Ein Aufruf
[592] Ein Aufruf. Als sehr beachtenswerthes Zeichen der sorgenschweren Bewegung, welche die neuerdings wieder sichtlich hereindrohende Gefahr einer Gewaltherrschaft des orthodox-pietistischen Rückschrittsgeistes in den Kreisen des unabhängigen Bürgerthums hervorgerufen hat, ist soeben ein Aufruf erschienen, den wir unseren Lesern nicht vorenthalten wollen. Derselbe ist von angesehenen Ehrenmännern der deutschen Reichshauptstadt unterzeichnet und lautet:
„Die evangelische Landeskirche in Preußen krankt seit langer Zeit an dem ebenso allgemein beklagten wie bekannten Uebel, daß die in ihrem Namen verkündete Lehre in scharfem Widerspruche steht mit dem Glauben weitaus der meisten ihrer denkenden Glieder. Alle bisherigen Versuche, unsere Kirche aus der ertödtenden Umklammerung einer fanatischen Orthodoxie zu befreien, haben sich als fruchtlos erwiesen. In starrer Unduldsamkeit weist diese Orthodoxie jede Versöhnung mit dem modernen Geistesleben unseres Volkes zurück und zwingt diejenigen Männer, welche gegen die jetzt maßgebende unprotestantische Deutung des Evangeliums zu protestiren wagen, entweder um der Selbsterhaltung willen ihrer Ueberzeugung Schweigen zu gebieten, oder das Opfer dieser Ueberzeugung zu werden. – Die Hoffnungen, welche man in vereinzelten Kreisen auf die Wirkung der neuen Gemeinde-, Kirchen- und Synodal-Ordnung setzte, sind nach den Erfahrungen der letzten Jahre für den freisinnigen Protestantismus in ihr Gegentheil umgeschlagen. Auch die anerkennenswerthen Bestrebungen des Protestanten-Vereins haben die rückläufige Bewegung unserer kirchlichen Verhältnisse nicht aufzuhalten vermocht, weil die Arbeiten dieses Vereins bisher einen vorwiegend theoretischen Charakter an sich trugen, ohne einen thatkräftigen Reformversuch aus sich erzeugt zu haben.
An die Laienwelt, an das Volk selbst ist somit gebieterisch die Pflicht herangetreten, seiner Gewissensnoth aus eigener Kraft abzuhelfen und die als unerläßlich erkannte Reform der Kirche selbstständig in die Hand zu nehmen. – Dieser Aufgabe hat sich der in Berlin seit einigen Monaten wirkende ‚Protestantische Reform-Verein’ gewidmet, indem er es unternahm, unabhängig von dem officiellen Regimente der Landeskirche dem religiösen Bedürfniß der denkenden Gemeinde die Befriedigung zu verschaffen, welche das Herz verlangt, der Verstand aber am Fuße der orthodoxen Kanzeln nicht zu finden vermag.
Selbstverständlich bedürfen diese idealen Bestrebungen zu ihrer erfolgreichen Durchführung bedeutender materieller Mittel, zu deren Beschaffung die gegenwärtige Mitgliederzahl des ‚Protestantischen Reform-Vereins’ keineswegs ausreicht. Schon der Hauptverein in Berlin, an welchen sich im Laufe der Zeit immer mehr Zweigvereine in den Provinzen angliedern sollen, hat bei mäßigster Berechnung einen jährlichen Ausgabe-Etat von 6000 Mark, wovon 2000 Mark allein zur Beschaffung eines für unsere Gottesdienste geeigneten Saales erforderlich sind. An alle Diejenigen, welche mit uns der Ueberzeugung leben, daß die Religion, das heiligste Gut der Menschheit, nicht in todtem Formelwesen, sondern in der lebendigen That des Geistes besteht, an alle Diejenigen, welche noch einen Glauben an den Beruf und die Macht des freie Protestantismus haben, richten wir deshalb vertrauensvoll die Bitte, von diesem ihrem Glauben Zeugniß abzulegen durch die That.
Keineswegs sind wir gewillt, ohne Noth unsere Rechte als Mitglieder der evangelischen Landeskirche durch den Austritt aus derselben aufzugeben oder irgend Jemanden zu diesem Schritte zu veranlassen; ebenso fern liegt es uns aber auch, in unserem Vereine die Mitgliedschaft von der Zugehörigkeit zur Landeskirche abhängig zu machen. Um so weiter ist also der Kreis freisinniger Männer, an den wir uns wenden.
Zwei Dinge sind es, deren wir bedürfen: Mitglieder und Geld. Den größten Dienst werden Ihr uns erweisen, wenn Ihr mit Eurer Person für unsere Sache, das heißt in unseren Verein eintretet, aber auch diejenigen werden sich um unseren Verein verdient machen, welche aus Nah und Fern zu der Beschaffung der unserem Vereine nothwendigen Subsistenzmittel beitragen. Ueber die eingehenden Geldspenden soll in dem Jahresbericht des Vereins, welcher sämmtlichen Gönnern zugehen wird, Quittung ertheilt werden. Zur Empfangnahme von Beitrittserklärungen und Spenden, sowie zur Ertheilung näherer Auskunft ist jeder der Unterzeichneten gern bereit. Der Jahresbeitrag für die Mitgliedschaft ist auf mindestens sechs Mark festgesetzt.
Berlin, den 1. August 1879.
Dr. Kalthoff, Prediger, Steglitz bei Berlin, Mittelstraße 10. – Otto Albrecht, Kaufmann, Thurmstraße 45. - Hermann Lier, Rentier, Heiligenstraße 11. – Freese jun., Fabrikant, Wassergasse 18a. – Otto Geist, Buchdruckereibesitzer, Lindenstraße 13a. – Kalischer, Bezirksvorsteher, Bernauerstraße 15. – Dr. Roeseler, Arzt, Französischestraße 11/12. – I. F. Rauch, Kaufmann, Invalidenstraße 164. – Karl Meyer, Kaufmann, Oranienstraße 147. – W. Fiedler, Gürtlermeister, Brunnenstraße 107.“