Ein „Ritt in’s alte romantische Land“

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Autor: Hans Wolff
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Titel: Ein „Ritt in’s alte romantische Land“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 299–302
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ein „Ritt in’s alte romantische Land“.

Gewiß fuhren sie erschrocken zusammen, die Geister unserer siebenbürgischen Romantik, als gegen Ende des vorigen Jahres die erste Locomotive über die Karpathen in’s Land brauste und mit dem weihin tönenden Pfiff verkündete, daß uns „die Alles beleckende Cultur“ des civilisirteren Europa’s um vierundzwanzig Stunden näher gerückt war. Und wer ihre Sprache verstand, der hörte, wie die keckeren von diesen Geistern, die sich am Abend neugierig bis zum Schienenstrang gewagt, geblendet von den Flammenaugen des schnaubenden Dampfrosses, einander zuraunten, daß jenes grelle Pfeifen das Decret signalisire, welches sie einst auch aus dieser alten Heimath wegweisen werde.

Weniger schienen die zerlumpten Zigeuner und langhemdigen Walachen zu ahnen, was die rasend vorüberjagenden Wunderwagen zu bedeuten hätten. Offenen Mundes standen sie in ängstlicher Entfernung, schlugen eiligst das gegen alle bösen Geister schützende Kreuz und fragten sich, als das Entsetzen endlich dem Erstaunen gewichen: ob das auch noch auf natürliche Weise zugehe.

Gewiß und gottlob! Der Weg ist gebahnt und der Wall durchbrochen, der das gesegnete Karpathenland von den Ländern fortgeschrittener Industrie und Civilisation so lange und so nachhaltig abgesperrt. Der Schlagbaum ist niedergerissen, welcher die Söhne anderer Reiche nicht zu uns kommen ließ, und es steht zu erwarten, daß der große Touristenstrom, der sich alljährlich an Siebenbürgen wie an einer Terra incognita vorbeiwälzte, nunmehr größere Wellen durch die Engpässe des Karpathengürtels herein werfe. Die hastige Eile, mit welcher der Dampfwagen, „der wilde Riese“, das weite Reich der Magyaren durchstürmt, sie hat den Dämon überwunden, der den sandesdürren, unabsehbaren Pußten Ungarns entwuchs und die Fremden von einer Bereisung des österreichischen Ostens mit ungezogenem Hohnlachen zurückschreckte. Nicht, als ob er über Nacht verschwunden sei, der düstere Culturmangel dieser öden Flächen, – aber der trostlose Eindruck, welchen er macht, ist durch die Schnelligkeit der Eisenbahn bedeutend beschränkt worden.

Von den idyllischen und abenteuerlichen Scenen, die sich an diesem und jenem einsamen Ziehbrunnen der Pußta abspielen, an welchem der Csikos seine Pferdeheerden tränkt und der fern herkommende Fuhrmann Station macht, von dem fremdartigen Treiben dort in der Csarda, der kleinen Haideschenke, wo der vagabundirende Betyar nach den wilden Tönen der Zigeunergeige seinen Csardas tanzt und das Glas credenzend im Vollgefühl seiner Räubergröße stürmische Magyaren-Melodien pfeift – davon erzählt uns der mitfahrende Eingeborene in gebrochenem Deutsch, und ohne Aufenthalt reisen wir unserem Ziel entgegen, nach dem schöneren Siebenbürgen.

Welch’ ein ganz anderes Bild bietet sich hier dem offenen Auge! Wie ein Gürtel schlingt sich der mächtige Wall der Karpathen um das fruchtreiche Land, und die schroffen Gebirgsriesen, mit dem ewigen Schnee auf dem Haupte und dem blinkenden Gold im Schooß, schauen wie trotzige Grenzwächter über die Waldeshöhen und Rebenhügel in die stromdurchrauschten Gefilde herab. Im Innern des Landes ist es weniger die großartige Wildheit der Scenerie, als die harmonische Anmuth, der lebendige Reiz im unaufhörlichen Wechsel, was Siebenbürgen Jedermann lieb und interessant macht. Und das bunte Gewirr von Nationen, wie viel Anziehendes hat es von jeher für den Fremden gehabt! Am ersten bedeutenderen Bahnhof schon umsurrt die Ohren des Ausländers ein ungewohntes Sprachengemenge, das ihn sofort an die Schlußkatastrophe beim babylonischen Thurmbau erinnert. Fleißige Sachsen, hoffärtige Magyaren, arme Walachen, mauschelnde Hebräer, handelnde Armenier, arbeitsscheue Zigeuner … so unterrichtet der Cicerone den Neuling, indem er ihn an einzelnen Gruppen vorbeiführt.

[300] Ja, die Zigeuner! Wie viele Reisende haben an den Originalgestalten dieser dunkelfarbigen Nationalität von einhundertfünfzigtausend Seelen ihre ganz besondere Freude gehabt! Heimgekehrt, wissen sie viel von den sich drängenden Naturschönheiten des Landes, von der culturhistorischen Bedeutung der deutschen Stammesbrüder, der „sächsischen Pioniere des Ostens“, zu erzählen, aber mit sichtlichem Interesse kehren sie doch immer wieder zu den sonnverbrannten Epigonen der altindischen Parias, zu den siebenbürgischen Zigeunern zurück. Und gewiß, diese echten Zigeunerbanden an den Ufern der Donau und Theiß, der Mierisch, des Altflusses und der Kockeln sind etwas ganz Anderes als die modernisirten Zigeunertrüppchen, die sich „alle sieben Pfingsten“ einmal vor den Thoren dieses oder jenes deutschen Städtchens zum Gaudium der Schuljugend sehen lassen.

Hier ist das anders. Auf Schritt und Tritt läuft uns in diesen Gegenden das verkommene Gesindel in die Quere. Vor den Thoren der Städte und Dörfer empfängt uns das junge Geschlecht der Zigeuner und begleitet uns mit frechen Bettelmelodien bis zu der ersten Häuserreihe. Niemand entwischt ihnen. Sollten die jugendlichen Wegelagerer die Ankunft eines Bessergekleideten verschlafen oder sonst wie verpassen, so kreischt die Mutter aus der „Haruba“, dem durchräucherten Tuchzelt, herüber: „Dik, dik, Purdé!“ (Seht, seht, Kinder!), und wie ein Bienenschwarm stürzen die „Purdé“ auf das bezeichnete Opfer los. „Gnädiger Herr Kaiser, Herzog, Graf, Bischof, Stuhlrichter und königlicher Diener – bitte um einen Kreuzer, habe weder Vater noch Mutter und seit acht Tagen nichts gegessen.“ Dann beginnen sie die stereotyp gewordene Apostrophe da capo, so lange, bis sie erhört werden. Dem, der sich durch Bitten nicht erweichen läßt, suchen sie durch ihre Kunstfertigkeit im Radschlagen, wobei ihnen ihre nackte Ursprünglichkeit sehr zu Statten kommt, ein Almosen zu entlocken.

Drüben, vor den höchst ursprünglichen Schaluppen ist der gewaltig hämmernde Schmied mit dem hoch hinaus denkenden Flickschuster in Collision gerathen, deren Uebergang in einen beulenschöpferischen Conflict das trotzige „limau, limau, getämele limau!“ (Schlage nur, schlage, ich geb’ Dir’s zurück!) signalisirt. Die ganze löbliche Zigeunergemeinde stürzt herbei und bethätigt sich an der „marobé“, der wilden Schlägerei. Es sind nicht etwa politische Fragen, die den Kampf heraufbeschworen. Denn was ist diesem Lumpengeschlechte Hekuba, was Wahl- und Nationalitätenkampf, was die Aufgabe des Jahrhunderts, der Fortschritt der Menschheit? Das sind Dinge, von denen noch Keiner aus seiner Mitte eine Ahnung gehabt. Die großen Zeitbewegungen machen sie nicht satt und sind daher für sie nicht vorhanden. Aber ein zerbrochener Topf, für den kann man sich wohl eine Stunde lang durchprügeln! Die Zigeunerweiber ermuntern, ähnlich den Frauen der alten Germanen, die streitenden Männer durch ein Schreien und Fluchen, vor dem sich gewiß selbst der Teufel entsetzt, und die Jungens accompagniren die wuchtigen Faustschläge und Steinwürfe der tapferen Väter mit einem höllischen Lamento. Ein blutiger Kopf pflegt selten zu genügen, es müssen deren schon mehrere sein, um in der Branntweinschenke mit einem „sosta wisto!“ (Viel Glück!) oder mit einem spöttischen „deloi debach, cinorëi!“ (Gott mit Dir, Junker!) Waffenstillstand schließen zu können. Der Bauer aber weiß, daß auf die Ziganomachie regnerisches Wetter folgen muß.

Auch auf dem Markte der Stadt fehlt der braune Geselle nicht. Namentlich an heißen Sommertagen, wo er das sonst so belebte Terrain mit der schmierigen Hökerin allein inne hat, fühlt er sich hier wohl. Hat er mit „mandro“ und „habartchy“ (Schwarzbrod und Branntwein) den höchsten Ansprüchen seines Gaumens Genüge gethan, so streckt er sich behaglich zur Siesta auf das heiße Pflaster und pflegt der „göttlichen Faulheit“. Nur der Cigarrenstummel, den ein Vorübergehender wegwirft, kann ihn verlocken, sich zu erheben, um den Schatz zu annectiren. Liegt einer einmal in der Sonne, so bleibt er nicht lange allein. Bald gesellen sich seine Stammesbrüder zu ihm, wie der Schellenmacher Grantschea, der Bürstenbinder Tschoróro, der Cimbalvirtuos Dantschea, der Siebmacher Rupa, der Fabrikant hölzerner Löffel Kula, um das dolce far niente, das Real- und Idealprincip ihres Lebens, in Gemeinschaft zu genießen. Wenn gegen Abend die eckigen Steine doch etwas zu hart werden, so erheben sie sich gähnend und wünschen Kaiser und König zu sein, um auf einer ganzen Fuhre Stroh schlafen zu können.

Die Industriezweige, denen der Zigeuner das Allernöthigste abringt, wird man vergebens im Wörterbuch des Handels suchen. Aus freiem Entschluß erlernt keiner ein bestimmtes Handwerk; die Nothwendigkeit zu essen muß ihn in irgend einen Geschäftsberuf hineinwerfen, aus dem er jedoch so oft herausfällt, wie Hunger und Durst gestillt sind. Und das bedarf keiner besondern Anstrengung. Er, an dessen Tafel das Fett ein so selten gesehener Gast ist, daß er nur deshalb ein großer Herr zu sein wünscht, um dieses mit dem Löffel essen zu können, er hat von der Existenz, ja von der Möglichkeit eines Kochbuches ebensowenig eine Ahnung, wie von der des ,Moniteur de la Coiffure’ oder „Bazar“.

Das Proletariat dieses Bettlervolkes bilden die financiell oft besser gestellten „Wanderzigeuner“, auf welche die seßhaften Nationalitätsgenossen nicht selten mit Stolz und Verachtung herabsehen. Jene sind überall und nirgends zu Hause. Und was Lenau vom „Mischka an der Marosch“ gesungen, das gilt von ihnen allen:

„Der Zigeuner wandert arm und heiter
In die Ferne, Fremde fort und weiter;
Wenn er auch am Wohlgeschmack der Erde
Karg und selten nur sich weidet,
Ist ihm jeder Ort doch bald entleidet,
Und was heimisch, wird ihm zur Beschwerde.“

Nur wenn der Winter mit seiner nordischen Kälte durch’s Land zieht und im Sommer zur Erntezeit schlägt die Zigeunerbande in der Nähe eines Dorfes ihr Lager auf, um schon nach wenigen Wochen die elenden Baracken wieder niederzureißen und in die Ferne zu ziehen. Wo sie als Pferdehändler und Schnitter, als Kesselflicker und Verfertiger grober Holzwaaren, als Bettler und Wahrsager oder auch in kühnen Griffen gute Geschäfte gemacht, da stellen sie sich über’s Jahr noch einmal ein, wenn sie die unverwüstliche Wanderlust nicht über die Grenze des Landes auf einen fruchtbarern Boden geführt hat.

Wie das Volk Israel durch die Wüste, so ziehen diese Zigeunerkarawanen von Dorf zu Dorf und manchmal auch von Land zu Land. Auf ihren abgemagerten Gäulen, neben denen sie bald lärmend, bald schweigend einherschreiten, führen sie alle ihre Habe: die, beräucherten Zelte, die mangelhaften Werkzeuge und in Quersäcken die kleineren Kinder. Der Fremde, der zum ersten Mal einen solchen Zug aus der Ferne betrachtet, glaubt sich plötzlich in das Reich der Phantasmagorien versetzt.

Daß sich selbst der Eingeborene, der in die Mysterien des Zigeunerlebens längst eingeweiht zu sein glaubt, zuweilen in einer solchen Lage befindet, möge das Folgende beweisen.

Es war ein warmer Frühlingstag, der mich auf eine wilde Hochebene der Karpathen hinausgeführt hatte. Unten im Thale regte sich die Natur, Alles sproßte und blühte, hier oben aber herrschte noch der eisige Winter. Trotz der mächtigen Tannenwälder im Osten, der zackigen Bergkegel und jähen Gebirgsschluchten im Westen, die dem ganzen Plateau den malerischsten Ausdruck verliehen, fühlte ich mich hier doch entsetzlich einsam. Die im Ganzen gut gehaltene Poststraße war in der weiten Gegend die einzige Schöpfung menschlicher Thätigkeit. Der lustige Gebirgsbach, welcher dort an den zahllosen Tannen vorbeistürzte, sehnt sich gewiß schon lange nach dem klappernden Rade der Sägemühle, und die erzreichen Höhen warten sicherlich nicht minder lange auf den pochenden Hammer des Bergmanns; aber umsonst. Die ganze physische Welt dort oben harrt des Tages, an welchem der Genius der Cultur auch sie aus ihrem tausendjährigen Schlummer erwecke.

Pfeifend fegte die entfesselte Windsbraut über das verdorrte Haidekraut dahin, und es wollte mich in dieser Einsamkeit dünken, als müßten jeden Augenblick die Hexen, denen Macbeth begegnet, an mir vorbeitanzen. Da – welch’ seltsames Wunder! Ich war eben um die Spitze eines Bergzuges gebogen und gewahrte nun plötzlich Gestalten, die mich im ersten Augenblick eher an Gespenster als an Menschen erinnerten.

Es waren Zigeuner, die eine Leiche zu Grabe führten. Ob die Sonne jemals einen originelleren Todtenzug gesehen, – ich weiß es nicht, möchte es aber bezweifeln. Auf einem dürren Klepper, welchen ein lustig dreinschauender Junge am Halfter führte, ritt ein bejahrter Zigeuner, mit beiden Händen bemüht, einen grobgezimmerten Sarg auf dem Gaule im Gleichgewicht zu halten. Dem sonderbaren Ritter folgte eine kleine Zigeunertruppe, aus

[301]

Zigeunerbegräbniß in Siebenbürgen.
Nach der Natur aufgenommen von N. Chailloux.

[302] Männern, Weibern und Kindern bestehend. Die beigegebene Illustration dieser seltsamen Scene überhebt mich einer ins Einzelne gehenden Schilderung des Zuges, die ohnehin den burlesk-romantischen Zauber, welcher über dem wirklichen Bilde schwebte, kaum wiederzugeben im Stande wäre.

Der in kleiner Entfernung nachtrippelnde Junge, ein drolliger Kauz, hatte mich zuerst bemerkt. Ruhig wartete er mich ab und bat um meine brennende Cigarre, um seine Pfeife, das rohe Product seiner eigenen Hand, damit anzünden zu können. Kaum hatte er sie erhalten, als er ihr in absichtlicher Ungeschicklichkeit so gewaltsam zu Leibe ging, daß er mir dieselbe nur zerfetzt und um die Hälfte verkürzt zurückreichte, mit der Erklärung: „Der Junker wird doch nicht in seinen Mund stecken, was ein Zigeuner in den Händen gehabt? Er könnte daher die Cigarre mir schenken.“ – Die Aelteren schien mein unvermuthetes Erscheinen nicht sehr angenehm zu berühren, sie ließen es aber dennoch geschehen, daß mich die jüngeren Leichengänger anbettelten. Meine ihnen zur freien Verfügung gestellte Liqueurflasche veranlaßte sie, ehrerbietig den Hut von dem struppigen Haupte zu ziehen und mich mit naiver Vertraulichkeit zu behandeln. Ist doch der „Rossoli“ (Rosoglio) dem Zigeuner ein so seltenes und hochgeschätztes Getränke, daß er den Kaiser nur darum beneidet, weil dieser in der glücklichen Lage ist, jeden Morgen „Rossoli“ frühstücken zu können.

Langsam zogen die Grableute des Weges. Eine tiefe Stille herrschte ringsum, die nur das Stöhnen der Zigeunermutter, das grausig verzerrte Echo ihres Heulens und der Treiberruf des neben dem müden Gaule einherschreitenden Vaters zuweilen unterbrachen. Der ganze Todtenact dieser halbwilden Menschen in der einsamen Wildniß machte einen Eindruck, der sich jeglicher Beschreibung entzieht. Zu dieser Handlung paßte nur diese und keine andere Scenerie.

An dem von der Heerstraße weit abgelegenen Grabe, welches zwei rüstige Zigeuner und eine Zigeunerin eben fertig gebracht, öffneten die Leidtragenden den Sarg und riefen der armen „Tschoré“ einige Worte zu, mit denen sie von ihr zum letztenmal Abschied nahmen. Am heutigen Morgen erst hatte der Tod das schöne Mädchen unterwegs ereilt und schon lag es am Grabe. Gewiß, das Kind muß, bevor der entstellende Tod über sein Antlitz gefahren, unter den Zigeunern eine seltene Schönheit gewesen sein, so daß man in ihm trotz der buntfarbigen Lumpenhülle und des struppigen Rabenhaares das brünette Töchterlein besserer Leute hätte vermuthen können, wenn nicht der Jammer der Mutter seine Zigeunerschaft hinlänglich bewiesen hätte. Ein goldener Ring mit einem glänzendem Brillanten, den die Todte am Finger trug, würde in einem romantischen Fremden die abenteuerlichsten Vermuthungen geweckt haben, ich aber wußte aus häufiger Erfahrung, daß viele dieser Pariafamilien derartige Schätze mit sich führen, die sie entweder von ihren Vätern ererbt, oder selbst durch eine schnelle Handbewegung sich anzueignen verstanden. Bevor sie den Sarg wieder schlossen, zog die Mutter den funkelnden Ring vom starren Finger der Tochter und hüllte ihn sorgsam in einige Fetzen, um ihn alsdann in den breiten Gürtel ihres Gemahles zu versenken.

Als die gefrorenen Schollen auf das Todtengehäuse polterten, heulten die Weiber und Kinder noch einmal laut auf. Die Männer stampften die in die Grube geworfene Erde fest und legten Rasenstücke oben auf, damit kein Sterblicher ahne: hier liege die Leiche eines schönen Zigeunerkindes. Der Ton, mit welchem der weißlockige Greis schließlich noch einige Worte sprach, ließ auf ein kurzes Gebet schließen, von dem ich wenig mehr als die folgenden Worte verstand: „Wai schukar Tschoré, delo-dela-tschitjes“ – O schöne Tschoré, Gott sei mit dir und endlich – noch endlich „atsch, sástehimáha, tschóro tschäi!“ – bleibe gesund, armes Mädchen! – Zu welchem Gott er gebetet und was er sonst noch gebetet, wer möchte das errathen! Sie, deren Namen in keiner Taufmatrikel zu finden, die über religiöse Fragen nachzudenken noch nie eine Veranlassung gefunden, sie konnten mir nicht sagen, welches ihre eigentliche Vorstellung von der Zukunft der beweinten Tschoré sei; sie wußten nur so viel, daß sie wohl nie wieder zu diesem Grabe zurückkehren würden.

Eine halbe Stunde später – und die Zigeuner waren verschwunden. Sie waren fortgezogen, in ein ander Land, und hatten die Schönste ihrer Bande in dem wilden Hochland gelassen. Todtenstille Einsamkeit herrschte um das Grab, in welchem Tschoré, das hübsche Zigeunerkind, von seiner fünfzehnjährigen Wanderschaft ausruht, und nur zuweilen fuhr der Wind mit lustigem Pfeifen darüber hinweg, als wollte er mit dem letzten Klageruf der jammernden Mutter auch das Andenken an die Todte verwehen.

Hans Wolff.