Ein Agitator
Es muß doch eine eigene Bewandtniß haben mit einer Stadt, welche heute noch so klein wie unzählige obscure Städte zweiten und dritten Ranges in großen Staaten, noch viel kleiner vor wenigen Jahren, der Hauptort des kleinsten Staates in einem Staatenbunde zweiten Ranges, außerdem abseits von der welthistorischen Heerstraße und in einer Sackgasse, die das höchste Gebirge Europas abschließt, auf einem zum größten Theile unergiebigen Pudding-Boden und an einem noch unfruchtbaren, d. i. unschiffbaren Wildwasser gelegen – es muß mit einer solchen Stadt eine eigene Bewandtniß haben, die, trotz aller dieser ungünstigen Bedingungen, dennoch die Aufmerksamkeit des ganzen Welttheiles zu den verschiedensten Zeiten zu fesseln und in den entferntesten Gegenden Parteileidenschaften für und wider zu wecken weiß. Diese Stadt muß noch eine jener energischen, unabhängigen, gewaltigen Stadtseelen haben, die in früheren Jahrhunderten die Geschicke der Welt entschieden und die heute beinahe überall in der Allgemeinheit großer Staaten verschwunden sind. In der That hat das kleine Genf eine Geschichte, die sich, was Geist, Heldenmuth, Bürgersinn, politische Schöpferkraft betrifft, in vieler Beziehung mit den Städten der antiken Welt und, was Freiheitssinn, Leidenschaft, Ausdauer anlangt, mit den berühmtesten Städtegeschichten Italiens messen kann.
Es ist hier weder Ort noch Raum, zurückzugreifen bis auf den allobrogischen Ursprung der Stadt, auch nicht auf die endlosen Kämpfe, die sie durch Jahrhunderte mit ihren eigenen Bischöfen und den mächtigen Herzögen von Savoyen zu bestehen hatte; nicht der Ort, das Joch von Blut und Eisen zu schildern, das ihr, nach kaum errungener Selbstständigkeit, die Reformation und jener unerbittliche finstere Eiferer aus Frankreich auflegte, welcher aus dem heitern, freiheitsdurstigen Genf eine düstere Stadt von Leichenbittern, Pfaffen und Pfaffenknechten, Censoren und Spionen schuf, – wir werfen nur einen kurzen Blick auf die letzten siebenzig Jahre.
Zur Zeit, da Frankreich die Weltgeschichte absorbirt, wird bekanntlich Genf französisch und geschichtslos. 1814 erfreut es sich der Befreiung vom napoleonischen Joche wie alle andern Staaten, und sein sehnlichster Wunsch ist es, sich, künftiger Sicherheit wegen, als Canton an die Eidgenossenschaft anschließen zu dürfen. Es bittet und fleht, wie ein unglücklich liebender, aber die Eidgenossenschaft benimmt sich sehr spröde. Die katholischen Urcantone wollen vom calvinistischen Rom nichts wissen; Bern, Freiburg und andere patrizische Cantone stemmen sich gegen die Verbindung mit einer Stadt, die schon vor der französischen Revolution demokratische Wünsche hegte; Zürich und andere deutsche Cantone fürchten für ihren Zopf, überhaupt sträuben sich die deutschen Schweizer gegen eine Vermehrung des „wälschen“ Elementes in der Eidgenossenschaft. Endlich aber setzt es Genf doch durch, besonders da es mit einer Verfassung auftritt, vor der Patrizier, [86] Zünfte und Zopf nicht zu erschrecken brauchen. Diese Umstände, dieses Verhältniß zur Schweiz vom Moment des Eintrittes in den Bund an sind nicht zu vergessen; sie haben nie aufgehört, eine Rolle zu spielen, sie sind noch heute von Wichtigkeit.
Die Verfassung, mit der man in den Bund trat, war allerdings der Art, daß sie die Machthaber in den alten Cantonen, die Geschlechter, Zünfte etc. nicht beunruhigen mochte: man griff auch in Genf hinter die Revolution zurück und die Geschlechter regierten unter etwas anderer Form und unter verschiedenen Vorwänden nach wie vor. Die Genfer ließen sich das gefallen, froh genug, die Fremdherrschaft los und mit der Schweiz verbunden zu sein. War es nicht überall so?
Aber so konnte es nicht bleiben. Die Bewegung von 1830 erschütterte die ganze Schweiz und überall die Herrschaft der Patrizier, sie konnte unmöglich spurlos an Genf vorübergehen, das mehr als hundert Jahre früher viel weiter gehende demokratische Ideen predigte, als selbst jene waren, die man in den dreißiger Jahren in den radicalsten Cantonen verwirklichen wollte. Eine tiefgehende Gährung ergriff die von aller Regierung ausgeschlossenen Volksclassen – sie bedurften nur eines Mundes, eines Hauptes, um gegen das verrottete, alle Aemter wie allen Besitz einnehmende Regiment der oberen Classen aufzutreten. Der Mann trat auf.
James Fazy, geboren im Jahre 1794, stammt aus einer altadeligen französischen Familie, welche durch die Zurücknahme des Edictes von Nantes unter Ludwig dem Vierzehnten der Religion wegen zur Auswanderung gezwungen wurde, also merkwürdigerweise aus einer jener Familien, welche die Nutznießung der aristokratischen Verfassung zu Genf hatten, die er abzuschaffen bestimmt war, um die alte Volkssouveränetät an ihre Stelle zu setzen. Die cofsiscirten Güter dieser Familie machten zum Theil den Reichthum des Hauses Polignac aus. Doch war noch Fazy’s Vater ein reicher Mann und hinsichtlich des Unternehmungsgeistes seinem Zeilalter weit voraus. Er scheint den ganzen spätern Aufschwung der Industrie geahnt und auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie gestanden zu haben. Seine Söhne ließ er in Deutschland, in dem Herrnhuter Stifte zu Neuwied, erziehen. Unter der Restauration kam James Fazy als sehr unterrichteter junger Mann nach Paris und sofort in Verbindung mit Armand Carrel, mit Cavaignac, Lafayette, überhaupt mit den Führern der Opposition, welche die Julirevolution vorbereiteten. General Lafayette schenkte ihm sein besonderes Vertrauen, beauftragte ihn mit mehreren wichtigen Sendungen und zog ihn in die Geheimnisse des französischen Carbonarismus.
Fazy trat damals in persönliche Verbindung mit allen Agitatoren, die zu jener Zeit in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Polen Bewegungen leiteten oder vorbereiteten. Man kann behaupten, daß von den Männern, welche in den nächsten drei Decennien wo immer in Europa für die liberalen Ideen eintraten, ihm beinahe keiner persönlich unbekannt war. Seine Wirksamkeit vor der Julirevolution war eine doppelte: eine öffentliche als Journalist, eine geheime als Verschwörer. Auch stand er in den Julitagen mit in den vordersten Reihen der Männer, welche in der Bewegungspartei bekannt waren, hatte es da unmittelbar mit Lafayette zu thun und saß nach Einnahme des Hotel de Ville mit an dem Tische, um welchen sich die erste provisorische Regierung gruppirte. Als Lafayette selbst Louis Philipp als die „beste der Republiken“ proclamirte, wandte sich Fazy sofort von ihm ab und der Partei zu, welche die Arbeit nicht für vollbracht hielt, so lange nicht die wirkliche Republik proclamirt war. Mit der Action hatte es bald ein Ende, da Frankreich sich mit dem Bürgerkönigthum begnügte, und Fazy wirkte weiter, wie vor der Julirevolution, freilich jetzt an der Seite einer geschwächten Partei. Er gründete und leitete mehrere Zeitungen nacheinander, welche sich dadurch vor den anderen auszeichneten, daß sie den Nachdruck auf die nationalökonomischen Fragen legten.
Um diese Zeit kam er mit dem Prinzen Louis Napoleon in Berührung, welcher Prinz damals Republikaner, ja Socialist war. Mit dem Gelde dieses Prinzen gab er eine revolutionäre Zeitung heraus. Seine eigenen Hülfsmitlel waren beinabe erschöpft, die Agitation, die Gründung von Zeitungen, die nicht auf eine große Partei rechnen konnten, die Geldstrafen und dabei das Pariser Leben hatten den größten Theil seines Vermögens verschlungen. Als auch die letzte Zeitung unterdrückt wurde und in Genf die Unzufriedenheit mit dem alten Zopfregiment laut zu werden anfing, eilte er mit dem Rest seines Vermögens, mit seiner Thatenlust, mit seinen revolutionären Erfahrungen in seine Heimath zurück, entschlossen, Alles daran zu setzen, um Genf die volle Freiheit zu erringen. Ohne Zeit zu verlieren, trat er als Agitator auf und erwarb sich von Seiten der Aristokraten um so größeren Haß, als man ihn als einen Apostaten der Kaste betrachtete. Man hielt ihn, wie das immer der Fall ist, nur für einen Ehrgeizigen und kam ihm mit allen möglichen Anerbietungen entgegen; er wies Alles von sich, kehrte der obern Stadt, dem Viertel der Patrizier, den Rücken, miethete sich im Arbeiterviertel Faubourg St. Gervais eine kleine Stube, lebte wie ein Spartaner und machte sich in den untern Volksclassen bekannt und beliebt. Als Abkömmling einer Patrizierfamilie, als Mann von Pariser Manieren, hatte er Anfangs viel mit dem Mißtrauen des Volkes zu kämpfen, bis die Verfolgungen, die ihm von Seiten der Regierung zu Theil wurden, die gehörigen Bürgschaften boten.
Zur Zeit des berühmten Zuges Mazzini’s und Romacino’s gegen Savoyen hatte er schon so viel Einfluß, daß er, mit dem Volke hinter sich, die Genfer Regierung zwang, durch die Finger zu sehen, die Vorbereitungen zu dem Zuge geschehen und die von der mißglückten Unternehmung Zurückgekehrten entschlüpfen, sogar unbehelligt in Genf leben zu lassen. Fazy selbst war mit bei dem Zuge. Er entwickelte eine außerordentliche, eine wahrhaft erstaunliche Thätigkeit: Brochüre auf Brochüre folgte, Zeitung auf Zeitung, Flugblatt auf Flugblatt. Druckereien wurden geschlossen, Zeitungen unterdrückt, Processe eingeleitet, Geldstrafen verhängt – kurz all die Mittelchen reactionärer Regierungen erschöpft – es nützte nichts: Fazy arbeitete weiter, schrieb, sprach, stiftete Gesellschaften und Verbindungen, sammelte Gelder, klärte auf. Bei all dem schrieb er Romane, eine Geschichte Genfs, um die Genfer mit dem Beispiel ihrer Vorfahren zu entzünden und um ihnen zu zeigen, wie sie sich schon einmal mit dem Conseil général, d. i. demokratisch, regiert haben, und Biographien bedeutender Genfer, die für ihr Vaterland geblutet haben, wie z. B. das Leben Pierre Fatio’s, und endlich Abhandlungen über gerechte und ungerechte Besteuerungen, über Stimmrecht etc. etc.
In Folge dieser Agitation sah sich die Regierung schon zu Anfang der vierziger Jahre gezwungen, gewisse Zugeständnisse zu machen und kleine Veränderungen in der Verfassung anzubringen. Aber diese Zugeständnisse und Veränderungen modificirten im Grunde nichts am alten Princip, hielten die alten Privilegien aufrecht und genügten nur einer kleinen Anzahl bevorzugter Bürger. Die Gährung ging sogar tiefer, als das calvinistische und conservative Genf im Geheimen und endlich öffentlich mit den Jesuiten gemeinschaftliche Sache machte und auf die Seite jener Cantone trat, die das Unwesen unterstützten, dem später der Sonderbundskrieg ein Ende machte. Die Calvinisten und Conservativen hatten sich selbst entlarvt und gerichtet; die Zeit war reif. Fazy proclamirte die Revolution; das gründlich entrüstete und vorbereitete Volk stand in ungeheuerer Majorität auf seiner Seite – und die altväterliche Regierung fiel nach geringem Schütteln wie eine faule Frucht vom Baume. Diese Revolution war darum von so ungeheuerer Tragweite, weil nun Genf im Bundesrathe den Ausschlag gab und der Sonderbundskrieg beschlossen werden konnte. Die Revolution kam der Schweiz, kam Europa eben so zu Statten, wie dem Canton Genf selbst. Dieser berief eine constituirende Versammlung, welche, von Fazy geleitet, jene Verfassung decretirte, die, was die Verwirklichung des Freiheitsprincips betrifft, sämmtliche Verfassungen Europas weit hinter sich läßt und welche aus Genf das gemacht hat, was es heute ist: eine Stadt, in welcher die vorhandenen geistigen und materiellen Mittel bis zu einem Grade ausgenutzt und befruchtet werden, wie das vielleicht an keinem andern Punkte der Welt der Fall ist: – welche Verfassung aber auch, als ein verführerisches Beispiel, den Neid oder den Haß jener Cantone erregte, in denen noch von Vielen oder Einzelnen nutzbringende Ueberreste der guten allen Zeit ausgebeutet werden. Alle diese Cantone meinen, wie der Oberst Ziegler, daß, obwohl die Genfer Verfassung nur consequent und bewunderungswürdig in ihren Wirkungen, es doch nicht genug sei, daß Genf stehen bleibe und die anderen Cantone erwarte, sondern daß es zu ihnen, wenigstnus den halben Weg, zurückkehren müsse.
Was die allgemeine Theilnahme sämmtlicher Bürger am Staatswesen, die unumschränkte und unbewachte Wahl der executiven [87] und legislativen Gewalten, die vollkommene Handels- und Gewerbefreiheit, die die Erwerbung des Bürgerrechtes und die Niederlassung erleichternden Gesetze, die Religionsfreiheit, kurz all die neuen Institutionen, welche auf die Revolution folgten, aus Genf gemacht haben, ist vielfach schon anderswo ausgeführt worden, und es ist unmöglich, auf diesem beschränkten Raume das auch nur andeutend auszuführen. Es ist genug, wenn wir sagen, daß Genf von der Revolution an sich so rasch entwickelte wie eine amerikanische Stadt, und daß, wer diese Stadt vor der Revolution gesehen und sie jetzt wieder sieht, auch ohne ihre innere Umgestaltung zu kennen, einsehen müsse, daß er hier eine ganz neue Welt vor sich habe, die mit der alten nichts zu thun hat. Hat es doch der fanatische Conservative Cherbuliez, ein persönlicher Feind Fazy’s, in der Revue des deux Mondes eingestehen müssen, daß das heutige Genf eine große, unbegreifliche Schöpfung sei, und ein halbconservativer Historiker, Herr Gallieur sagt: Wie man immer über Herrn Fazy denke, so müsse man doch zugestehen, daß seit Calvin Niemand auf die Geschicke Genfs so großen Einfluß ausgeübt, wie dieser Mann.
Anstatt aller Ausführungen wollen wir nur einer Maßregel erwähnen, als einer besonders bezeichnenden und wirksamen: die Niederreißung der Befestigungen. Die Stadt Genf hatte Gräben, Wälle und Mauern, wurde von den Machthabern wie eine Grenzfestung behandelt und man schloß die Thore bald nach Einbruch der Dämmerung. An eine Zunahme der Bevölkerung konnte kaum gedacht werden, da die Häuser auf dem kleinen, durch die Festungswerke beschränkten Raume schon so eng aneinander und so hoch in die Luft als möglich gebaut waren. Es sah da ärger aus als in irgend einer mittelalterlichen Stadt. Die Häuser aber gehörten zum größten Theile der alten Partei, die schon dadurch jenen Zuwachs an Macht erhielt, den ausschließlicher Besitz unbeweglicher Güter giebt. Sie war factisch die Besitzerin, also die Herrin der Stadt, und war eben so wenig gewillt, diesen Vortheil wie irgend einen andern mit einer größeren Anzahl zu theilen. Daß die Bevölkerung in dieser Stadt verdumpfte, war ihr gleichgültig; daß sie nicht zunahm, war ihr angenehm, denn wer konnte ihr bürgen, daß einer größeren Bevölkerung gegenüber eine regierende Coterie sich halten würde. Die einengenden Befestigungswerke waren ihr mithin so lieb, wie ihr Augapfel, wie das Symbol ihrer Macht. Schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trat ein Genfer, Namens Micheli-Ducrest auf, der, als ausgezeichneter Ingenieur und Officier aus fremdem Kriegsdienst heimgekehrt, eine Abhandlung veröffentlichte und dem Rathe überreichte, in welcher er darthat, daß die Befestigungen von Genf nicht nur nutzlos, ja sogar gemeingefährlich für die ganze Schweiz seien, da sie einer Belagerung nicht gehörig widerstehen, wohl aber einem einmal eingebrochenen Feinde als Halt und Stütze, jedenfalls zur Deckung eines Rückzuges dienen könnten. Micheli-Ducrest wurde dafür ein Hochverrathsproceß gemacht und er mußte die Flucht ergreifen. Zu Anfang der dreißiger Jahre erstattete eine militärische Commission der Eidgenossenschaft an diese einen Bericht, welcher beinahe genau dieselbe Ansicht ausdrückte, welche jener vor mehr als neunzig Jahren ausgesprochen; aber der Bericht hatte keine Folgen, da der Genfer Rath diese zu hintertreiben verstand.
Trotz solcher Antecedentien dieser ein Jahrhundert alten und längst beantworteten Frage, erhob sich von Seiten der Aristokraten und Conservativen ein gewaltiges Geschrei über Hochverrath, Landesverrath, Auslieferung an Frankreich, als Fazy mit dem Antrag auftrat, die nutzlosen Festungswerke niederzureißen, der Stadt Luft und Licht zu geben, unzählige neue Baupläne und damit der Republik neue Geldquellen zu schaffen. Man wandte sich selbst an den Bundesrath, um mit Hülfe seiner Autorität die Kalamität von der Stadt Genf abzuwenden, und dieser, immer bereit den Ueberresten des alten Regiments Recht zu geben, vergaß auch jenen obenerwähnten militärischen Bericht und schickte sich an, ein Veto ergehen zu lassen, kam aber, bei der Rührigkeit Fazy’s, zu spät. Das ganze Volk stand auf Seiten Fazy’s; mit Musik zog man hinaus; es war eine patriotische Handlung, einige Steine von den alten Festungswerken zu reißen. Sie verschwanden; die Gräben wurden ausgefüllt; Genf hatte mit einem Male einen ungeheueren Grundbesitz, und – um es kurz zu sagen – die Bauplätze sind im heutigen Genf so theuer wie nur in Paris, trotzdem viele Hunderte von Bauplätzen geschaffen wurden. Die Conservativen selbst, die jammerten, daß ihre Besitze entwerthet würden, sehen ihre alten, verrotteten Häuser heute um das Drei- und Vierfache im Werthe gestiegen. Wie die Maßregel der Niederreißung unzähligen Armen und eben so unzähligen Fremden und neuen Bürgern gesunde Wohnungen verschaffte, eben so bereicherte sie die schon Reichen. Das Geschrei über Landesverrath hörte aber trotz alldem ebensowenig auf, wie der Haß gegen Fazy. Hatte er auch den Reichthum der Reichen vergrößert, so hat er auch andere Besitzende neben ihnen geschaffen, dem alten Genf ein Ende gemacht und, vor Allem, Geld aus dem Boden gestampft und so die Conservativen umgangen, die gehofft hatten, die neue Regierung auszuhungern, mit Zurückziehung ihrer Capitalien Unzufriedenheit zu erzeugen und das neue System zu stürzen.
Im Jahre 1854, also erst acht Jahre nach der Revolution, wurde Fazy aus der Regierung herausvotirt, aber nur um bald darauf wieder gewählt zu werden und sich auf’s Neue bis zum Jahre 1861 zu halten. Bis dahin hielt man ihn im Auslande, selbst in Genf, immer für den Präsidenten des Staatsrathes, selbst wenn er es nicht war, in dem richtigen Gefühle, daß er immer die Seele desselben gewesen. Mit dem genannten Jahre beginnt sein endlicher Verfall. Fazy hat in der That ein neues, reiches, rühriges und durch und durch freies Genf geschaffen; er hat aus dem unbedeutendsten Canton einen Factor gemacht, der in der Eidgenossenschaft eine Wichtigkeit erhielt, wie einer der größten Cantone; er hat gezeigt, wie man in der Freiheitslogik bis zu den sogenannten letzten Extremen gehen könne, ja gehen müsse, um auch die richtigen Früchte zu ernten. Es wurden Institutionen in’s Leben gesetzt zum Vortheil Aller und es haben sich Einrichtungen bewährt, die man vor ihm als utopistisch, als schöne aber unpraktische Schwärmereien betrachtete; es wurden Veränderungen vorgenommen, zu denen man, bevor sie in’s Leben traten, die Mittel eines großen Staates nicht für zureichend gehalten hätte. Dem Unterricht wurde, im Verhältniß zur Größe des Staates, das größte Budget der Welt zugewendet; verhältnißmäßig die meisten Banken, Disconto-Gesellschaften gegründet und die besten und zahlreichsten Communicationswege eröffnet; die Stadt verwandelte sich in eine Stadt der Paläste und wuchs in der Bevölkerung; diese wurde reicher als je, obwohl die eingeborene Uhrenindustrie durch die Concurrenz von Chaux-de-Fonds, Locle, Besançon, Paris und London in der Abnahme begriffen ist. Dies Alles hat Fazy und sein System gethan; dies Alles ist es, was ihm ein Monument ein Jahr nach seinem Tode sicherte. Wir wollen jetzt von dem Fazy sprechen, der sich um das Monument gebracht hat, denn wir sind nicht, wie es bisher geschienen haben mag, die Lobredner des merkwürdigen Mannes, obwohl wir zugeben müssen, daß manches Lobenswerthe mit zu seinem Verfall und Falle beigetragen.
Hier muß nun vor Allem auf die unbestreitbare und entscheidende Thatsache der Nachdruck gelegt werden, daß James Fazy der begabteste, der geistreichste und erfahrenste Mensch aller Parteien ist, daß er immer die gegebenen Mittel zu benutzen wußte, wenn solche fehlten, sie zu schaffen verstand und sich nicht leicht durch irgend welche Combination von Umständen in Verlegenheit bringen ließ. Die radicale Partei Genfs, wie viele ehrenwerthe Männer sie auch zählen mag, ist doch so arm an politischen Köpfen, wie die conservative. Fazy hatte eigentlich niemals Parteigenossen, sondern zum größten Teile ein Gefolge, das auf sein Wort hörte, wie auf das Wort des Meisters. Naturgemäß war er die Seele der radicalen Partei, die er organisirte, und da diese durch viele Jahre bestehen mußte, ehe sie zu Kampf und Sieg kam, ließ sie sich, als die schwache Partei, gern und willig von einem Einzigen leiten. Dieses Verhältniß änderte sich nicht, als die Partei siegte und die demokratischste Verfassung durchsetzte, denn Sieg und Verfassung schufen weder auf dieser noch auf der andern Seite politische Köpfe. Durch eine lange Reihe von Jahren war also Fazy Alles in Allem: er war die Partei und er imponirte seinen Feinden nicht weniger als seinen Anhängern, kein Wunder, daß er im Schooße der Partei das wurde, wozu sie und die Umstände ihn machten, ein Despot, d. i. ein Mann, der immer und immer nur seine Meinung durchsetzte und neben dem kein Anderer aufkam. Gab ihm das eine verderbliche Sicherheit, so weckte es zugleich eine stille Unzufriedenheit bei denen, die im demokratischen Staate keine vorwiegende Persönlichkeit eine Alleinherrschaft üben sehen wollten und doch weder Muth noch Mittel hatten, diese zu beschränken.
[102] Gleich nach der Revolution von 1846 fielen mehrere seiner Anhänger von Fazy ab und liefen in das von ihnen besiegte Lager der Aristokraten und Conservativen hinüber. Man nannte diese, nach dem Namen eines Verräthers des sechszehnten Jahrhunderts, die Blondels. Ihre Motive waren theils persönliche, theils solche, die in ihrem Altgenferthum beruhten, das sie durch die neue Verfassung, welche neuen Bürgern und allen Religionen Thür nur Thor öffnete, bedroht sahen. Doch war die radicale Partei so stark, daß sie diesem Abfall mit Ruhe und Hohn zusehen und sich ohne Unterbrechung volle acht Jahre halten konnte, obwohl nunmehr auf der andern Seite Aristokraten, Conservative und Blondels vereinigt waren, welche ihre eigenen Meinungsunterschiede ruhen ließen und sich wie ein Mann gegen Fazy verständigten. Im Laufe der Jahre aber bildete die Fazy’sche Verfassung selbst seine eigenen Anhänger mehr und mehr zur Unabhängigkeit, und eine große Anzahl derselben fing an, sich unbehaglich zu fühlen, je mehr Fazy’s unbeschränkter Einfluß chronisch zu werden begann. Dieser seinerseits hielt sich nach seinem temporären Sturz für noch berechtigter, als früher, da er sich mit ganz Genf überzeugte, daß man ohne ihn nicht auskommen konnte und nach kurzer Zeit auf ihn zurückkommen mußte.
Fazy stieß schon damals viele seiner treuesten Anhänger vor den Kopf; im Staatsrath wie im großen Rath führte er das Scepter, und überall gab er den Ausschlag. Dazu kam, daß er bei all dem, was wir seinen Despotismus genannt haben, im Principe sich treu blieb und die Verfassung bis zur letzten Consequenz durchführte. Die Katholiken spielten ganz dieselbe Rolle, wie die Calvinisten; die Vortheile, die sich diese, vorzugsweise betreffs großer Geldfonds, den nach dem Wiener Congreß[1] in den Canton eintretenden katholischen Gemeinden gegenüber gewahrt hatten, sollten auch den letztern zu gute kommen; dem Fremden kam man, behufs des Aufblühens der Stadt, mit Erleichterung des Niederlassungs- und Erwerbung des Bürgerrechtes entgegen. Das behagte vielen Altgenfern nicht, in denen noch der ausschließliche Municipalgeist und der Calvinist stak, trotz allem Radicalismus. Die vielen neuen und flottanten Elemente der Bevölkerung brachten ein gewisses unruhiges Leben hervor, das gegen das alte, abgemessene, steife fremdartig abstach und den Altpatrioten mit Wehmuth erfüllte, da er sein historisches Genf zu Grunde gehen sah. Das Alles war die Schuld Fazy’s, und es lösten sich nach und nach von seiner Partei aus den verschiedensten persönlichen und unpersönlichen, Gemüths- und politischen Motiven verschiedene Elemente los, die endlich mit Anfang der sechsziger Jahre eine Partei bildeten, welche damit, daß sie sich „die Unabhängigen“ nannte, ihre bisherige Abhängigkeit von Fazy eingestand. Diese Unabhängigen nannten sich auch Radicale und protestirten laut und feierlich gegen die Anschuldigung, als ob sie sich von den radicalen Grundsätzen trennen wollten – und der größte Theil dieser Partei meinte es mit solcher Protestation auch ganz ehrlich. Sie hatte für ihren Abfall den besten Moment gewählt und der Sturz Fazy’s war unvermeidlich, denn in diesem Momente hatte sich so Vieles gegen ihn gesammelt, was zu einer furchtbaren Anklage formulirt werden konnte – zu einer Anklage, die zwar in einem großen Staate zum Theil lächerlich gewesen wäre, in einem kleinen aber zu einem Verdammungsurtheile führen mußte.
Derselbe Fazy, der in Paris und Genf sein Vermögen an Zeitungen und Broschüren ausgegeben, um für seine Principien Propaganda zu machen, der dann Jahre lang in einer kleinen, dunklen Stube im Arbeiterviertel wie ein armer Arbeiter lebte und nichts genoß, als die Freuden der Agitation für seine Ideen – derselbe Fazy erinnerte sich in seinen alten Tagen des üppigen Freudenlebens seiner Jugend. Alte Bedürfnisse erwachten wieder, der Genußmensch machte sich wieder geltend, ebenso der freigebige Mensch mit der stets offenen Hand, der Jedem zu helfen bereit ist und wie ein unerfahrenes Kind von jedem Gauner, der nur gut zu klagen versteht, sich betrügen läßt. Die Republik aber zahlt schlecht und ist nicht da, um Sybariten und leichtgläubigen Menschen die nothwendigen Fonds zu liefern. Der Staat hatte Fazy ein Grundstück geschenkt, Fazy sich ein prächtiges Haus darauf erbaut, aber mit fremdem Gelde. Er hatte nichts, um die Zinsen an die Gläubiger zu bezahlen, und doch brauchte er mehr, als diese Zinsen. In den prächtigen Räumen dieses Hauses hatte sich eine ehrenwerthe Gesellschaft von Männern, eine Art Lesemuseum oder Casino, eingemiethet; diese wußte sich nicht recht zu verwalten und überließ den jahrelangen Pacht ihrem Oberkellner und Oekonomen. Dieser, einmal im Besitze des Locals, machte den berühmten Cercle des étrangers, das Spielhaus, daraus. So kam Fazy eigentlich unschuldigerweise dazu, die Spielhölle in seinem Hause zu haben, aber er wurde schuldig, als er den Pacht erneuerte. Es ist eine Verleumdung, daß er Theil am Gewinne hatte, aber er bezog achtzehntausend Francs Miethzins, und er hatte als Haupt einer Partei und als oberster Beamter des Staates nicht die gehörige Rücksicht für seine Stellung. Er hatte nicht die Kraft, die man von ihm fordern konnte, als armer Mann in einem Dachstübchen zu leben und seine und der Republik Ehre zu retten; er hatte die verbrecherische Schwäche, sich auf das Gesetz zu berufen, das gegen die geschriebenen Statuten des Spielhauses nichts einwenden konnte. Seine Freunde behaupteten, daß er in seiner Leidenschaftlichkeit das Spielhaus aus Trotz gegen seine Feinde aufrecht halte und daß diese nicht das Recht hatten, ihn anzugreifen, da in der oberen Stadt bei den Aristokraten viele solche Spielhöllen bestanden. Aber hatte Fazy auch das Recht, der moralischen Entrüstung, der öffentlichen Meinung und seiner Stellung gegenüber so zu trotzen? und gab ihm die Unsittlichkeit seiner Feinde ein Recht, selbst unsittlich zu sein, ihm, der ein großes Princip zu vertreten hatte? Nein! wie groß immer seine Geldnoth gewesen, wie wenig man ihm nach dem Buchstaben des Gesetzes anhaben konnte – sein Betragen in dieser Angelegenheit war, mild gesagt, ein unschickliches, um so mehr, als Aller Augen auf ihn gerichtet waren und als er das Staatsoberhaupt vorstellte.
Zum Spielhaus kam – um es mit einem Worte zu sagen und über eine häßliche Privatgeschichte rasch hinwegzugehen – kam eine Maitresse. Fazy ist verheirathet und heute siebenzig Jahre alt. Was in einem großen Staate oder in einer Weltstadt als reine Privalangelegenheit übersehen worden wäre, gab in der kleinen Stadt, die zum Theil noch auf sehr strenge Sittlichkeit hält, großes Aergerniß. Man konnte den Mann nicht mehr schätzen, der sich in Gesellschaft verworfener Personen gefiel – und selbst die Lächerlichkeit heftete sich an den Jünglingsgreis. Sehr folgerichtig brachte man mit diesen Verhältnissen finanzielle Verlegenheiten in Verbindung, und neben so vielen Sagen und Scandalen ging auch das Gerücht, daß Genf von Fazy’schen Wechseln überschwemmt sei. Wer kann es einer Republik oder auch einer Partei übel deuten, daß sie unter solchen Verhältnissen einen Mann fallen läßt, den sie durch so viele Jahre auf den Schild gehoben, und daß sie selbst seine früheren Verdienste vergißt? Im Ganzen und Großen ist das nur ein Zeugniß zu Gunsten der Stadt – und wird der Geschichtschreiber diesen Abfall niemals als ein Zeichen der bekannten Wandelbarkeit in Republiken anführen können.
Unter solchen Verhällnissen also nahm die Desertion in’s Independenten-Lager immer mehr überhand. Selbst Leute, welche die Thorheiten und Vergehen des alten Mannes am wenigsten mit moralischer Entrüstung erfüllten, nahmen diese zum Vorwand, um ihre persönlichen Motive zu verhüllen. Trotz alledem aber wären die Independenten noch lange nicht stark genug gewesen, um Fazy zu stürzen, wenn sie nicht von allen Seiten Bundesgenossen bekommen hätten, die im Grunde nicht das Geringste mit ihnen gemein hatten. Seit der Revolution von 1846 bilden Aristokraten und Conservative eine so eng zusammenhaltende Partei, daß man es heute ganz vergessen, wie sie sich vor jener Revolution als patrizisches und bürgerliches Element feindlich gegenüber standen. Trotz ihrer engen Verbindung bildeten sie aber eine so unendlich kleine Minorität, daß es ihnen bei zehn Wahlen kaum gelang, eine entsprechende Minorität in den großen Rath zu bringen. Sie waren todt, sie zählten nicht, trotz aller Mühe, die sie bei jeder Wahl erneuerten, auf die von ihnen als den beinahe ausschließlichen Grundeigenthümern abhängigen Fermiers oder Pächter Einfluß zu üben. Sie waren bereit, sich jeder Partei anzuschließen, die sich gegen Fazy bilden würde.
Die Bildung der „Ficelle“ oder der Independenten war ihnen [103] darum höchst willkommen, und weiter gar nicht bedenkend, daß diese die radicalen Principien noch lauter proclamirten als die Fazy’sche Partei, stimmten Conservative und Aristokraten wie ein Mann mit den Independenten. Aber selbst diese Vereinigung dreier von einander ganz verschiedener, im Princip weit auseinandergehender Parteien konnte noch keine Majorität gegen die zahlreichen Anhänger Fazy’s zu Stande bringen, und sie würden sich vergebens abgemüht haben, wenn nicht die Ultramontanen den Moment für geeignet gehalten hätten, nunmehr ihre innerste Natur zu enthüllen. Man weiß es, daß die dem Canton annectirten katholischen Gemeinden, trotz der Wiener Verträge und trotz der Specialverträge mit Savoyen, unter dem alten, calvinistischen Genf beinahe ganz vom Staatsleben ausgeschlossen waren. Dasselbe System, welches sich im Jahre 1815 gegen die Einverleibung des katholischen Bestandtheils sträubte, suchte, da dieses doch geschehen war, die Vereinigung, so zu sagen, als eine mechanische zu erhalten, anstatt sie in eine chemische zu verwandeln. Die Katholiken waren eigentlich unterdrückt, unemancipirt; vor Allem aber suchte man sie von allen Aemtern und von den Vortheilen auszuschließen, welche die ungeheueren Geldfonds der Genfer Wohlthätigkeits- und Lehranstalten der protestantischen Bevölkerung gewährten. Mit der Revolution von 1846 wurde allgemeine Toleranz und Religionsfreiheit proclamirt; die Katholiken fungirten als Bürger, und wenn auch die alten Parteien sich immer des Religionsunterschiedes erinnerten, in der Masse des Volkes wurde dieser mehr und mehr verwischt. Die Katholiken bezeigten Fazy große Dankbarkeit und Anhänglichkeit – und wie sollten sie nicht, da er bei jeder Gelegenheit für sie eintrat und dafür von den andern Parteien als Pseudokatholik, als Werkzeug der Jesuiten verschrieen wurde? Setzte er es doch durch, daß im calvinistischen Rom den Katholiken ein schöner Bauplatz geschenkt wurde, und ist es doch seine Schuld, daß sie jetzt eine so schöne, herausfordernde Kirche besitzen! Doch war es bei aller Dankbarkeit und Anhänglichkeit nur natürlich, daß sich die Katholiken, oder vielleicht nur die Ultramontanen unter den Katholiken, für die Länge im Lager der Radicalen nicht heimisch fühlen konnten – und nachdem die Fazy’sche Constitution Wurzel gefaßt, die Religionsfreiheit eine gesicherte Eroberung war, so daß man der radicalen Principien nicht mehr bedurfte, gingen die Ultramontanen mit einem Male hinüber in das andere Lager, wo zwar ihre erbittertsten Feinde zu Hause sind, welche Feinde aber auch Feinde des Radicalismus, der Freiheit sind. –
Dies im Kurzen die Geschichte der neuen Parteibildung in Genf, die sich zwar seit langer Zeit vorbereitete, aber erst im Laufe der letzten drei Jahre vollbrachte, und so entstand die Majorität, welcher es zwei Mal nach einander gelang, Fazy von der Regierung auszuschließen. Man sieht, daß es eine künstliche und unnatürliche Majorität ist, zusammengesetzt aus den heterogensten Elementen, Patriziern, Conservativen, die Beide streng calvinistisch sind, Katholiken und Radicalen, die sich gegenseitig bekämpfen würden, sobald sie der alten, radicalen Partei, d. i. der Fazy’schen ledig wären. Jetzt, so lange diese noch so stark ist, wie sie sich trotz der Coalition bei der letzten Wahl gezeigt, halten diese divergirenden Elemente zusammen, demoralisiren und fälschen einander gegenseitig durch die beständigen principiellen Concessionen, die sie einander machen müssen. Die Geschichte dieser Parteibildungen erklärt die Vorgänge des 22. August, denn sie konnten nicht vor sich gehen, ohne tiefgehende Erbitterungen zu erzeugen, da man auf der Fazy’schen Seite den größeren Theil der Gegner als Abgefallene, als Apostaten betrachtete, und auf der anderen Seite ein mehrjähriges Streben wiederholt Enttäuschungen erfahren mußte (wie z. B. die Verwerfung der revidirten Constitution durch das ganze Volk), was die Independenten um so mehr schmerzte, als sie sich der Opfer bewußt waren, die sie, ihrem Princip entgegen, den reactionären Bundesgenossen zu machen gezwungen waren. Das Landvolk, welches der Fazy’schnen Verfassung außerordentlich viel zu danken hat und das sich um die städtischen Vorgänge, um Spielhölle, Maitresse, Geldgeschichten wenig kümmert, fand, daß „der Alte“ („le Vieux“) lange genug von der Regierung ausgeschlossen sei, und selbst die Bauern, die seit zwei Jahren gegen ihn gestimmt, ergriffen jetzt für ihn Pariei, da er seine „Lection“ erhalten habe. Die Anhänger Fazy’s waren ihrer Sache beinabe gewiß; die Independenten zitterten. Die Sache wandte sich gegen Erwarten der Einen und gegen die Furcht der Andern, daher um so größerer Jubel auf der einen, um so größere Erbitterung auf der andern Seite. Dazu das Gerücht von Fälschung der Wahlen – und es kam zum Kampfe.
Die Reaction hat die Vorgänge des 22. August gierig auszubeuten versucht, um so mehr als die Anhänger der Conservativen von Genf selbst aus die entstellendsten Berichte in die Welt hinaus sandten und senden ließen. Wohl hatte der Freund der Freiheit Ursache gehabt, besorgt zu sein, allein das Verdict, welches am 30. December der Obmann des Schwurgerichts verkündete: „Die Angeklagten sind nicht schuldig“, hat diese Behauptung glücklicherweise zu Schanden gemacht und das gesunde Urtheil der Genfer Bevölkerung von Neuem glänzend bewährt. Fazy selbst weilt jetzt wieder in Genf; ob er aber wieder das leitende Haupt seiner Partei werden wird, steht nach so manchen Enthüllungen, welche der Proceß gebracht hat, und nach den Differenzen, in die er mit dem Verwaltungsrathe der von ihm gegründeten „Banque générale suisse“ gekommen, sehr dahin.
- ↑ WS: Vorlage Congroß