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Ein Ferienabenteuer in Amerika

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Autor: Wilhelm Braunau
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Titel: Ein Ferienabenteuer in Amerika
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7–8, S. 117–119,132–134
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[117]
Ein Ferienabenteuer in Amerika.
Dem Leben nacherzählt von Wilhelm Braunau.

Eine Ferienreise nach Amerika! Ich erhielt die Einladung dazu von meinem Freunde William Burting, einem jungen Amerikaner, den ich im Jahre 1863 in Jena kennen gelernt hatte, wo ich mich "Studirens halber" aufhielt. Die Schweiz und Frankreich hatte ich besucht, Italien lief mir nicht davon - ein deutscher Student durfte sich schon einmal eine solche außerordentliche "Spritztour" erlauben. Kurzum, ich besann mich nicht lange; wenn ich Heidelberg vierzehn Tage vor Schluß des Semesters verließ, sechs Wochen Osterferien dazu rechnete und dann noch vierzehn Tage zugab, so hatte ich beinahe ein Vierteljahr Zeit; [118] da war eine solche Reise schon der Mühe werth. So packte ich denn meine Sachen – viel Abschied hatte ich nicht zu nehmen – reiste nach Hamburg, bestieg die „Cimbria“, Capitain B., und „nach einer schnellen Reise von zehn Tagen acht Stunden“ stieg ich wohlbehalten drüben an das Land, von meinem zuvor benachrichtigten Freunde auf das Herzlichste empfangen.

Viel zu schnell für uns Beide und gleichfalls viel zu schnell für mein Bestreben, Land und Leute kennen zu lernen, verstrichen uns die Wochen; William widmete mir fast seine ganze Zeit, und Hunderte von Meilen hatten wir mit einander zu Wasser und zu Lande zurückgelegt – noch vierzehn Tage und meine Zeit war um.

Da trat William eines Tages bei mir ein, aber nicht mit seiner sonstigen liebenswürdigen Gemüthlichkeit. Er schien verstimmt, sehr verstimmt; eine düstere Wolke lagerte auf seiner Stirn.

„Was hast Du, William?“ fragte ich und faßte seine Hand.

Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Eine dumme Geschichte,“ meinte er, „mein Vater ist sehr schwer und auf eine geheimnißvolle Art betrogen worden.“

„Betrogen?“ sagte ich, „von wem?“

William blickte mich ernst an.

„Ja, wenn wir das wüßten!“

Ich sah fragend auf.

Er stützte die Faust auf den Tisch und starrte vor sich nieder.

„Es ist eine sehr böse Sache, die wir nicht einmal öffentlich verfolgen dürfen, weil wir sonst die Betrüger warnen. Ich weiß, Du wirst nicht davon sprechen, also höre: Seit acht Tagen sind mehrfach telegraphische Anweisungen zur Auszahlung großer Summen an unsere Filialen in Elmira und Buffalo ergangen, die von uns nicht ertheilt worden sind. Wegen der bedeutenden Höhe der Summen haben die Filialen einige Male telegraphisch bei uns angefragt, ob die Zahlen richtig seien. So wenig wir die Anweisungen erlassen, so wenig haben wir diese Anfragen erhalten, die Filialen haben aber gleichwohl telegraphische Antwort empfangen, daß die Summen richtig seien, und darauf hin haben sie das Geld dem, der es abgeholt und der sich genügend legitimirte, ausgezahlt. Heute Morgen bekommen wir einen Brief von unserm Geschäftsführer in Buffalo, dem die Sache doch auffällig geworden ist und der sich Instruction erbittet. Weiter wissen wir nichts, der Schaden aber beträgt fünfzigtausend Dollars.“

Ich fuhr empor. Das war ein echt amerikanisches Stückchen.

„Was gedenkst Du da zu thun?“ fragte ich. „Wäre es nicht am gerathensten, wenn die Behörde sofort benachrichtigt würde?“

Er schüttelte den Kopf.

„Das würde uns alles verderben. Wir haben bei uns nicht eine staatlich organisirte Polizei, wie sie bei Euch existirt, sondern unsere Polizeibehörden sind nur municipale Institute, deren Befugnisse nicht über ihren Bezirk hinausgehen. Eine einheitliche Leitung derselben fehlt gänzlich, und die Verbindung der einzelnen Behörden unter sich ist eine sehr ungenügende. Ein Policeman von New-York hat an einem anderen Orte keine Befugniß zur Ausübung seines Amtes. Es bleibt uns darum nichts übrig, als uns an die private detective agency von Allan Pinkerton zu wenden; wenn wir da nichts erreichen, so ist alles vergeblich.“

„Was ist das?“ fragte ich.

„Eine Privatpolizei, wenn Du so willst, welche eine große Anzahl geschickter Agenten, detectives oder geheimer Polizeimänner, in ihren Diensten hat, die durch Gewandtheit und scharfen Verstand ersetzen, was ihnen an öffentlicher Autorität abgeht. Diese Agenten leisten in Combination und Auffindung von Spuren ganz Unglaubliches und erzielen bessere Resultate, als oft die bestorganisirte Polizei. Die Verbindungen dieses Instituts reichen über die Vereinigten Staaten bis nach Canada und selbst nach England. Sie werden allerdings auch sehr gut bezahlt.“

„So bist Du auf dem Wege, das Institut aufzusuchen?“

„Das würde auffallen. Ich habe bereits mit meinem Vater gesprochen, und es ist Veranstaltung getroffen worden, daß heute Abend ein Agent uns besucht. Es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Zugang unseres Hauses beobachtet wird, und der Eintritt eines Agenten würde sofort die Betrüger warnen. Es ist mir aus diesem Grunde sehr willkommen, daß ich mit Dir in den letzten Wochen viel gereist bin; es wird somit eine abermalige Reise nicht auffallen.“

„Du willst selbst mit dem Agenten reisen?“

„Ohne Zweifel, und ich bitte Dich dringend, mich begleiten zu wollen.“

Ich war natürlich sofort bereit, da ich mir etwas Besonderes versprach und nicht ahnte, daß ich von dieser Reise ein Andenken für Lebenszeit bekommen würde.

Am Abend erschien der Polizeiagent, Mr. Carpe, und wurde in das Zimmer des Hausherrn geführt in dem sich außer diesem noch William und ich befanden. Es war ein kleiner, unscheinbarer Mann mit ein paar grauen, ruhigen Augen, welche, wie ich später wahrnahm, für gewöhnlich beinahe nichtssagend und gleichgültig dreinschauten, die er aber beim Eintreten mit einer Schärfe auf mich gerichtet hielt, als ob er in einem Augenblicke mein ganzes Wesen durchschauen wollte. Es wurde der übliche Thee servirt, und Mr. Burting setzte ihm den Grund der Einladung auseinander. Ich verstand Englisch genug, um dem Gespräche folgen zu können.

Als Mr. Burting geendet, nickte der Kleine, der ruhig zugehört hatte, mit dem Kopfe und sagte fast leichthin:

„So ist es, Mr. Burting, ich weiß schon.“

„Wie, Sie wissen –?“ rief der Angeredete voll Staunen.

Der Agent lächelte ein wenig.

„Wozu wäre ich, was ich bin? – Uebrigens seien Sie unbesorgt! Es weiß sonst Niemand um die Sache.“

„Aber mein Gott, woher?“

„Genug, daß ich es weiß!“ wehrte Mr. Carpe leicht ab. „Ich war schon gestern unterrichtet. Unsere Verbindungen reichen weit.“

„Und was rathen Sie da, was zu thun sei?“

„Zunächst einige Fragen, Mr. Burting. Nach Buffalo benutzen Sie für Ihre Firma den Draht Nummer siebenzehn?“

Der alte Herr nickte.

„Und das zwar schon seit vier Jahren?“

„Jawohl.“

„Das ist – verzeihen Sie mir! – eine Unvorsichtigkeit. Sie hätten einmal wechseln sollen.“

Das Gespräch bewegte sich noch um einige nebensächliche Dinge, und der Mann erhob sich dann wieder.

„Ich gedenke spätestens übermorgen wieder hier zu sein. Unterdessen bitte ich Sie, gar nichts in dieser Angelegenheit thun zu wollen. Wir werden dann weiter darüber sprechen.“

Der Agent empfahl sich und wir blieben zurück.

Ich sah William an. Der kleine Mann mit den ausdruckslosen Augen und der trockenen Redeweise hatte mir gar kein Vertrauen eingeflößt. Zudem erschien er mir zur Durchführung einer möglicher Weise gefährlichen Expedition zu schwächlich und energielos. Ich konnte nicht umhin, diese meine Bedenken zu äußern. William schüttelte jedoch seine aschfarbenen Locken.

„Maske, lieber Freund,“ sagte er kurz; „diese Augen sind schärfer als die des Adlers, und in seinem kleinen Körper hat der Mann Sehnen von Stahl. Er ist einer der besten Agenten, und wenn es ihm nicht gelingt, dem Betruge auf die Spur zu kommen, so vermag es Keiner.“

Bereits am Mittag des dritten Tages kam er wieder. Er hatte sich die Depeschenbücher des Telegraphenamts in New-York sowie in Elmira und Buffalo vorlegen lassen und die betreffenden Beamten scharf inquirirt, aber nichts ordnungswidriges entdecken können. Sein Gesicht zeigte einen Anflug von Verstimmung.

„Haben Sie in den letzten vier Jahren einen Wechsel in Ihrem Comptoir-Personal gehabt?“ fragte er, nachdem er seinen Bericht beendet hatte.

„Vor etwa drei Vierteljahren haben wir einen Commis entlassen, da er nicht pünktlich genug in seinen Pflichten war,“ gab William an Stelle seines Vaters zur Antwort; „sonst ist das Personal dasselbe geblieben.“

Mr. Carpe sah auf. „Haben Sie wieder etwas von dem Manne gehört?“

„Nein.“

„Woher kam er, als er bei Ihnen eintrat?“

„Er war in der Fabrik mechanischer und chemischer Instrumente von Norton und Compagnie in Narrowsburgh gewesen.“

Der Agent blickte lebhafter.

„Und wie sind Sie mit ihm aus einander gekommen.“

Mr. Burting zuckte die Achseln. „Nicht zum Besten,“ sagte er kurz; „er hatte sich Versäumnisse zu Schulden kommen lassen, und ich machte ihm einen Gehaltsabzug.“

[119] Der Polizeimann nickte wieder. „Haben Sie Gelegenheit gehabt, seinen Charakter kennen zu lernen?“

„Leider, ja. Er war genußsüchtig und heißblütig.“

Mr. Carpe schien befriedigt. Sein vorher unzufriedenes Gesicht hatte sich außerordentlich erhellt.

„Es ist gut,“ sagte er ruhig, „ich denke, ich habe etwas gefunden. – Lassen Sie morgen,“ fuhr er fort, indem er Herrn Burting einige Papiere übergab, „diese Depeschen zu den dabei angegebenen Zeiten nach Elmira und Buffalo abgehen; nach den Antworten, welche ich den Filialen bereits vorgelegt habe, werde ich bald gefunden haben, an welcher Stelle ich angreifen muß. Im Uebrigen benutzen Sie von dieser Stunde an zu Ihren wirklichen Geschäftsdepeschen Nummer dreizehn! – Sie werden mich begleiten?“ wandte er sich an William.

William bejahte. „Dieser Herr hier,“ fügte er auf mich deutend hinzu, „wird auch mitreisen, und außerdem gedenke ich unseren schwarzen Tim mitzunehmen.“

„Gut,“ sagte der Agent. „Für einige Waffen bitte ich sorgen zu wollen,“ setzte er hinzu.

Mir klopfte das Herz. Wenn der Sicherheitsbeamte das Mitnehmen von Waffen auf der Linie des Erie-Railway empfahl, so mußte man auf eine ernste Wendung der Sache gefaßt sein. Wir bestiegen noch gegen Abend wohlbewaffnet den prachtvollen Pullmann and Wayner Car, einen jener Schlafwaggons, die gleich kleinen Zauberpalästen dem Reisenden alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten bieten, und wachten, ohne von der riesigen Schnelligkeit eines amerikanischen Nachtschnellzugs in den weichen Kissen und dem sanftrollenden Wagen das Mindeste verspürt zu haben, früh in Buffalo auf.

Unser gleichgültig dreinschauender Polizeiagent schien seinen Feldzugsplan schon völlig geordnet zu haben, denn kaum waren wir angekommen, so wurden auch schon wieder Billets zur Heimfahrt gelöst, das Frühstück im Waggon eingenommen, und nun begann der Mann eine eigenthümliche, geschäftige Thätigkeit.

Auf den größeren Stationen, wie Attika, Portage, Hornellsville-Corning, stieg er aus, um nach wenigen Augenblicken wieder zu erscheinen und ruhig mit uns weiter zu fahren. Da wir uns nicht erklären konnten, was er in den wenigen Secunden des Aufenthalts Ersprießliches ausrichte könne, so erfüllte William den mir sicherlich auf dem Gesichte stehenden Wunsch und befragte den kleinen Mann darum, als wir gerade die Strecke von Elmira nach Waverly allein im Coupé dahinrollten.

Dieser blickte gleichmüthig auf.

„Ihr Papa läßt die von mir ihm übergebenen Depeschen zu den vorgeschriebenen Zeiten nach Buffalo und Elmira abgehen. Die Antworten darauf sind von mir Ihren Filialen schon bei meiner ersten Reise übergeben worden, und an jeder neuen Station bringt mir ein untergeordneter College die daselbst durchgegangene Depesche, aus der ich ersehe, ob sie durch falsche Hände gegangen ist. Bis jetzt ist keine verändert, und wir sind deshalb noch nicht zur Stelle.“

Mr. Carpe lehnte sich wieder zurück und rauchte gemüthlich seine Cigarre weiter. Ich maß den kleinen, unscheinbaren Mann mit verwunderten Blicken, erstaunt über die Sorgfalt, mit der er sein Werk vorbereitet hatte. Seine Anordnungen, seine Antworten geschahen alle mit solcher Präcision, er schien seiner Sache schon so gewiß zu sein, daß er auch nicht im mindesten irgend eine Unruhe verrieth.

Jenseits Waverly nähert sich der zwischen Susquehanna und Deposit die Eriebahn kreuzende östliche Arm des Susquehannaflusses mehrmals der Bahn, um sie dann in weiteren Bogen wieder zu verlassen. Der Agent, der sonst für nichts eine merkliche Theilnahme äußerte, schien hier geologische Studien machen zu wollen, denn seine grauen Augen begannen die Gegend höchst genau zu mustern und erglänzten in einer Regsamkeit, daß ich William Recht geben mußte, wenn er gesagt hatte, der Mann habe Augen, so scharf wie ein Adler. Dieselben waren überall und schienen Alles zu sehen.

Wir hatten mehrere Stationen wieder passirt und in Deposit war Mr. Carpe wieder ausgestiegen. Er verweilte diesmal etwas länger, und schon wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben, als er plötzlich an den Wagen geeilt kam und uns hastig zuwinkte, auszusteigen. Wir fuhren wie elektrisirt von unseren Sitzen empor; im nächsten Augenblick sauste der Zug ohne uns dahin, in der Richtung nach New-York. Die Blicke des Kleinen sprühten; er hatte offenbar eine Entdeckung gemacht.

„Wir sind am Ziele,“ sagte er leise und kurz; „die Depesche ist verändert; bis Susquehanna müssen wir zurückfahren.“

Dies geschah bereits in der nächsten Stunde, und der schweigsame Mann sprach während der Fahrt kein Wort mit uns, sondern musterte aufmerksam die beiden Seiten der Bahn. Als wir in Susquehanna anlangten, war der Tag im Sinken.

„Ruhen wir!“ sagte der Agent im gleichgültigsten Ton der Welt, „wir haben morgen einen scharfen Ritt vor uns.“

Es war noch sehr früh am andern Tage, als Mr. Carpe uns weckte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen; es herrschte eine halbe Dämmerung.

„Wir müssen eilen,“ bemerkte er kurz, und bereits nach einer halben Stunde saßen wir in den Sätteln, und die[1] Pferde trabten munter in den frischen Morgen hinein.

Wir waren etwa zwei Stunden dahingeritten, der kleine Mann, wie ein Knabe auf dem hochbeinigen Rosse, immer voran, schweigend, die spähenden Augen bald rechts, bald links gewendet – da hielt er plötzlich an und ließ uns nachkommen.

„Hier müssen wir absteigen,“ sagte er einfach, und dabei war er bereits von seinem Pferde gesprungen und warf dem schwarzen Diener Tim die Zügel zu.

Wir sahen einander verblüfft an. Hier zwischen Feld und Wald, fern von allen menschlichen Wohnungen – was hatte das für einen Sinn? Mr. Carpe bemerkte es und lächelte.

„Kommen Sie nur, aber bitte ohne Geräusch. – Du,“ wandte er sich an den Neger, „folgst leise mit den Pferden unserer Spur, und wo ich einen Zweig abbreche, bindest Du die Thiere fest und wartest auf uns! Schnell, meine Herren!“

[132] Wir folgten kopfschüttelnd dem Manne, und nach einer Viertelstunde, da wir uns über Steine und durch Gestrüpp hindurchgearbeitet hatten, standen wir am Ufer des Susquehanna. Zur Linken befand sich die Bahn, welche auf der Strecke zwischen Susquehanna und Deposit die Wasserscheide der beiden Flüsse Susquehanna und Delaware durchbricht und deshalb mehrfach in Durchstichen hinführt. Der von Norden her kommende Susquehanna kreuzte unmittelbar vor einem solchen Durchstich die Bahn, umging in einem Bogen von etlichen hundert Schritten eine durch den Bahndurchstich von dem übrigen Berge losgetrennte Felspartie und berührte dann wieder auf eine Weile die Bahn, sodaß dieses auf der einen Seite von der Bahn und im übrigen von dem Flusse eingeschlossene Bergstück einer Insel glich. Auf dieses Stück Berg, Plymet genannt, hatte es der Agent abgesehen. Die Seite nach der Bahn zu war fast senkrecht abgeschnitten; oben, etwa dreißig Fuß über den Schienen, hielten in die Felswand eingelassene Eisenbügel die zahlreichen Telegraphendrähte; die von dem Fluß umspülte Seite war gleichfalls ringsum steil und unzugänglich, eine kleine, natürliche Felsenfestung.

Mr. Carpe betrachtete aufmerksam die Felsenburg; ein selbstzufriedenes Nicken des Kopfes deutete an, daß er gefunden, was er suche. Wir sollten auch nicht lange in Zweifel bleiben. Er kauerte sich zur Erde, löste die Reitstege von den Beinkleidern, steckte den Revolver in die Außentasche seines Rockes und knöpfte diesen, um durch nichts behindert zu werden, bis oben zu. Es war, als ob jedes Glied an dem Manne Leben bekommen habe; seine ganze Gestalt war Bewegung geworden – gleichwohl lag auf seinem Antlitz eine wirklich imponirende Ruhe.

William nickte mir bedeutungsvoll zu: „Jetzt geht’s los,“ und er hatte Recht.

Wir hatten uns in ein dichtes Gebüsch gekauert, ungesehen von allen Seiten, ich und William noch immer im Unklaren, was unser Führer beabsichtigte. Jetzt beugte er sich zu uns und sagte, auf den Plymet deutend, mit gedämpfter Stimme, sodaß das Rauschen des Flusses dieselbe fast übertönte:

„Da droben steckt er, meine Herren, den wir suchen, wie ich nach allen Andeutungen schließen muß. Und wir müssen ihn in seinem Neste aufsuchen.“

„Aber,“ wandte William ein, „ich verstehe noch gar nicht –“

„Ich weiß,“ nickte Mr. Carpe. „Der Bursche hat an der Wand vorn, wo die Telegraphendrähte vorüberlaufen, den, auf welchem Sie correspondiren, durchschnitten, fängt dort mit einem telegraphischen Apparat, den er sich vermuthlich in Narrowsburgh bei seinem früheren Principal gekauft hat, die Depeschen auf, ehe er sie weiter giebt, und hat auf diese Weise auch die erlogenen Depeschen an Ihre Filialen abgeschickt. Ein Helfershelfer, den er genau instruirt, hat das Geld abgeholt, und etwaige Bedenken hat er an Stelle Ihres Vaters durch seine telegraphischen Antworten zu beseitigen gewußt.“

Ich guckte überrascht an den steilen Wänden in die Höhe. „Aber wer mag da hinauf kommen?“

Wir hatten den Fels umgangen; an der Seite der Bahn war er glatt und steil; vom Flusse her erschien er gleichfalls nicht zu erklimmen.

„Hm!“ sagte William, als wir mit der Recognoscirung fertig waren, „da kann ja kein Mensch hinauf; das Ding ist ja unbesteiglich.“

„Um so sicherer ist er oben,“ meinte Mr. Carpe ohne weitere Erklärung. –

Wir machten endlich einer Stelle gegenüber Halt, welche die einzige, allerdings zweifelhafte Möglichkeit einer Ersteigung bot, da sonst die Wände glatt und schroff in die Höhe stiegen. Es war ein schmaler, flacher Riß, der sich in zweifacher Mannshöhe über dem Fluß etwas verbreiterte und von da aus ein leichteres Erklimmen ermöglichte.

„Da müssen wir hinauf,“ meinte der Agent, mit dem Finger auf die Spalte deutend, „sonst giebt es keinen Weg.“

„Wenn aber der Bursche oben ist und uns überrumpelt?“ meinte William.

„Das wird er bleiben lassen,“ versetzte Mr. Carpe; „das hieße sich selbst verrathen, und dann könnten wir einfach das Ding von einigen Dutzend Leuten umstellen lassen und ihn aushungern. Hinauf läßt er uns – das bezweifle ich nicht; freilich gilt es dann, ihn auch geschickt zu fassen. Denn wenn wir oben in eine Falle gerathen, entkommt keiner von uns, das ist ebenso sicher.“

„Schöne Aussicht!“ dachte ich. „Mitten in Amerika, auf einem unzugänglichen Felsen, von einem Strolche niedergeschossen zu werden und sich von Sonne, Mond und Sternen bescheinen lassen zu müssen, ohne daß sie daheim auch nur ahnen, wo man eigentlich geblieben!“

Allein zu Reflexionen war hier keine Zeit; ich wäre auch um keinen Preis der Welt zurückgeblieben.

Der über Felstrümmer hüpfende Fluß war bald durchwatet, und wir standen, bis über die Kniee im Wasser, vor der bezeichneten Spalte. Der Agent, als der Leichteste, wurde vorn weg geschoben; ihm folgte, von mir mit Händen und Schultern unterstützt, William, und zuletzt kletterte ich mühsam und schwerfällig nach, hier erst einsehend, wie gut es gewesen, daß ich als Knabe in meiner bergigen Heimath bei der mit eigensinniger Beharrlichkeit wiederholten Besteigung gerade der steilsten Felsen manches Paar Hosen zerrissen. Mehrmals kam mir der nicht kraftlose, aber ungeübte William, dem bald die Finger zu bluten begannen, so nahe auf den Hals gerutscht, daß ich nicht anders glaubte, als jetzt ginge es wieder hinab in die kühlen Fluthen des Susquehanna, der, da ich noch Indianergeschichten las, stets etwas sehr Anziehendes für mich gehabt. Endlich hatte der katzenartig gewandte Agent das Plateau erreicht und streckte eben den Kopf über den Rand des Felsens, als er ihn auch blitzschnell wieder zurückzog. Im nächsten Augenblick hatte er den Revolver aus der Tasche gezogen und hielt denselben vorsichtig lugend empor. Es war eine hübsche Situation. Ich klebte im oberen Rande des engsten Theiles der Felsenspalte, unfähig, die Hand nach meiner Waffe auszustrecken; in dem breiteren Theile suchte eben William ein wenig zu verschnaufen, und oben hing, jeden Augenblick in Gefahr, herabgeschleudert zu werden, der Detective. Einige bange Minuten vergingen – es blieb Alles ruhig. Da hob der Agent seine Mütze mit dem Lauf seines Revolvers über den Rand des Felsens; nichts regte sich; er schob vorsichtig den Kopf nach; dann hob er den Leib und die Füße – jetzt lag er oben. William, dem jener einen mitgenommenen Zügel zuwarf, half sich gleichfalls hinauf, und nach einigen Minuten standen wir alle drei tiefaufathmend hinter einem Felsblock.

„Ich habe ihn gesehen,“ flüsterte Mr. Carpe, „drüben nach der anderen Seite zu. Er wandte sich gerade um, doch scheint es, er hat mich nicht bemerkt.“

Es war auf dem zerklüfteten, felsigen, von einzelnen Bäumen bewachsenen Boden schlecht vorwärts zu kommen, und einige Revolverschüsse hätten, wenn wir gerade in einer Schlucht weiter [133] krochen, genügt, um uns für ewig von der Erde verschwinden zu lassen.

Wir hatten die Richtung nach der von der Bahn begrenzten Felswand eingeschlagen. Nach etwa einer Viertelstunde vorsichtigen Kriechens hatten wir sie erreicht. Ein Blick von hier aus nächster Nähe auf den Telegraphen überzeugte uns: der Agent hatte Recht gehabt. Einer der Drähte war durchschnitten und durch einen offenbar die Electricität nicht leitenden Körper verbunden, an den beiden Enden aber waren zwei Leitungsdrähte befestigt, welche, in einen Erdriß gelegt, von unten aus für ein unbewaffnetes Auge gar nicht bemerkbar waren. Es war klar: der Betrüger hatte jede Depesche aufgefangen und dann weiter befördert, dabei aber auch vermocht, selbst solche aufzugeben, beziehentlich jede andere aufzuhalten oder nach seinem Belieben zu ändern.

Jetzt galt es das gefährlichste Stück Arbeit, uns dem Orte zu nähern, wo der Betrüger seine Maschinen aufgestellt hatte. Das war sicher: trafen wir ihn bei der Arbeit, so war ein Kampf auf Leben und Tod unvermeidlich. Die Drähte bildeten unsere Führer. Nach einigen Dutzend Schritten führten dieselben über eine emporragende Felsenkante und von da offenbar nach einem tiefer gelegenen Ort. Mr. Carpe hob den Finger. Jetzt hatten wir den Felsen erreicht; ein Zeichen – und mit einem Satz standen wir alle drei oben und blickten in eine höhlenartige Vertiefung, in welcher ein Mann in voller Aufmerksamkeit vor einem telegraphischen Apparate saß. Das Geräusch, welches wir machten, ließ ihn aufsehen. Ein wilder, erschrockener Blick traf uns; er fuhr auf und griff nach der Seite. Ein Schuß – und im nächsten Augenblick war er verschwunden. Ich fühlte im rechten Unterarm einen stechenden Schmerz, der mir freilich in der Aufregung des Augenblickes nicht auffiel, sich später aber als von der Wunde einer Revolverkugel herrührend erwies.

Mit dem Sprunge eines Tigers war der Detective an der Maschine, die sich im vollen Gang befand; ein Blick – und er sah beruhigt empor.

„Decken Sie den Ausgang, meine Herren!“ rief er uns eilig zu, „der Bursche darf nicht entkommen,“ und damit bog er sich wieder zu dem Telegraphenapparat nieder, um die gerade durchgehende Depesche zu lesen, während wir nach dem ersten Augenblick der Ueberraschung schnell entschlossen den Felsen über der Höhle erklommen, um nach dem Flüchtling zu schauen. Da bemerkten wir, daß die Vertiefung, in welcher der Apparat stand, nach hinten einen Ausgang habe. Durch diesen war der Mann verschwunden.

Wir eilten, den gespannten Revolver in der Hand, in verschiedenen Richtungen an den Rand des Felsens und spähten hinab; der Flüchtling konnte noch nicht entronnen sein. Er war nirgends zu sehen. Rathlos blickten wir einander an. Da kam – es waren nur wenige Minuten vergangen – Mr. Carpe uns nach, mit dem zufriedensten Lächeln auf seinen Zügen.

Wie er uns später mittheilte, hatte er gerade eine Depesche aufgefangen, die der Complice des Gesuchten an diesen richtete. Auf diese Weise konnte der des Telegraphirens kundige Polizeimann diesem eine unverfängliche Anweisung an das Bankgeschäft in Elmira zur Erhebung einer weiteren Summe ertheilen, wohl wissend, daß derselbe bei dieser Gelegenheit in festen Gewahrsam genommen wurde.

Jetzt galt es, den Entflohenen zu suchen. Daß er noch nicht von dem Felsen war, lag außer allem Zweifel; so mußten wir jeden Augenblick gewärtigen, von ihm, der nun gewarnt war, im Rücken angefallen zu werden. Der Scharfblick des Agenten half uns aber über alle Schwierigkeiten hinweg. Mit der Spürkraft eines Indianers verfolgte er die von dem Fliehenden in der Eile hinterlassenen Spuren an niedergetretenen Grashalmen, zerbröckelten Erdstückchen oder verbogenen Zweigen, und so gelangten wir an eine steile Platte, welche, über den Fluß vorspringend, von einem Baume gekrönt wurde.

Der Detective hatte sich mit außerordentlicher Vorsicht dem Baume genähert und mit den Augen an dessen Wurzeln geforscht, plötzlich sprang er auf und schoß mit der Schnelligkeit eines Hirsches an uns vorüber. Einen Augenblick standen wir starr, unfähig uns solches Gebahren zu erklären, im nächsten Moment aber sahen wir eine Strickleiter über den Rand des Felsens emporschnellen. Der Agent blieb stehen. Er hatte den die Leiter haltenden Drahtzug am Fuß des Baumstammes entdeckt und war, diesen fassend, zurückgelaufen, indem er durch die Schnelligkeit der Bewegung dem Ueberraschten keine Zeit ließ, die Leiter fest zu halten. Ein wilder Schrei ertönte zugleich von der unteren Seite des Felsens. Mr. Carpe warf die Leiter mit dem daran hängenden Drahte zu Boden und trat an den Rand der Felsenwand. „Du bist gefangen, Bursche; willst Du Dich ergeben?“

Ein gräulicher Fluch war die Antwort auf diese Frage.

„Fluche immer zu, mein Bursche! Das macht Appetit. Hast Du noch viel Brod und Wein in Deinem Keller?“

Drunten an der Felswand war es still.

„Hast Du Lust, Dich zu ergeben, oder sollen wir Dich aushungern?“

Ein neues Fluchen ertönte.

„Wirf Deine Waffen hinab!“ befahl der Polizeimann mit scharfer Stimme.

Alles still.

„Wirst Du gehorchen, Bursche? Ich mache Dich mürbe, so wahr ich Carpe heiße.“

Die Stimme des Agenten klang drohend, fast grausam.

Wir hatten uns auf den Boden geworfen und blickten, durch die Felsen gedeckt, nach dem Orte hin, wo der Mensch verborgen sein mußte. Ein Revolver wurde weit hinaus geschleudert und versank im Fluß.

„Den anderen auch, Bursche! Mit einem bist Du nicht zufrieden gewesen.“

Es folgte eine kurze Pause, dann flog ein zweiter Revolver dem ersten nach.

Mr. Carpe holte die Leiter und schlang das dicke Ende des Drahtes um den Baum.

„Nun komm’ herauf, aber schnell und ohne zu mucksen! Vorwärts!“

Die Leiter war hinabgesunken. Mr. Carpe bat uns, den mehrmals um den Baum geschlungenen Draht zu halten, und stellte sich seitwärts. Der Draht wurde straff. Langsam kam ein Mensch die Leiter herauf. William wendete sich mit Abscheu ab: es war der frühere Beamte seines Vaters.

Jetzt hatte der Mann die halbe Höhe des Leibes über den Felsen, da trat Mr. Carpe vor. „Warte ein wenig, Bursche! Ich will Dir helfen.“

Ein Blick hatte ihn gelehrt, daß der Mann ohne Waffen sei, aber er wollte sich seiner versichern. Im Nu hatte er ihm eine Schlinge über die Arme und um den Leib geworfen, und ehe der übrigens zum Widerstande nicht geneigte Mann es sich versah, ihn mit riesiger Kraft über den Rand des Felsens gehoben und seine beiden Hände gefesselt.

„So, mein Bursche, und nun sage uns auch gleich: „Wo hast Du das Geld?“

Der Gefangene sah seinen Ueberwinder fragend an.

„Keine Flausen!“ sagte dieser hart und hob die Linke in abwehrender Bewegung; „wo ist das Geld?“

Der Gefangene senkte das Haupt. „Da unten liegt es,“ sagte er mit erbitterter Resignation und deutete nach der eben überstiegenen Felsenwand.

Mr. Carpe nickte. „So komm!“ sagte er kurz, zog den Ueberwundenen bis an den nächsten Baum, wo er ihn gründlich fest band, und dann kam er zurück, um selbst die Strickleiter hinab zu steigen. Nach etlichen Minuten erschien er wieder.

„Ein famoses Nest!“ sagte er sarkastisch, „wo wir den Vogel sammt seiner Beute nie aufgefunden hätten, wenn der Bursche bei all seiner Verschmitztheit nicht eben doch noch recht dumm gewesen wäre. – Sehen Sie sich’s einmal an!“

William stieg hinab und kam bald wieder herauf; ich selbst bemerkte jetzt erst, da ich die Leiter hinunter wollte, das aus dem Aermel rinnende Blut. Gleichwohl betrachtete ich mir die Höhle, die so meisterhaft von der Natur angelegt war, daß man sie weder von unten, noch von oben bemerken konnte und der Gefangene sie nur durch einen Zufall oder durch brütende Vögel konnte entdeckt haben. Mr. Carpe hatte in derselben das betrügerisch erhobene Geld gefunden, mit Ausnahme einiger hundert Dollars, die der Bursche mit seinen Complicen getheilt oder verjubelt haben mochte.

„Höre, Bursche,“ sagte Mr. Carpe auf dem Heimweg zu dem Gefangenen, „Du bist bei all Deiner Schlechtigkeit doch noch [134] ein grüner Junge, weil Du das Geld in Deinem Felsennest da oben aufgehoben hast. Wahrscheinlich hast Du Deinen Kumpan darum prellen wollen und hast es deshalb so sorglich aufgehoben.“

In der That, hätte es der Betrüger an einer Bank deponirt gehabt, es hätte ihm kein Mensch nachweisen können, daß es ergaunertes Geld gewesen wäre.

Nach vierzehn Tagen schwamm ich wieder über den Atlantischen Ocean zurück nach der deutschen Heimath, mit der unvergänglichen Narbe im Arm als Andenken an jenes eben nur jenseit des Oceans mögliche Abenteuer, und etliche Wochen später erhielt ich von William einen Brief, in welchen er mir meldete, daß der Mann zu fünf Monaten – Mr. Burting hatte ja sein Geld wieder bekommen –, sein Gefährte zu zwei Monaten „wegen Theilnahme am Betrug“ verurtheilt worden.

  1. Vorlage: unddie