Ein Festtag des Colosseums
[504] Ein Festtag des Colosseums. (Mit Abbildung S. 500 und 501.) Wenn es ein würdiger Vorwurf für die bildende Kunst ist, den Menschen in einem Augenblicke höchster Erregung des Leibes und der Seele darzustellen, so hat der Münchener Meister A. Wagner in seinem Bilde einer Scene im Circus wohl den Gegenstand gefunden, welcher in der bezeichneten Richtung das Mögliche bietet. Hier das Ringen von Roß und Mann um das Leben, dort das sichere Beschauen der Zerfleischung von Mensch und Thier – wer sucht noch schärfere, noch empörendere Contraste? Fesselt unsere Theilnahme zunächst die Kampfgruppe im Vordergrunde um den Stier und im Hintergrunde die um den herandrängenden Elephanten, so bleibt unser Auge doch schließlich auf der Zuschauergruppe haften, die wir aus dem Pulvinar, der Prachtloge des Staatsoberhauptes und seiner Familie und Umgebung, versammelt sehen. Dort hat der Künstler sich offenbar die kühnste Aufgabe gestellt: im Antlitz schöner Frauen die Wirkung wiederzugeben, welche in demselben der Anblick eines so blutigen Schauspiels hervorbringt. Hier schreibt die Farbe ein Capitel römischer Geschichte, zu welchem ein Juvenal, der zürnende Dichter, die Unterschrift geliefert hat: „Panem et Circenses! – Brod und Spiele!“. Denn so weit war das römische Volk durch die Eroberung und Ausbeutung des größten Theils der damals bekannten Erde herabgekommen, daß es, im Ueberfluß arbeitsscheu und in der Genußsucht unfrei geworden, wie Juvenal so bitter klagt, bei seinen Machthabern nur noch um „Brod und Spiele“ bettelte. Und prüfen wir nun den Eindruck der blutigen Scenen auf die schönen Frauen, die Mitträgerinnen der höchsten Macht und Bildung des Staates jener Zeit, so finden wir so wenig Tröstliches, daß wir Juvenal’s Klage zu deutsch in das Urtheil übersetzen können, welches die Geschichte über jene Zeit und jene Feste gesprochen hat: Im Circus ging Rom zu Grunde.
A. Wagner’s Bild ist als Kunstwerk so berühmt und vielbesprochen, daß wir über den künstlerischen Werth desselben schweigen und dafür die hohe Bedeutung desselben als eine Lehre der Geschichte hervorheben konnten. Auch die Völker der Gegenwart dürfen auf die Lehre hören. Im Jagen nur nach „Panis et Circenses“, in dem faulen Genügen an der Befriedigung der rohesten Bedürfnisse hat allezeit das größte Hinderniß nationalen Aufschwungs bestanden. Möchten wir auf unserer Hut sein und möchte unser Volk immer tiefer hinab sich am Ringen nach jenen großen geistigen Zielen betheiligen, die unsrer Nation gesteckt sind; dann, und nur dann wird jenes Verlangen bei uns auch nie zum lechzenden Rufe einer fieberkranken Nation werden, welche dem Verderben geweiht ist.