Ein Besuch bei Kane, dem Nordpolfahrer
Mein Aufenthalt in Philadelphia, der Durchforschung der in ihrer Art einzigen zoologischen Sammlung und dem Besuche der Akademie gewidmet, nahte seinem Ende. – Entzückt von der Reichhaltigkeit dieser Schätze, zu welchen mir die Akademie mit zuvorkommender Güte den ungehindertsten Zutritt gestattet hatte, wollte ich die letzten Augenblicke zu einem Ausfluge in die Umgebung der Stadt benutzen, der ich so viel des Schönen und Belehrenden verdankte. Noch war ich ungewiß, nach welcher Richtung hin ich mich wenden sollte, als die Ankunft eines Briefes rasch meine Zweifel abschnitt. – Kane, der unerschrockene Nordpolfahrer, der die amerikanische Expedition zur Aufsuchung des Sir John Franklin im Polarmeere commandirt hatte, an dessen Namen sich die herrlichste Idee heldenherziger Mannheit knüpft, lud mich ein, ihn auf seinem Landsitze Furlrock zu besuchen.
Im Nu war ich an einem der Einsteigeplätze der Eisenbahn, welche die Stadt nach allen Richtungen durchzieht und sie mit der Umgegend verbindet; – nach wenigen Augenblicken hatte ich meinen Platz und fort ging’s durch die langen Straßen, als wenn keine Seele in ihnen athmete, während doch Tausende von Menschen zu beiden Seiten sich drängten und rastlos durcheinander trieben.
Ich hatte mich in einen Gepäckwagen geflüchtet und ungestört dem Genusse einer guten Cigarre hingegeben, als plötzlich der mehrmalige schrille Pfiff der Locomotive meine Meditation unterbrach. Schnell bog ich mich aus meinem Wagen, welcher der vorderste war, und sah mit Entsetzen die Veranlassung des gegebenen Signales. – Vor uns auf den Schienen lag ein Neger und schlief, trotz dem Mark und Bein durchdringenden Pfiff, der einen Todten hätte erwecken können. Die Unmöglichkeit, den im vollen Laufe dahinschießenden Zug aufzuhalten, lag klar am Tage, noch zwei Secunden – und der Afrikaner wurde von der Sicherheitsvorrichtung, die sich vorn an der Locomotive befindet, aufgehoben und dreißig Schritte weit weggeschleudert. – Als man den Zug zum Stillstand gebracht und den armen Neger herbeigetragen hatte, konnte ich mich schaudernd überzeugen, daß ihm kein Knochen im Leibe ganz geblieben war. „’s ist nur ein Neger,“ lautete der fast einstimmige Ausspruch der anwesenden Amerikaner, und ich begann, den Armen glücklich zu preisen, der schlafend dem Tode anheimgefallen war, in dessen dunklem Reich der schreiende Contrast der Farben der Oberwelt sich auflöst.
Nach einer halben Stunde hielt der Zug am Saume eines Waldes; ein breiter Weg schlängelte sich anmuthig durch das Gehölz: er führte mich an ein reizend gelegenes Landhaus, die Wohnung der Familie Kane. Die wundervolle Lage dieses Landsitzes ist mir das Ideal eines Ruheplatzes für einen Reisenden, der im Schooße seiner Familie Erholung sucht von unzähligen Anstrengungen und Gefahren und die freie Muße, seine Erlebnisse niederzuschreiben.
Mit der Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit, die man bei den vollendet gebildeten Männern aller Nationen findet, empfing mich der jugendliche, berühmte und bescheidene Reisende. Ein kurzes Gespräch reichte hin zum innigen Verständniß unserer Gefühle und Ideen, ein warmer Händedruck besiegelte den neuen Freundschaftsbund zwischen dem kühnen Nordpolfahrer und mir, den der unwiderstehliche Wandertrieb aus Afrika’s gluthversengten Wüsten hierhergeführt hatte: wir wurden Brüder. – Nach dem Mahle, das wir im Kreise der liebenswürdigen Familie genossen, ergingen wir uns im erfrischenden Schatten der ehrwürdigen hundertjährigen Bäume, welche die Villa umgeben, und deren schweigendes Halbdunkel den schlummernden Gedanken aus tiefstem Herzensgrunde auf die Lippen lockt, von wo er wie ein kastalischer Quell die silberklare Fluth der reichsten, vollsten Gefühle einer Menschenbrust in wechselnder Unterhaltung ergießt. – Wie viele trauervolle Erinnerungen und schreckliche Ereignisse knüpfen sich an diesen Theil der Erde, von der Zeit an, wo der rothe Indianer, der ursprüngliche Bewohner dieser herrlichen Gegenden, von dem Bleichgesichte aus der Ruhe aufgeschreckt, den ungleichen Kampf gegen den Eindringling begann, dessen Ueberlegenheit ihn aus seinen väterlichen Wohnsitzen in die Wüsten des Westens oder in die eisigen Steppen des Nordens trieb, wo er jetzt gehetzt, wie das Wild der Wälder, klagend irrt, indessen der Usurpator sein Haus auf die Stelle der verlassenen Wigwams baut! –
Indem wir so vereinigt des Umschwungs der Zeiten gedachten, waren wir über eine kunstlose Brücke gekommen, welche die hohen grünen Ufer eines klaren, durchsichtigen Baches vereinte, und hatten die Höhe erklommen, von welcher diese Quelle in schäumenden Cascaden herniederfällt und mit feinem Sprühregen die grüne Blättermasse der ehrwürdigen Ueberreste des einstigen Urwaldes befeuchtet. Auf der entgegengesetzten Seite begrenzt ein ungeheuerer Granitblock die Aussicht.
„Eines Morgens,“ erzählte Kane, „kamen unsere Arbeiter entsetzt und mit dem Geschrei zu mir, daß die Besitzung von einer Indianerhorde überfallen sei, welche sich in der Nähe des großen Granitfelsens gelagert habe und alle Anstalten treffe, daselbst ihren dauernden Wohnsitz aufzuschlagen.“
Woher kamen diese Indianer? Was hatte sie vielleicht aus dem fernen Canada herbeigeführt in die Mitte der Civilisation? Niemand konnte diese Fragen beantworten.
Der mächtige Stamm der Lenni-Lenape’s, ein Theil der Völkerschaft der Delawaren, hatte seit unfürdenklichen Zeiten in den Wäldern von Lockavana gejagt und im Schuylkill-Flusse gefischt, als die Weißen erschienen und sie Schritt für Schritt aus dem Gebiete drängten, in welchem sie geboren waren und wo sie zu sterben gedachten. – Die Lenni-Lenape’s theilten das Schicksal der übrigen Nationen; sie wurden gezwungen, aus dem Lande ihrer Ahnen zu weichen und den Siegern ihre Fluren, ihre Wälder, alle die Stätten, an welche sich ihre freudigen und traurigen Erinnerungen knüpften, und mit ihnen den gewaltigen Felsen von Furlrock zu überlassen, der die Gebeine ihrer Väter deckte und das Grab ihres gefeiertsten Häuptlings. Nach einem Jahrhundert war ihr zahlreicher Stamm durch Hunger und Elend, durch die Trübsal der Verbannung und die verheerende Wirkung des Feuerwassers, das ihnen der weiße Mann aufgedrungen hatte, auf funfzig Köpfe geschmolzen, und jedes Jahr streute der Tod die zahlreichen abgewelkten Blüthen in die kalte canadische Erde.
Da faßten die Unglücklichen einen großen erhabenen Entschluß; er war das ernste Resultat einer ernsten Berathung.
Von Canada zogen sie in langem, mühevollem Marsche an die Ufer des Delaware, zum Denkmal einer glorreichen Vergangenheit, um die geheiligten Reste ihrer Väter aus der entweihten Erde zu nehmen oder da zu sterben, wo jene starben. – Das hatte die Letzten der Lenni-Lenape’s zum Granitfelsen von Furlrock gebracht.
Was wäre wohl einfacher und poetischer gewesen, als daß man diese unschädlichen Kinder der Natur auf ihrem Erbtheile friedlich leben ließ, dessen man sie beraubt hatte! Dies war auch die Meinung und der Vorschlag meines Freundes Kane. Aber die guten Indianer waren unglücklicher Weise genöthigt, zu essen, um zu leben, und hatten bereits auf zwei Meilen in der Runde alle Tulpen- und Narcissenzwiebeln ausgerissen und sie in Ermangelung einer anderen Nahrung roh verzehrt.
Da schien es den benachbarten Pflanzern doch etwas langweilig, einen ganzen Stamm den Hungertod sterben zu lassen; sie beschlossen, die armen Teufel fortzujagen. Man versammelte die Flurwächter der ganzen Gegend, umzingelte die Indianer, trieb sie auf einen Haufen zusammen, und brachte sie nach Philadelphia. Dort wurden sie, nackt, wie sie waren, von Allem entblößt, in einen Separattrain gepackt und nach Canada zurückgeschafft. Kane versicherte mich, daß er nie einen seltsameren und zugleich erschütternderen Anblick gehabt habe, als diese Verpackung und Weiterbeförderung der armen Rothhäute, welche mit düsterer Resignation diesen rohen Eingriff der Civilisation in ihre heiligsten Naturrechte erduldeten.
Am Abend verließ ich Furlrock. – Beim Abschiede gab mir Kane mit einem geheimnißvollen Lächeln zu verstehen, daß die Bürger Philadelphia’s vor meiner Abreise nach Mexico, wahrscheinlich schon am nächsten Tage, mich mit einem Auftrage betrauen würden, der mir vielleicht nicht unangenehm sein könnte.
Wirklich fand ich bei meiner Zurückkunft in mein Hotel eine Einladung zum Abendessen für den folgenden Tag, unterzeichnet von vierundzwanzig Bürgern der Stadt. Da die Veranlassung hierzu innig mit einer der schönsten Episoden aus Kane’s thatenreichem Leben zusammenhing, so möge die Erzählung derselben den Verehrern des trefflichen, leider so früh dahingeschiedenen Mannes als ein [24] Opfer bewundernder Freundschaft gelten. In Amerika ist man wie früher in Rom: Advocat und General. Cicero schrieb an Cäsar: „Cicero imperator Caesari Imperatori.“
Auch Kane hatte vor seiner berühmten Reise an den Nordpol in der amerikanischen Armee als Officier gedient und in dieser Eigenschaft den Krieg in Mexico mitgemacht. Am 15. Juni 1847 fand die Schlacht von Puebla statt. Im Anfange stand das Glück ganz auf der Seite der Mexicaner. Der linke Flügel der amerikanischen Armee war vom Feinde fast gänzlich erdrückt, das Centrum selbst wankte, Unordnung begann in den Reihen der Amerikaner einzureißen, die Schlacht schien verloren. Kane befehligte eine Schwadron Dragoner. Mit einem Blicke überflog er den Stand der Dinge; er sah, daß keine Zeit mehr zu verlieren sei, die kühne That allein konnte retten. Mit Blitzesschnelle warf er sich mit seinen Reitern auf die feindlichen Colonnen; sie wurden gesprengt – ein donnerndes Hurrah belebte den gesunkenen Muth der Amerikaner, – die gebrochenen Schlachtreihen ergänzten sich – ein neues verzweifelndes Ringen begann. Mann gegen Mann, Stahl gegen Stahl. – Das schreckliche Gemetzel endete mit einem Sieg der Amerikaner, der aber mit ungeheuren Opfern erkauft war.
General Taylor durfte, wie Pyrrhus nach der Schlacht bei Heraclea, die Siegesbotschaft an den Senat mit den Worten schließen: „Noch solch ein Sieg, und wir sind verloren.“
Kane war mit solcher Gewalt in die Reihen der Feinde eingedrungen, daß ihm seine Kampfgenossen nicht hatten folgen können. Plötzlich sah er sich einem mexicanischen Officier gegenüber, in dem er sogleich den würdigen Gegner erkannte. Es war eine jener ritterlichen Erscheinungen, wie sie sich unter der Herrschaft des Pulvers so selten mehr zeigen. Kaum hatten sich die beiden Kämpfer erblickt, als sie auf einander losstürzten, wie wenn jeder von ihnen jetzt erst im Handgemenge den von ihm lange gesuchten Gegner gefunden hätte. Und nun entspann sich einer jener Kämpfe, wie sie Homer besingt und Tasso erzählt. Beide Streiter waren jung, beide tapfer, beide gleich vertraut mit der Führung des Schwertes, beide herrliche Reiter auf ausgezeichneten Rossen: es war ein großartiges Schauspiel, dieser Kampf, in welchem Muth und Gewandtheit beider Theile gleich waren. Aber der Mexicaner hatte schon seit dem Morgen gefochten, seine Kräfte schwanden, sein Arm begann zu erlahmen, während die Hiebe des Gegners, dem diese Schwäche nicht verborgen blieb, sich verdoppelten. Mit übermächtiger Gewalt durchschlug Kane die Parade seines Feindes, und begrub sein Schwert in dessen Brust, daß er blutend rückwärts vom Pferde sank. – Im selben Augenblick fiel aber auch Kane; eine Kugel hatte seine Schulter getroffen. Mexicanische Reiter waren ihrem bedrohten Führer zu Hülfe geeilt, einer ihrer ersten Pistolenschüsse hatte Kane getroffen, der unmittelbar darauf Gefahr lief, durch einen Säbelhieb zu sterben, wenn nicht der bestimmte Befehl seines verwundeten Feindes den tödtlichen Streich von seinem Haupte abgehalten hätte. Murrend gehorchten die Mexicaner der Stimme ihres geliebten Führers, der ihnen befahl, sie beide nach Cholula zu bringen, wo man ihnen den ersten Verband anlegte, und sie dann zu General Gaona, dem Vater des jungen Mexicaners, schaffte.
Des jungen Gaona’s Mutter und seine holden Schwestern bemühten sich im edlen Wettstreit, den beiden gefährlich verwundeten Helden die sorgfältigste und umfassendste Pflege angedeihen zu lassen, nicht als wenn sie Feinde, sondern Brüder wären. Nach drei Monaten hatten die zarten Hände das Wunder der Heilung vollendet.
Die langwierige Krankheit, der gemeinsame Schmerz verwandelte die hochherzigen und tapferen Jünglinge, die sich feindlich gegenüber gestanden, in innige Freunde, die nichts sehnlicher wünschten, als fortan gemeinsam leben zu können. Nur zu bald jedoch vereitelte der Friede ihre schönen Pläne. Kane, vollständig wiederhergestellt, wurde nach Philadelphia berufen, da das Vaterland seiner Dienste bedurfte.
Die Kunde des Ereignisses hatte sich lange schon in Philadelphia verbreitet, in jedem Munde ertönte das Lob des unerschrockenen edlen Mitbürgers, der bei seiner Rückkehr mit ungetheiltem herzlichem Jubel empfangen wurde. Einstimmig ging der Vorschlag durch, dem tapferen Reiterführer, dessen heroische Aufopferung dem Vaterlande den Sieg errungen hatte, einen Ehrendegen mit goldenem Griffe als Beweis der Erkenntlichkeit seiner Mitbürger zu überreichen. Als die Deputation dem Gefeierten diesen Tribut der allgemeinen Achtung überbrachte, sprach der edle, uneigennützige Mann:
„Ihr leget einen großen Werth auf eine Handlung, die jeder brave und muthige Soldat verrichtet, der seine Schuldigkeit thut. Erlaubet mir, daß ich euch den Unterschied zeige zwischen dieser einfachen Erfüllung meiner Pflicht und einer Handlung der edelsten und erhabensten Hochherzigkeit.“
Und nun erzählte Kane, wie sein zum Tode verwundeter Gegner ihm das Leben gerettet, wie er ihn in sein väterliches Haus aufgenommen und dort in Mitte seiner Wunden mit unermüdlicher Sorgfalt die Pflege seines Feindes überwacht habe, und schloß mit der Bitte, daß dieser Ehrendegen nicht ihm, sondern seinem tapfern edelmüthigen Gegner eingehändigt werde.
Ein dreimaliger donnernder Beifallsruf folgte diesen schönen Worten Kane’s, und sogleich wurde einstimmig beschlossen, daß ein großes Volk nicht allein die Tapferkeit seine Mitbürger, sondern auch die Tugenden eines Feindes würdigen und ehren möge. Kane erhielt sein prachtvolles Schwert, indessen für den Mexikaner ein gleiches bestimmt wurde.
Die an mich ergangene Einladung, der ich pünktlich Folge leistete, hatte zum Zweck, mich bei meiner Abreise nach Mexico mit der Uebergabe des Ehrengeschenkes der Philadelphier an den tapfern Gaona zu betrauen.