Durch Chloroform in’s Irrenhaus

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Autor: S. Th. Stein
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Titel: Durch Chloroform in’s Irrenhaus
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 557–562
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Durch Chloroform in’s Irrenhaus.


Die hohe Stellung, welche die Medicin im Kreise der exacten Wissenschaften erlangt hat, verdankt dieselbe nicht allein dem forschenden Auge des Mikroskopikers und dem eindringenden Messer des Anatomen, sondern vornehmlich sind es neben der Physik die Errungenschaften der Chemie, welche die moderne Heilkunde zu dem heutigen Standpunkte geführt haben. Mit dem theoretischen Erforschen des menschlichen Körperbaues im gesunden und kranken Zustande allein ist der leidenden Menschheit wenig genützt, wenn nicht der Wissenschaft des Erkennens die Kunst des Heilens auf dem Fuße folgt. Die erste Klage, welche dem Arzte zu Ohren kommt, ist nie objectiv; sie bezieht sich gewöhnlich nicht auf das Leiden des Patienten, sondern vornehmlich auf den Schmerz, der in den meisten Fällen durch das Leiden bedingt wird. Aber selbst der Schmerz, jener empfindliche Beweis der Unvollkommenheit unseres Daseins, jenes unangenehme Wahrzeichen unserer irdischen Existenz, hat sich in erfreulich vielen Fällen vor den Errungenschaften der Neuzeit, vor der Macht des menschlichen Geistes beugen müssen. Mannigfache Mittel, den Schmerz zu bannen, sind in dem Arzneischatze der neueren Heilmittellehre aufgenommen und durch die wunderbarsten Erfolge zu einem vor dreißig Jahren noch ungeahnten Glücke für die leidende Menschheit geworden. Aber die fast augenblicklich erzielte Empfindungslosigkeit mittelst der Methode der örtlichen Anwendung des verdunstenden Schwefeläthers, die allgemeine Ruhe, welche selbst nach den rasendsten Schmerzen durch das sogenannte subcutane Einspritzen einer Morphiumlösung unter die Haut erfolgt, der behagliche Schlaf, welcher auf den Genuß des in den jüngsten Jahren entdeckten Chloralhydrates erfolgt – die Bedeutung aller dieser Wirkungen wird in hohem Grade verdunkelt durch die Erfolge der Einführung des Chloroforms in die ärztliche und chirurgische Praxis.

Während jene Medicamente den vorhandenen Schmerz zu bannen vermögen, ist in dem Chloroform ein Zaubermittel gegen erst zu erwartende Leiden gefunden worden. Die Furcht vor den Schmerzen einer bevorstehenden Operation nahm in früheren Zeiten manchem Unglücklichen die letzten Lebenskräfte. [558] Jetzt wird der zu Operirende durch Einathmung der Chloroformdämpfe dem tragischen Acte auf kurze Zeit entrückt, und es wird die Aufhebung des Schmerzes nicht nur zu einer augenblicklichen Wohlthat für den Patienten, sondern ganz vorzüglich zu einem großen Gewinn für den operirenden Arzt. War die subjective Berücksichtigung des zu Operirenden sonst die erste Pflicht für den Chirurgen, so ist demselben jetzt durch die objective Ruhe, mit welcher er an sein heilspendendes Werk herantreten kann, ein auch für den Kranken unberechenbarer Vortheil geboten.

Laut- und empfindungslos liegt der freiwillig aus dem Kreise der Empfindenden Herausgetretene mit geschlossenen Augen vor dem Arzte da; ruhig und gemessen vollendet dieser seine verantwortungsvolle Thätigkeit. Analog den Wirkungen des Chloroform und die Einflüsse des eingeathmeten Schwefeläthers auf den menschlichen Organismus. Der berühmte Chirurg Dieffenbach, welcher die von ihm zu Operirenden mit Aetherdünsten betäubte, beschreibt diesen Rausch ganz ähnlich, wie heute der Chloroformrausch geschildert wird: „Während mancher Aetherisirte wie ein sanft Schlummernder hinsinkt und sein in rasche Schwingungen versetztes Gehirnleben sich in mannigfaltigen Phantasien abspiegelt, gerathen Andere in excentrische Aufregungen; dabei entströmen Worte des Entzückens ihrem Munde, in grellem Contraste zu dem Messer, das in ihr Fleisch sich einsenkt und zur Säge, die ihre Knochen durchknarrt. Jene Excentrizität äußert sich bei Manchen in so wilder Weise, daß sie, die sonst im Leben sanft und mild, plötzlich unter der Wirkung des Chloroforms wie Rasende sich benehmen. Im Zustande einer solchen Aufregung wähnt sich ein solcher unter Räubern und Mördern; seinem Munde entströmen die bittersten Verwünschungen; er schmettert mit Faustschlägen Alles zu Boden. Andere geberden sich wie vollkommene Narren. Derselbe Mensch, den wir mit tief ergebenem Ausdrucke seinem ernsten Geschicke entgegengehen sahen, wird in einigen Minuten zum Possenreißer umgeschaffen, grinst, lacht und treibt seine Narrenstückchen, bis er in das Stadium der Betäubung zurücksinkt.“

Das Chloroform wird gewöhnlich auf ein Tuch oder ein umsponnenes halbkugelförmiges Drahtnetz gegossen und in der Nähe von Mund und Nase dem Patienten zur Einathmung dargereicht; es ist dafür Sorge zu tragen, daß eine gehörige Menge atmosphärischer Luft, zur ungestörten Function der Lungen, den Chloroformdämpfen beigemengt sei. Die Gefahren bei Anwendung des Chloroforms bestehen vornehmlich in dem ungenügenden Zutritte des Sauerstoffgases, weshalb das Mittel in der Hand Ungeübter zu dem gefährlichsten Gift werden kann. Schon das Einathmen von vierzig bis fünfzig Tropfen reicht manchmal hin, einen Erwachsenen in wenigen Minuten völlig empfindungs- und bewußtlos zu machen. Unmittelbar nach den ersten Athemzügen stellt sich ein leichter Hustenreiz ein, welcher durch die Willenskraft leicht besiegt wird und bei fortgesetztem Einathmen von selbst aufhört. Alsbald erschlaffen sämmtliche äußeren Muskeln; der Kopf sinkt auf die Brust; die Arme fallen herab; die Beine gleiten vorwärts; das Athmen ist tief und ruhig, der Herzschlag oft kaum fühlbar. Mit Zunahme der Betäubung schwindet ein Sinn nach dem anderen. Das Gefühl hört zuerst auf, während alle übrigen Sinne noch thätig sind. Dann erlischt der Geschmack – man empfindet und unterscheidet die Geschmackseindrücke nicht mehr –, dann das Gesicht und darauf der Geruch, während das Gehör noch thätig ist. Endlich schwindet auch dieser Sinn, bis völlige Betäubung eintritt. Mit dem Nachlaß der Chloroformwirkung nach Verlauf mehrerer Minuten, oder in einer unverhältnißmäßig langen Zeit, kehren die Sinne in umgekehrter Reihe einer nach dem andern zurück. „Kindern erschienen die liebenden Eltern als verklärte Gestalten, liebende Mütter sahen das Gewand ihrer Kinder in blendender Weiße prangen. Selbst der Unkundige in der Musik wird in wonnigem Selbstgefühl zum Componisten, der Furchtsame zum Helden, der Diener zum großen Herrn.“ Der Chloroformrausch hat eine merkwürdige Aehnlichkeit mit dem Zustande der Opium- und Haschischbetäubung. Wie jene Gewohnheitsathmer des Orients sich in ihrem Wahne auf Adlerschwingen zu einem schimmernden Goldmeere erheben und gewichtslos in einem weiten Raume sich schwebend fühlen, ähnlich schwelgt der Chloroformirte in den Genüssen höherer Sphären.

Das Chloroform war im Jahre 1831 von Soubeiran zum ersten Male dargestellt worden; es entsteht häufig bei der Einwirkung des Chlorgases auf organische Körper, bei der Destillation des Weingeistes, sowie anderer organischer Stoffe mit Chlorkalk. In reichlicher Menge erhält man das angenehm riechende, süß schmeckende Medicament durch Destillation von vier Theilen Weingeist, drei Theilen Wasser und einem Theile Chlorkalk, wobei mit den sich entwickelnden Wasserdämpfen eine schwere Flüssigkeit übergeht, die, mit concentrirter Schwefelsäure gereinigt, das Chloroform darstellt.

Sechzehn Jahre vergingen, bis der berühmte Chirurg Professor Simpson die Wirkung des Chloroforms auf den Menschen entdeckte und der medicinisch-chirurgischen Gesellschaft zu Edinburg mittheilte, daß das genannte Mittel, durch die Lungen eingeathmet, eine jeder Schmerzempfindung bare Bewußtlosigkeit zu erzeugen im Stande sei. Dieses Schwinden des Bewußtseins beruht auf einer Lahmlegung gewisser zentraler Nervenorgane in unserem Gehirne, welche im normalen Zustande die Lebensthätigkeiten des Empfindens einerseits und der Bewegung andererseits vermitteln. Durch die Lungen werden die Chloroformdämpfe eingeathmet und in den feinen Lungenbläschen, welche von Tausenden mikroskopisch kleiner, fabelhaft dünnwandiger Blutäderchen umsponnen sind, direct dem Blute zugeführt; das auf diesem Wege mit Chloroform durchsetzte Blut gelangt von den Lungen in das Herz und wird mit jedem Herzstoß von hier aus in die entlegensten Theile des menschlichen Körpers übergeführt.

Wie die feinsten Blutaderströmchen die Lungenbläschen umspülen, ebenso umgeben sie im Gehirne die feinsten Empfindungsorgane, die sogenannten Ganglienzellen, mikroskopisch rundliche Gebilde, welche mit je drei bis fünf feinen fädigen Ausläufern mit den Gehirnnervenfasern und durch diese wiederum mit den Körpernerven zusammenhängen. Millionen solcher dem unbewaffneten Auge unsichtbarer Gewebe sind im Gehirne in verschiedenartigster Anordnung angesammelt; sie sind die eigentlichen Träger und Regenten des menschlichen Lebens, von ihnen geht durch die telegraphendrahtartige Vermittelung des Nervensystems jede Thätigkeit der körperlichen und geistigen Bewegung aus, zu ihnen wird auf demselben Wege jeglicher Eindruck von außen zurückgeleitet, jedes Gefühl von Freude, jede Empfindung von Schmerz. Werden nun diese Organe von dem sie ernährenden Blutstrome, der Chloroform enthält, berührt, so erliegen sie, so lange das Chloroform auf sie wirkt, das heißt so lange durch die Lungen genügende Mengen dem Blute zugeführt werden, den betäubenden Wirkungen dieses Mittels, und da von jenen winzigen Organen alle willkürlichen Lebensthätigkeiten und Empfindungen des menschlichen Körpers abhängen, so hört auch indirect die Thätigkeit aller dieser Organe während jener betäubenden Wirksamkeit auf.

Wir sagten soeben: alle willkürlichen Lebens- und Empfindungsorgane. Das hat seinen triftigen Grund. Es giebt bekanntlich im menschlichen Körper Bewegungen, die wir unwillkürlich nennen, so z. B. die Athmung, den Herzschlag, die zur Verdauung nöthigen Bewegungen des Magens und Darmcanals etc. Diese Thätigkeiten werden von einer Reihe von centralen Gangliensystemen in unserem Gehirne regiert, welche der Wirkung des Chloroforms länger widerstehen, als die oben angeführten Bewegungs- und Empfindungsganglien. Man weiß durch Versuche an Thieren, sowie durch die Erfahrung an chloroformirten Menschen, daß die den unwillkürlichen Bewegungen des Organismus vorstehenden Gangliengruppen von allen Betäubungsmitteln sehr wenig und erst sehr spät beeinflußt werden, und daß demzufolge die Bewegungen der Athmungsorgane, des Herzens und der übrigen Eingeweide auch in tiefer Chloroformnarkose normal von Statten gehen können; sollte in der Athmung und dem Herzschlage eine merkliche plötzliche Verlangsamung beobachtet werden, so ist sofort mit dem Chloroformiren auszusetzen und im Nothfalle die künstliche Athmung einzuleiten. Bei gewissenhafter Beobachtung des Pulsschlages und der Athembewegungen gehören indeß Gefahren bei Anwendung des Chloroforms zu den größten Seltenheiten, und der Chloroformtod ist trotz der hunderttausendfachen Anwendung des Mittels seit 1847 vornehmlich bei Personen, welche an organischen Herzfehlern oder sonstigen die normale Blutcirculation hindernden Uebeln gelitten haben, beobachtet worden. Ungefähr zweihundertfünfzig derartige Todesfälle sind in der

[559] ganzen medicinischen Literatur seit dem Jahre 1847 aufgeführt. Nach zuverlässigen Zusammenstellungen sind auf französischer Seite im orientalischen Kriege unter achtzehn- bis neunzehntausend in der Narkoseoperation nur zwei an den Folgen derselben gestorben. Bei den Engländern ist in demselben Kriege nur ein Todesfall, und in dem schleswig-holsteinischen Kriege auch nur einer bekannt geworden, während die bezügliche Statistik des amerikanischen Rebellionskrieges bei achtzigtausend Narkotisirungen nur sieben Todesfälle aufzuweisen hat. Durchschnittlich kann man nach den bis jetzt besonders in England ziemlich genau angestellten Beobachtungen die Sterblichkeit unter viertausendfünfhundert Chloroformirten auf einen Todten bestimmen, und ist das günstige Zahlenverhältniß aus dem amerikanischen Kriege dem Umstande zuzuschreiben, daß die Chloroformirten wohl alle gesunde Leute gewesen sind.

Man wird nun fragen: was bedeutet die Ueberschrift, die diesen Mittheilungen vorangestellt ist, „Durch Chloroform in’s Irrenhaus“? Wie jegliches Heilmittel seine Lichtseite hat und in dem mäßigen Gebrauche der ärztlichen Verordnung das Heil für den Patienten liegt, ebenso finden sich, besonders bei übermäßigem Gebrauche mancher Heilmittel, Schattenseiten ein, von denen selbst mit den Wirkungen sonst vertraute Berufsmänner keine Ahnung hatten.

Der wunderbare Rausch und die entzückende Traumwelt, die sich dem Betäubten erschließt, haben etwas Verführerisches für einen empfindsamen Zuschauer und manche Fälle sind bekannt, in welchen vornehmlich Studirende der Medicin durch Chloroformeinathmungen in den oben geschilderten Sinnentaumel sich freiwillig gestürzt haben. Welch schlimme Folgen der übermäßige Gebrauch des Chloroforms nach sich ziehen kann, möge folgende aus dem Leben gegriffene tragische Geschichte beweisen.

Es war an einem heißen Julinachmittage des Jahres 1874, als ein fremder Herr mir gemeldet wurde, der behauptete, ein intimer Freund meines Hauses zu sein. Ich begab mich auf den Corridor meiner Wohnung, wo mir ein untersetzter Mann, die Hand freudig ausstreckend, entgegen trat. Mit dem Ausrufe: „Alter Freund, kennst Du mich nicht mehr?“ machte er den Versuch, mich zärtlich zu umarmen. Ich trat einige Schritte zurück, musterte im Flug den Mann vom Kopf bis zur Zehe und konnte mich in keinerlei Weise dieses „alten Bekannten“ entsinnen. Die Kleidung des Fremden, sowie dessen Linnenzeug hatten sicher bessere Zeiten gesehen. Er trug einen grauen abgetragenen Sommerrock, welcher am Ellenbogen seinem Hemde gestattete, einen kecken Blick in die Welt zu thun; eine schmutzig-blaue, breite seidene Halsbinde bedeckte einen Theil des zerknitterten Vorhemdes; die schwarze Weste hing schlotterig um die Brust, und eine angerostete stählerne Uhrkette, die das abgetragene Kleidungsstück herunterzog, vervollständigte die Erscheinung dieses Jammerbildes.

Auf die Bemerkung, daß ich mich seiner zu meinem großen Bedauern nicht erinnern könne, lächelte er verschmitzt, klopfte mir vertraulich auf die Schulter, meinte, ich spaße, und stellte sich mir als meinen alten Heidelberger Studiengenossen K… vor. Wenn auch das Bild jenes blühenden Jünglings aus der alten Heidelberger Zeit mir in das Gedächtniß zurückkehrte, so kostete es mich doch einige Mühe, die Züge des vor mir stehenden Fremden mit jenem in meiner Erinnerung befindlichen Jugendbilde in Einklang zu bringen. Bei scharfer Musterung entdeckte ich die Aehnlichkeit, welche mich veranlaßte, seinen Worten Glauben zu schenken.

Ich konnte es mir nicht versagen, ihn sofort zum Mittagsmahle einzuladen, was er auch mit freudiger Miene annahm. Bei Tische erzählte er mir, er sei Assistent bei dem berühmten Professor B… gewesen, der damals in X…, jetzt in Wien, durch seine epochemachenden Vorträge seine Zuhörer entzückt und in die Lethargie, welche sich in den jüngsten Jahren der einst so berühmt gewesene Wiener medicinischen Schule bemächtigte, neues Leben gebracht hat.

Wir sprachen über die Leistungen dieses trefflichen Mannes, und eben hatten wir das Schlürfen der würzigen Suppe beendigt – wir sind bei dieser Thätigkeit auch rasch im Herzen recht warm geworden – als ich ganz harmlos meinen Freund fragte: „Sag’ einmal, Alter, wo kommst Du denn eigentlich in diesem Aufzuge her?“ Er beugte sich gemüthlich zu mir herüber und bemerkte, als ob das ganz selbstverständlich wäre, in ruhigem, gemessenem Tone: „Ich bin vor drei Wochen aus dem Irrenhause entsprungen.“ Kaum war dieses Wort seinen Lippen entschlüpft, als meine sonst sehr herzhafte Ehehälfte mit einem Rufe des Entsetzens von ihrem Stuhle sich erhob und mit Blitzesschnelle in das entlegenste Zimmer der Wohnung enteilte. Ich selbst war im ersten Momente wie versteinert und fixirte mit scharfem Blicke meinen Gast, aus dessen Pupille nicht Verwunderung und Aufregung, sondern Ruhe und Milde meinem Auge begegneten. Mit spöttischem Lächeln mir auf die Schulter klopfend, bemerkte er: „Freundchen, glaube nicht, daß, wenn ich auch aus dem Irrenhause entsprungen, ich wahnsinnig gewesen sei; ich werde Dir mit Ruhe meine Geschichte erzählen und den Knoten der Verwickelungen, welche mich in das Irrenhaus gebracht haben, vor Dir entwirren. Bei den vielen chirurgischen Operationen, die Professor B. unter meiner Assistenz ausführte, hatte ich fast täglich Gelegenheit, die Wirkungen der Chloroform-Narkose aus nächster Nähe zu beobachten. Die Bereitwilligkeit und die Hast, mit welcher alle Leidenden ohne Ausnahme das süße Gift fortathmen, sobald sie den ersten Zug in ihre Lungen aufgenommen, der wunderbare Taumel, in welchen sie weltvergessend dahinsinken, boten mir Veranlassung auch mich den Einwirkungen der Chloroform-Narkose mit Eifer hinzugeben. Da ich aus allen meinen bezüglichen Beobachtungen geschlossen hatte, daß das höher gestimmte Gehirnleben, insoweit es die Quelle unseres Seelenlebens ist, sich in den mannigfaltigsten Nüancen in Gedanke und Wort, in Phantasie und Empfindung abspiegelt, wollte ich an mir selbst Studien machen, und ich habe mit glänzendem Erfolge das mir gesteckte Ziel erreicht und den höchsten Zweck, den Genuß des Lebens in höheren Regionen gefunden.“ –

Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte ich dieser merkwürdigen Erzählung meines Gastes zu und ermunterte ihn zur Fortsetzung seiner Mittheilungen, obgleich ich in der Art, wie er schon bei Beginn der Erzählung sich ereiferte und seinen Gegenstand in eigenthümlich verzückter Weise verfolgte, einen Grund hätte finden sollen, ihn auf ein anderes Thema zu bringen. Allein ich hoffte, allmählich einen tieferen Einblick in sein Seelenleben zu gewinnen. Er fuhr nun in seiner Schilderung eifrig fort, indem er mir erzählte, daß die Wirkung der eingeathmeten Dämpfe in einer Reihe der wunderbarsten Erscheinungen gipfelte.

„Gewöhnlich wurden mir,“ so erzählte er weiter, „anfangs die Augenlider schwer, und ich fühlte das Bedürfniß, zu schlafen. Wenn ich erwachte, so blieb mir das Gefühl einer unendlich lang durchlebten Zeit zurück, und da ich vergeblich in Gedanken nach der vergangenen Traumwelt, die mir den reichsten Quell des Lebens zu umfassen schien, haschte, so versuchte ich stets von Neuem durch wiederholte Einathmung mich in die früheren Visionen zu versenken. Mein inneres Auge erblickte die glänzendste Farbenpracht, und bei dem äußeren Schlafe des Ohrs schwelgte ich in den entzückendsten Tönen; es störte kein verworrenes Bild mich Glücklichen. Im Gefühle des gänzlichen Entkörpertseins wähnte ich mich in himmlischer Unendlichkeit. Es wurde mir klar, was mir in meiner beruflichen Thätigkeit die Chloroformirten verschiedener Charaktere und Temperamente von ihrem Chloroformrausche in so entzückender Weise erzählt hatten. Mir erschien der Chloroformrausch stets in der Gestalt des Todes. Der Mensch fürchtet den Tod nur des Sterbens wegen als etwas Entsetzliches, als etwas Qualvolles; allein die Chloroformbetäubung gab mir hierüber herrliche Aufschlüsse. Sie ist ein Sterben mit Rückkehr zu diesem Leben. In meinem Chloroformrausche spiegelten sich die verschiedenen Formen des Sterbens ab, vom sanften Einschlummern bis zum Ausdrucke des wildesten Widerstrebens, und dieses wilde Widerstreben hatte mich in’s Irrenhaus gebracht. Die Bilder des Sterbens verfolgten mich oft auch im wachen Zustande, und so trat denn schließlich die Katastrophe ein, daß ich in meiner Ueberreizung eines Tages meiner Umgebung in einer Art Wuthanfall zurief: ‚Ihr Verfluchten, Ihr Henker, Ihr Mörder!‘ In diesen Ausdrücken sah man nicht die Folge des sich von Tag zu Tage wiederholenden Chloroformrausches, sondern Wahnsinn. Man veranlaßte daher, daß mir das Recht der Praxis entzogen wurde, und das Ende davon war meine Verbringung in das Irrenhaus.“

[560] „Hier saß ich,“ fuhr er nach einer Pause fort, „einige Jahre, ohne den Gedanken meiner Befreiung, den ich schon im Momente des Eintritts gefaßt hatte, eine Minute aufgegeben zu haben. Durch den Umstand, daß mir in keinerlei Weise irgend ein sinnloses Wort oder irgend eine unverantwortliche Thätlichkeit nachgewiesen werden konnte, bekam ich innerhalb der Grenzen der Anstalt vollkommene persönliche Freiheit. Bald lernte man meine chirurgischen Fähigkeiten kennen, und ich durfte bei Gelegenheit vorkommender Operationen anfangs assistiren, später solche im Auftrage und Beisein des Directors und der

Assistenten eigenhändig ausführen. Die Gelegenheit, ärztlich thätig zu sein, brachte mich im Laufe der Jahre häufig in die Anstaltsapotheke. Daselbst war es mir möglich, allmählich unbemerkt kleine Quantitäten Morphium zu erhalten, die ich in meinem Zimmer sorgfältig verwahrte und nach und nach zu nicht unbedeutenden Quantitäten anwachsen ließ. Ich gewöhnte mich nun, weil ich leider mein geliebtes Chloroform nicht zu erlangen vermochte, an Morphiumgenuß und brachte es mit der Zeit dahin, daß ich ziemlich ansehnliche Dosen, welche andere Personen gewiß in tiefen Schlaf versetzt hätten, ohne jeglichen Einfluß auf meinen Organismus und ohne alle Betäubung zu mir nehmen konnte. Heute vor drei Wochen war mein Geburtstag. Ich lud den Oberwärter, unter dem Vorgeben, mein Wiegenfest mit ihm zu feiern, zu einer Flasche Bordeaux auf mein Zimmer ein. Es war dies nichts Auffälliges, da mir öfters vom Hause Wein geschickt wurde und man es mir überhaupt weder an guter Verpflegung noch an Geld fehlen ließ. In die Flasche, aus welcher ich meinem Gaste und mir das Glas füllte, hatte ich vorher etwas ziemlich concentrirte Morphiumlösung gethan. Wir stießen an, und in einem Zuge waren die Gläser geleert. Mein Freund Wärter fand den Wein etwas stark und bitter, allein ich versicherte ihm, daß das die Eigenschaft des echten Bordeaux sei und ein zweites Glas ihm gewiß besser schmecken würde. Wir leerten allmählich die Flasche, und taumelnd sank mein Kumpan in einen tiefen, festen Schlaf. Es war Nachmittags vier Uhr; ich bemächtigte mich seiner Schlüssel und entfloh aus meinem dreijährigen Gefängnisse – es sind jetzt drei Wochen – und hier bin ich.“

Die ganze Erzählung meines Universitätsfreundes war in einer solchen Klarheit und Schärfe der Beurtheilung wiedergegeben, daß ich an seinem angeblichen Irrsinn selbst zu zweifeln begann. Ich fragte ihn, was ihn denn eigentlich zu mir und in unsere Gegend führe, und er theilte mir bei dieser Gelegenheit mit, daß er im Jahre 1870 bei Orleans ein kleines Feldlazareth als freiwilliger Arzt mit Anerkennung dirigirt habe und jetzt sich auf dem Wege nach Berlin befinde, um [562] unter Berufung auf diese kriegerische Vergangenheit durch dortigen Einfluß wieder zu einer ärztlichen Stellung in seiner Heimath zu gelangen. Da ihm aber in seinem Heimathsorte die Praxis entzogen sei, so müsse er das große Staatsexamen nochmals machen, was er durch Empfehlung aus Berlin zu erlangen hoffe. Ich muß gestehen, ich habe keine Spur von Irrsinn an dem Unglücklichen bemerkt. Mit dem Nachtzuge reiste er nach Berlin weiter. Ich hielt es für meine Pflicht, an den Director jener Irrenanstalt um bezügliche Aufklärung zu schreiben, und erhielt alsbald die Antwort, daß K… in Folge seines früheren übermäßigen Chloroformgenusses, der seine Gehirnnerven tief afficirt habe, allerdings an einer unheilbaren Geisteszerrüttung leide, derart jedoch, daß oft Wochen, ja Monate lang die Störung verborgen bliebe, dann aber wieder in unbändiger Tollwuth erschreckend genug hervortrete. Später nun brachte ich in Erfahrung, daß K… sein Vorhaben durchgesetzt, das große Staatsexamen nach halbjähriger Prüfung zum zweiten Male mit glänzendem Erfolge bestanden und in einem kleinen Orte ein sehr gesuchter und beliebter Arzt geworden sei.

Heute, ein Jahr nach dem oben geschilderten Besuche, sitzt der Unglückliche wieder fest in einem Irrenhause seines Heimathlandes. Einige Monate, nachdem er sowohl durch das abgelegte Examen, wie durch seine ärztlichen Leistungen, sich in seiner Stellung gesichert fühlte, schrieb er an den Director des Irrenhauses, er würde die nächste Gelegenheit benutzen, die ihm eine Reise nach dort böte, um ihn zum Lohn für die damalige Gefangenhaltung durch einen Revolverschuß aus der Welt zu schaffen. Uebergabe des Briefes an die Behörde, Verhaftung des Armen und Zurückwanderung desselben in sein unerbetenes Asyl waren die Folgen jener wiederholten Geistesverirrung. –

Aus diesem gegebenen Beispiele geht hervor, daß, ebenso wie bei übertriebenem Wein- und Spirituosengenuß, ein an und für sich segenbringendes Mittel zum Unheile werden kann. Uebrigens dürfen wir der Wissenschaft unseren Dank nicht versagen, daß sie uns mit dem Chloroform eine so herrliche Gelegenheit zur Erleichterung menschlicher Leiden gegeben hat. Es ist die Anwendung dieses Medicaments als eine der bedeutendsten Errungenschaften der neueren Medicin zu betrachten und wird der Menschheit, trotz kleiner Schattenseiten, immer mehr zum Heile gereichen.

     Frankfurt am Main.
Dr. med. S. Th. Stein.