Ein Besuch in Pompeji
[64] Ein Besuch in Pompeji. Die vor achtzehnhundert Jahren begrabene und in ganzen Straßen und Stattheilen mehr oder weniger gut und ganz erhalten wieder aufgedeckte und offene altrömische Stadt Pompeji ist schon hundertfach geschildert worden, aber wohl kaum so, wie ich sie im vorigen Herbste sah. Es hat sich auch in dieser Todtenstadt ein besseres Leben eingefunden, mehr Freiheit, seitdem das bourbonische Regiment aus Neapel vertrieben ward.
Wenn man das Entrée (allerdings über einen Thaler) am Eingange zu der hinabführenden Treppe bezahlt hat, ist man sein eigener Herr und kann sich ungehindert dem Geiste des Alterthums hingeben, der uns hier aus wohlerhaltenen Straßen und Häusern und ihren Geräthen dicht umgiebt. Ist man recht mit Leib und Seele mitten darin, so meint man, es würde uns gar nicht wundern, behelmte, sandalenfüßige, malerisch in Togas und Tunicas gehüllte Menschen um die Ecke herum kommen zu sehen. Kein Polizeispion von Führer entzaubert uns mit seiner Beredsamkeit, wie früher, und zieht uns nicht mehr unbarmherzig von einer Sehenswürdigkeit zur andern. Man kann ganz nach Lust und Laune umherwandern, bleiben und sich so in das Leben vertiefen, wie es hier plötzlich in aller seiner Freude und Herrlichkeit erstickt und bis heute aufbewahrt ward, daß der ganze Zeitraum gleichsam verschwindet und wir mitten in der altrömischen Welt zu leben meinen. Blos die Arbeiter, die hier und da emsig weiter graben und aufdecken, stören zuweilen den Wahn, drängen sich aber nicht auf, sondern geben nur auf Fragen die nöthige Auskunft.
Unter der neuen Regierung werden die Ausgrabungen systematisch und so gut geleitet, daß es gelungen ist, mehrere Häuser ganz unversehrt aus ihrem Aschengrabe zu lösen. Da hat sich unter Anderem ergeben, daß wohlhabendere Bewohner in Häusern mit mehreren Etagen und Balkons oben wohnten, während man früher annahm, daß die Häuser blos aus einem Stockwerk bestanden. Das Haus des Proculus liefert den besten Beleg für das neue Ergebniß.
Proculus war damals ein reicher, mindestens sehr einflußreicher Bürger von Pompeji. Er war gerade beschäftigt, eine Ausbesserung an seiner Wohnung vornehmen zu lassen, als der furchtbare Aschenregen aus dem Vesuv niederfiel. Malertöpfe und Maurer- und Tischlerwerkzeuge liegen umher und ein Theil des Mosaikpflasters im Hofe ist aufgerissen. In einem Winkel stehen eine Menge Küchenapparate aufgehäuft, weil die Arbeiter die Küche in Beschlag genommen hatten, um Verbesserungen auszuführen. Blos einige kleinere Oefen waren in Gebrauch. Einige Töpfe und Pfannen mit verschiedenen Artikeln zum Kochen und Braten standen darauf. In einer Bronzepfanne lag ein Spanferkel eben fertig, es in den Backofen zu schieben. Aus dem großen Backofen zog man siebzig Brode hervor je zu zwei Pfund. Nachdem sie über' eintausend achthundert Jahre darin gestanden, kamen sie in ihrer ursprünglichen Gestalt, wenn auch mit veränderter Farbe, heraus. Die Poren im Innern waren noch deutlich zu erkennen, aber selbst die Krumenbestandtheile so ausgetrocknet, daß sie zwischen den Fingern gerieben zu Asche zerstoben. Man war im Hause des Proculus früh aufgestanden an jenem Tage. Die Köchin hatte ihre Arbeit bei Lampenlicht begonnen, um bei anbrechendem Tage mit dem Frühstück aufzuwarten. Aber der Tag, der bis dahin immer regelmäßig mit seinem holden italienischen Lichte gekommen war, blieb diesmal aus, aus beinahe zwei Jahrtausende lang. Furchtbare Feuer- und Rauchsäulen stiegen aus dem Rachen des Vulcans empor und dichte Wolken von glühender Asche senkten sich dichter und dichter auf die Stadt und verbreiteten eine so furchtbare Finsterniß, daß Väter und Mütter und Kinder dicht neben einander sich mit den Händen suchten und schrieen und Hand in Hand, Arm in Arm zu entkommen strebten und erstickten. Einige entkamen bis auf die Straße vor der Schildwache vorbei, die standhaft ihren Posten zu behaupten und sich gegen das Ersticken durch Zuhalten des Mundes mit der Hand zu retten suchte. Vergebens. Die Aschenwolken fielen dichter und dichter nieder, bis sie den Mann lebendig begruben im Schilderhause. Dort stand er noch eintausend achthundert Jahre später mit seiner Waffe in der einen Hand, mit der andern Mund und Nase bedeckend.
Aus dem Hause des Proculus entkamen Alle bis auf zwei Personen. Die eine war eine weibliche Person, die sich zurückhalten ließ, um ihre Schürze mit Schmucksachen zu füllen, und welche auf späterer Flucht im Hofe hinstürzte, um sich niemals wieder zu erheben. Die Juwelen und Putzsachen lagen um sie her verstreut. Die andere Person war ein verwundeter Gladiator, der wahrscheinlich eine Treppe hoch wohnte, wo er mit seiner Waffe im Arme gefunden ward. Ein Weib setzt sich fast jeder Gefahr aus, um zu retten, was sie am meisten liebt, mag es aus Kleinodien, Kindern oder – Kötern bestehen! Bei einer viel späteren Eruption des Vesuvs brauchten die Nonnen eines benachbarten Klosters so viel Zeit, um ihre Gelées und Zuckersachen zu retten, daß sie schon dicht von fließender Lava umgeben waren, als sie endlich mit ihren Schätzen flohen. Nicht weit von der weiblichen Mumie im Hofe des Proculus ward eine andere entdeckt, vielleicht Mutter und Tochter. Die ältere scheint ohne viel Kampf erstickt zu sein, während die jüngere und kräftigere convulsivisch gekämpft und gezuckt haben mag, ehe sie ihr junges Leben hingab. Dies ersieht man aus den Gypsabdrücken der Formen, die ihre Leichname in dem Aschengrabe zurückgelassen. Nicht weit davon, vor dem Hause, wurden die Skelete zweier junger Personen entdeckt, die Arm in Arm gestorben waren. Anderswo grub man eine Gruppe von Mutter und drei Kindern aus, die ineinander gewunden, lebendig das Grab über sich aufschütten ließen. In einem Keller fand man die Reste von siebzehn Personen.
Obgleich die Ausgrabungen höchstens zwei Dritttheile der Stadt enthüllt haben, zählt man doch bereits über sechshundert wohlerhaltene Skelete und respective Abdrücke von Menschen in der festgewordenen Asche. Ausgegrabene und noch haltbare bewegliche Gegenstände giebt es bereits zu Tausenden. Die meisten oder wenigstens die kostbarsten werden dem schon reich ausgestatteten Museum zu Neapel hinzugefügt; ein großer Theil bleibt in der Sammlung zu Pompeji selbst. Es vergeht fast kein Tag, wo nicht eine Ladung nach Neapel abginge und das Museum an Ort und Stelle selbst mit diesem und jenem neuen Schatze bereichert würde. Viele haben natürlich weiter keinen Werth, insofern sie nur Wiederholungen bekannter Artikel, Geräthe und Mobilien sind. Es fehlt aber auch nicht an Kostbarkeiten. So entdeckte man diesen Sommer eine massive, drei Pfund schwere goldene Lampe. Was die goldenen Ringe, Broschen und sonstigen Juwelen betrifft, die am Eingange und sonst in der Nähe als echte ausgegrabene Pompejanen verlauft werden (noch glaubwürdiger heimlich von ausgrabenden Arbeitern selbst), so stammen sie meist aus einer modernen Fabrik, wo man in Nachahmung dieser antiken Kleinodien eine große Fertigkeit erreicht hat, so daß man am Ende die halbe Welt damit beglücken kann. Am Gründlichsten werden oft die Pfiffigsten betrogen, welche von dem ausgedehnten Handel mit nachgemachten Artikeln gehört haben und sich vornehmen, die Vorsicht selbst zu sein. Sie werden auch in ihrer Pfiffigkeit unterstützt, indem ein aus heimlichem Winkel hervorwinkender Arbeiter vor dem schmählichen Betruge warnt und den Gast in Pompeji einladet, sich in einer versteckten Stelle, der Grenze aller Ausgrabungen, selbst umzusehen und womöglich etwas selbst als Original herauszupuddeln. Ein solcher Glücklicher fand einmal unter der Leitung des Arbeiters ein – Platina-Feuerzeug, das er dem Letzteren (für Mundhalten) ungemein theuer bezahlte. Als er mit seinem unerhörten Schatze in die moderne Welt kam, wurde er ausgelacht, wie noch nie ein weiser Antiquitätensammler.
Die Ausgrabungen werden jetzt so umfangreich und systematisch fortgesetzt, daß die Stadt bald im ganzen Umfange dem Tageslichte geöffnet sein wird. Die merkwürdigste Entdeckung bleibt aber die Springquelle, die nach einem letzten Hieb der Hacke plötzlich mit einem Strahle des klarsten und frischesten Wassers über die todte Straße hervorsprang. Alle Arbeiter und Besucher strömten herbei und Einige tranken so viel, daß sie davon krank wurden. Mehrere Flaschen wurden mit dem „antiken“ Quellwasser gefüllt, versiegelt und an den König Victor Emanuel, den Papst, Napoleon und andere „hohe Personen“ gesandt. Das dauernde Leben aber, welches aus der einst plötzlich in aller Lebensfülle begrabenen Stadt hervorquillt, ist werthvoller, als die kostbarsten Flüssigkeiten. Es ist das massive, monumentale Bild einer Cultur und eines Volkes, das einst die Welt beherrschte und aus dem Schweiße militärisch ausgepreßter Völker die höchsten Luxusformen des Lebens bildete; das, auf seine Waffengewalt pochend, Freiheit und Sittlichkeit und ehrliche Arbeit mit Füßen trat, wofür es mit einer Jahrhunderte lang dauernden Qual des Sterbens bestraft ward. Zur Zeit des Unterganges von Pompeji fing das Römerreich schon zu sterben an. Es starb immer gräßlicher von innen und außen Jahrhunderte lang weiter, so daß Pompeji mit seinem schnellen, wenn auch gräßlichen Tode ein verhältnißmäßig glückliches Ende nahm.