflegel und Heugabeln sich etwas rühren und schütteln lassen wollen. Dann aber, wenn das Belebende des frischen Nordwinds verspürt ist, dann werden auch die biderben Schlummerer erwachen und zuletzt wohl alle zusammen treten, die Geistlichkeit, die Herren, die Bürger und die Bauern, und sich freudig die Hand reichen und sich gestehen, daß das Zurückbleiben und das Hinterlegen des Geistes ins abgestorbene Herbarium, so gut es auch jeweils einem oder dem andern Stande thun möchte, gleichwohl der Gesammtheit nicht recht zuträglich und für diese nichts besser und heilsamer sey als Be­wegung, Vorwärtsstreben, Weiterkommen. Und der Kaiser, der schon lange merkt, daß es mit der mechanischen Drillung und dem chiliastischen Schlafe seiner Landeskinder doch nicht mehr gehen will, der wird milde seinen Segen dazu geben. Dann wird sich auch die wehmüthige Devise: Es heißt halt a nicht mehr – in den ermunternden Wahlspruch ändern: Es geht jetzt alm besser.

[665]
Verbesserungen.



Seite 295 Zeile 17 von unten statt: Passerkirche lies: Passerbrücke.
Seite 299 Zeile 7 von unten statt: haldenreiche lies: heldenreiche.
Seite 317 Zeile 13 von unten statt: Deutschen lies: deutschen.
Seite 365 Zeile 7 von unten statt: Sommerlust lies: Sommerluft.
Seite 389 Zeile 14 von unten statt: zumal lies: und.
Seite 433 Zeile 9 von unten statt: faßen lies: sitzen.


In der Note Seite 439 ist statt chez (causa) zu lesen: chez (casa), statt prsechentà (in der Anekdote) preschentà; statt euer (im Stationsgebete) cuer. Auf Seite 457 wäre statt dschang und dschong besser zu lesen: tschang und tschong.

In dem Gedichte auf Seite 446 ist statt koyet – zu lesen knyet statt wey – weyss.


Seite 498 Zeile 6 von oben statt: Klaesel lies: Klausel.
Seite 540 Zeile 2 von unten statt: gebildete lies: gekleidete.
Seite 619 Zeile 14 von oben statt: erschienen lies: erscheinen.


An falschgedruckten Namen finden sich Seite 33 Fornanin statt Formarin; Seite 41 Jakob Stütz statt Jodek Stütz; Seite 352 Johann Raffl statt Joseph Raffl; Seite 407 Manntng statt Mamming; Seite 465 Plains statt Plaies.

Zu Seite 198 und 415 kann noch bemerkt werden, daß nach der neuesten Zählung 3450 Grödner befunden wurden.

Da das Buch ein Jahr unter der Presse war, so ist in den frühern Abschnitten statt heuriges, voriges Jahr zu verstehen: voriges, vorletztes Jahr.

Andere kleinere Verstöße werden wie gewöhnlich der Nachsicht des Lesers empfohlen.


  1. Sigmund der Münzreiche.
  2. *) Hier wäre auch des Gerichtswesens zu denken, doch wollen wir der Kürze wegen auf Staffler verweisen und auf den öfter erwähnten Sammler für Geschichte und Statistik von Tirol, welcher eine ausführliche Statistik der frühern äußerst verwirrten und scheckigen Jurisdictionsverhältnisse gibt. Der landesfürstlichen Gerichte waren es siebenundfünfzig, der Patrimonialgerichte doppelt so viele, nämlich sechsunddreißig Pfandschaft-, siebenundvierzig Lehen- und einunddreißig Eigenthumsgerichte. Die bayerische Regierung suspendirte die Patrimonialgerichte und vereinfachte den Organismus. Oesterreich stellte jene wieder her, da sie aber allmählich sämmtlich heimgegeben wurden, so steht man jetzt so ziemlich wieder auf bayerischem Fuße.
  3. *) Siehe: Tirol unter der bayerischen Regierung S. 427. Ihre Abfassung wird S. 231 Herrn Jos. v. Giovanelli in Bozen zugeschrieben.
  4. *) Dieser Approvisionirungsfond ist bestimmt für Herbeischaffung des Getraidebedarfes sowohl in Fällen eines drückenden Mangels, als zum Behufe der Landesvertheidigung. Er bildet sich [622] jetzt aus einem Aufschlag von fünf Kreuzern für jeden ins Land eingehenden halben Metzen Getraides, wird aber außer den Fällen der Noth auf Tilgung der ältern Landesdefensionsschulden verwendet.
  5. *) Seitdem dieß geschrieben, ist der Freiherr gestorben, am 14 September 1845.
  6. *) Ueber Wiedereinführung und Wirksamkeit des Ordens siehe außer mehreren Artikeln in den Grenzboten: Die Jesuiten in Tirol. Von einem Tiroler. Heidelberg bel Wilhelm Hoffmeister. 1845.
  7. *) Siehe S. XL. der schönen Vorrede zu den Sagen, Märchen und Liedern der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg von Karl Müllenhof. Kiel 1845.
  8. *) Bei der letzten Mission in Welsberg (Pusterthal) wurden, wie ein verlässiger Gewährsmann angibt, von den Wirthen jedem der HH. Missionäre täglich im Minimum zwei Maß Wein gereicht und an Geschenken, Kirchenopfern und Bußgeldern, 600 fl. eingenommen.
  9. *) Wer Ausführliches über die tirolische Industrie zu lesen wünscht, den verweisen wir auf Staffler 1. 342 ff.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: nebeneinande
  2. Vorlage: Vok
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