Ein Fremdling unter Deutschlands Strömen
Um alle großen Ströme Deutschlands hat Lied und Sage des deutschen Volkes den Schimmer der Romantik gebreitet, nur nicht um den größten Strom des Ostseegebiets, die Weichsel. Nehmen wir Schenkendorf’s schönes Lied von der Marienburg aus, so haben wir unter unsern nationalen Dichtungen kaum eine, deren Boden das Weichselgebiet ist, und die reiche und ruhmvolle Geschichte der deutschen Colonisation in den Landstrichen an der Weichsel hat weder die Dichter anzuregen noch den sagenspinnenden Volksgeist zu fesseln vermocht! Liegt das wohl daran, daß an den Ufern dieses Stromes ein Geschlecht seßhaft geworden, das zwar stark, zähe und arbeitsam, aber auch kühlen und vorwiegend praktischen Sinnes ist, das nichts gemein hat mit den leichtlebigen, phantasiebegabten Söhnen des Rheinlandes? Oder liegt es daran, daß der Strom trotz der Jahrhunderte alten glorreichen Geschichte der Städte an seinem untern Laufe – Thorn, Culm, Marienburg und Danzig – im Wesentlichen ein slavischer Fluß ist? Denn das ist er in der That nach Ursprung und größtentheils auch Verlauf wie nach der Physiognomie des Verkehrs auf seinem Rücken, ja, wenn man will, auch der Eigenart seines Wesens nach.
Wie im slavischen Volkscharakter die schneidendsten Gegensätze neben einander schlummern, die heitere Lebenslust und die glühende Leidenschaft, so trägt auch die Weichsel ein verschiedenes Gesicht je nach der Stimmung des Augenblicks. Heute fließt sie dahin in sonnigem Glanze, und ihr Schimmer belebt die einfache, melancholische Landschaft, die in ihrer schwermüthigen Stimmung einen eigenen, auswärts noch lange nicht genug gewürdigten Reiz ausübt; freundlich spiegelt sich in ihr der Abendhimmel, dessen Wolkenbildungen gerade in dieser Gegend selten schöne Schauspiele darbieten. Morgen aber rast sie dahin in unwiderstehlicher Leidenschaft, zerstört die aufgerichteten Deiche und vernichtet meilenweit die Früchte menschlichen Fleißes. Hier dient die alte hochberühmte Wasserstraße, welche seit Jahrhunderten den Verkehr Polens mit der Ostsee vermittelte und auch heute noch trotz der Concurrenz der Eisenbahnen für die Ausfuhr von Getreide und Holz aus Rußland höchst wichtig ist, willig der Schifffahrt; dort führt sie den Schiffer tückisch auf eine der vielen Untiefen, die der von ihr mitgeführte Sand bildet. Hier bringt sie dem Niederungsbewohner erwünschten Zuwachs zu seinem Besitzthum, indem sie durch Anschwemmungen die zahlreichen „Kämpen“ oder angeschwemmten Inseln vergrößert, die mit ihren Weidenpflanzungen, über denen ab und zu die Möve herschießt, der Weichsellandschaft ein so charakteristisches Gepräge geben. Dort spült sie unerbittlich alljährlich große Strecken ab und entführt dem Landmann sein Eigenthum.
Zu einer Jahreszeit ganz besonders trägt die Weichsel den Typus des Landes, dem sie entstammt. Das ist im Spät-Frühling und Sommer, wenn die Holzflöße, Traften genannt, aus Galizien und dem obern Polen mit ihrer Bemannung herniederschwimmen nach den Weichselstädten. Eine fremde Welt ist’s, die Grenzscheide zweier Culturen, deren Vertreter in diesen Flößern, „Flissaken“ geheißen, zu den deutschen Ufern des Stromes herabkommen. So verschiedenartig wie das Gemisch der Stämme in jenen Gegenden, ist auch ihre Tracht; begnügt sich der Eine mit dem leinenen Beinkleid und dem darüber getragenen Hemd oder weißen Mantel, so trägt der Andere einen ausrangirten österreichischen Militärmantel, und der Dritte – in glühender Sonnenhitze! – den weißen, mit dem Gürtel zusammengehaltenen Schafpelz und die viereckige Mütze.
Ein Zug aber ist Allen gemeinsam: derjenige beglückender Genügsamkeit bei der größten Armuth. Wenn sie nur ein Stück Brod, einen Häring, möglichst viel Schnaps und etwas Hoffmanns-Tropfen haben, sind sie vollständig zufrieden mit ihrem Geschick, und wenn sie vielleicht gar noch eine Fiedel, eine Ziehharmonika ihr eigen nennen, so haben sie die höchste Glückseligkeit erreicht, die auf Erden denkbar ist. Denn die Liebe zur Musik ist, wie fast allen slavischen Stämmen, auch diesen Flissaken angeboren. Wer von ihnen es nur einigermaßen erschwingen kann, der nimmt sicher eine Geige von daheim mit, wenn der Holzhändler ihn zur Reise nach Danzig miethet; hat er’s nicht gekonnt, so kauft er bestimmt in der ersten preußischen Stadt, wo Halt gemacht wird, irgend ein musikalisches Instrument, auf welchem der Natursohn seine Kunst versucht. Eigenthümliche Klänge, meist ohne Rhythmus und Tact und doch nicht unharmonisch, entlockt er seinem Instrument; begeistert lauschen die Genossen, wenn sie, sich sonnend, um ihn herumlagern auf den Plätzen der Stadt; in langem Zuge folgen sie dem vorauschreitenden Spieler durch die Straßen hin zu dem schmalen, flachen Kahn, der dem Canoe gleicht und wegen der Gefahr des Umschlagens „Seelenverkäufer“ genannt wird. Nur wenige Mann, theils stehend, theils am Boden liegend, können in solchem Canoe zur Traft fahren. Und wenn der Abend gekommen und im Strome die Feuer sich spiegeln, an welchen der Flissak auf der Traft sein frugales Abendbrod sich kocht, wenn dem Uferbewohner der ganze Strom besäet erscheint mit diesen Lichtern und ihren Reflexen im Wasser – dann dringt zum Ufer der klagende Ton der Geigen herüber durch die laue Abendluft; der Flissak, der arme, unwissende, in Schnaps verkommene Sohn des Ostens, hat nach seiner Art seine Weihestunde und strömt das, was er dunkel ahnt und was ihm doch nie zum Bewußtsein kommen kann, in seinen Phantasien aus.
Wie grundverschieden aber von dieser Idylle ist der Eindruck, den die Weichsel im Frühjahr macht, wenn das wachsende Wasser die Eisdecke hebt und der Strom, in seinem Laufe beschleunigt, die großen, oft zwölf Fuß starken Eisschollen dem Meere zutreibt! Wohl ist es wahr, auch andere Ströme Deutschlands zeigen sich zuweilen in dämonischer Gestalt, aber der Weichsel ist in dieser Hinsicht keiner vergleichbar. Denn die Gefährlichkeit des Hochwassers, das Verheerende seiner Wirkung wird bei der Weichsel verdoppelt durch das Eis, das bei den anderen selten in Betracht kommt. Wo das Hochwasser allein keine Katastrophe [272] herbeiführen könnte, da verstärkt das Eis die Gewalt der Strömung oder, was noch schlimmer ist, da bildet es durch Ansammlungen großer Massen von Schollen einen Damm gegen das Wasser, der sich mächtig dem Strom entgegenwirft und ihn zurücktreibt, daß er, sich anstauend, heraustritt über die Deiche, welche ihn in seine Grenzen bannen sollten, und nun seine Fluthen und die von oben her nachdrängenden Eismassen über die unter dem Niveau des Strombetts liegenden Ebenen des Flußthals ergießt. In diesen Ansammlungen der Eismassen, den sogenannten Stopfungen, liegt die große Gefahr eines Eisgangs, und diese Stopfungen kommen eben bei der Weichsel viel häufiger vor als bei irgend einem anderen Strome Deutschlands.
Die Hauptursache davon ist die eigentümliche Gestaltung des unteren Weichsellaufes. Sechs Meilen oberhalb der Weichselmündung, an der Montauer Spitze, spaltet sich der Strom in die eigentliche Weichsel und die Nogat. Letztere theilt sich eine Meile vor ihrem Ausflusse zunächst in zwei Arme und fließt dann, fortgesetzt sich in kleinere Arme spaltend, durch nicht weniger als 27 Rinnen in das Haff.
Die eigentliche Weichsel theilt sich drei Meilen oberhalb ihrer Mündung, am sogenannten Danziger Haupt, wieder in die Danziger und die Elbinger Weichsel, welche nun in gerade entgegengesetzter Richtung, die eine west-, die andere ostwärts, der See zulaufen. Die Danziger Weichsel bewirkte 1840 einen Durchbruch der Dämme bei Neufähr, wodurch der weitere Stromlauf ein todter Arm wurde; die Elbinger Weichsel theilt sich 1 ½ Meilen oberhalb der Mündung in 17 Arme, in denen sie sich in das Haff ergießt. Diese seltsame Zerklüftung hat schon seit Jahrhunderten den Anlaß zu heftigen Kämpfen gegeben; Danzig sowohl wie Elbing suchten das Wasser der ungetheilten Weichsel für sich zu erlangen, und die Kämpfe um die Montauer Spitze bilden ein gar lehrreiches, hier nur leider zu weit abführendes Capitel von den Nachtheilen engherziger Bestrebungen, die nur das nächstliegende Interesse verfolgen und dabei das Wohl des Ganzen außer Acht lassen. Der Kampf ist jetzt dahin entschieden, daß man durch die sogenannte Coupirung der Nogat versucht hat, die Wassermenge, die durch die Nogat, und diejenige, welche durch die Weichsel abzufließen hat, in ein bestimmtes Verhältniß zu bringen und den Eisgang ausschließlich der Danziger Weichsel zuzuwerfen. Aber die Natur machte die Berechnungen der Techniker zu Schanden; der Eisgang der ungetheilten Weichsel hat sich wiederholt in die Nogat geworfen, welche ebenso wenig wie die Elbinger Weichsel im Stande ist, diese großen Eismassen aufzunehmen, und so entsteht denn für die Nogat-Niederung mit jedem Eisgang die Gefahr, daß die Eismassen aus der Nogat in die Niederung dringen – eine Gefahr, welche die entsetzlichste Gestalt 1855 annahm, als die Dörfer Groß- und Klein-Montau und Klossowo beinahe gänzlich von der Erde vertilgt wurden. Die anderweite Regulirung des Stromes ist schon lange geplant, eine bestimmte Entscheidung ist aber bei den verschiedenen sich widerstreitenden Interessen noch nicht getroffen worden. Durch Pulversprengungen, welche auf weite Strecken eine Rinne in der Weichsel bildeten, hat man in den letzten Jahren den Abzug des Eises durch die Weichsel sichern und das Eis von der Nogat fernhalten müssen.
Außer diesen für den unteren Lauf der Weichsel geltenden besonderen Verhältnissen aber liegt der gefährliche Charakter der Weichsel auch in der geographische Lage im Allgemeinen. Auf ihrem 144 Meilen langen Laufe von Süden nach Norden berührt die Weichsel Länder von sehr verschiedenem Klima. Wenn im Norden die Eisdecke der Weichsel noch fest gefroren liegt, ist oft in Polens Ebenen plötzlich mit aller Macht der Frühling in’s Land gekommen und hat der Weichsel neue Wassermassen gebracht, die Eisdecke zerbrochen und dem Norden zugesandt. In schnellem Strom schwimmen die Eisschollen, sich drängend und in einander schiebend, herab; auf Meilen weit haben sie die Eisdecke vor sich her aufgebrochen – da plötzlich wird ihre Macht aufgehalten; das Grundeis hat eine Stopfung gebildet, oder die starke Eisdecke des Nordens leistet noch Widerstand. Nun thürmen sich die Schollen zu gewaltigen Eisbergen auf einander; das Rauschen des [273] Wassers wird übertönt von dem Geräusch der Eismassen, die an einander stoßen, sich aufrichten zusammensinken, an einander sich reiben, sich fester und fester verpacken. Wie im Kaleidoskop wechselt das Bild, das sich dem Auge darbietet, in jeder Minute: hier steigt ein Eisberg empor, dort bricht eine senkrecht in Hauses Höhe emporgerichtete Scholle; jede neu ankommende Scholle kämpft mit der festliegenden um ihren Platz. Immer stärker wird der Eiswall, der dem Strome Einhalt gebietet; langsamer fließt das Wasser heran, bis es ganz zum Stehen kommt. Mit jeder Stunde steigt der Strom, der in normalen Zeiten etwa 3000 Fuß breit ist, bei Hochwasser aber natürlich eine viel größere Breite hat; in wenigen Stunden ist das Wasser um mehrere Fuß gewachsen.
In solcher Lage sind nur zwei Fälle möglich: entweder es gelingt dem Drucke des fortwährend steigenden Wassers, die Eisstopfung zu lösen und das Eis zum Weichen zu bewegen – dann nimmt der Eisgang seinen normalen weiteren Verlauf und die Gefahr ist beseitigt – oder die von oben herab kommenden Eis- und Wassermassen, denen die Stopfung den Weg verlegt, suchen sich einen Weg durch den Uferdamm – und dann ist das Besitzthum der Niederungsbewohner schutzlos dem wüthenden Elemente preisgegeben; der Strom hat seine Fesseln gebrochen und rächt sich für den ihm angethanen Zwang, indem er Meilen weit das von fleißiger Menschenhand bestellte Land verheert. Wohl ist der Niederunger nicht müßig gewesen; er kennt ja die Tücke des Stromes, der ihn bedroht, und sobald aus Warschau die Nachricht von dem Beginn des Eisganges eintrifft, eilt er seine Vorkehrungen zu treffen. Mit Spannung wird jeder Depesche entgegengesehen, welche das deutsche Generalconsulat in Warschau nach Thorn sendet und welche von dort aus nach allen Weichselstädten weiter telegraphirt wird; gilt es ja, aus den Wasserstandsnachrichten die Gefahr zu bemessen, welche droht. Schon haben die Eiswachen die Dämme bezogen, mit Pfählen, Strauchwerk, Dünger, Erde bemühen sie sich, die gefährdeten Stellen zu schützen und dem Durchdringen des Wassers durch den Damm vorzubeugen. Ueberall auf der ganzen Uferlinie herrscht Leben, Thätigkeit, Bewegung. Daheim wird das Vieh in Sicherheit gebracht, in weniger gefährdete Gehöfte oder auf die Heuschuppen; die ganze bewegliche Habe des Besitzers bringt man nach dem Boden des Hauses, und die Familie richtet sich dort oder in den höher gelegenen Kirchen, Schulen oder Gehöften häuslich ein, so gut es geht. Aber damit sind auch die Sicherheitsmaßregeln des Niederungers erschöpft; das Weitere muß er dem Elemente überlassen, dessen Walten er mit Bangen entgegensieht.
Das ist der Eisgang auf der Weichsel, wie er sich alljährlich, bald mehr, bald minder gefährlich abspielt, mit schlimmerem Ausgang als in diesem Frühjahr seit langer Zeit nicht. Das Eis war im Winter bei viel höherem Wasserstande als sonst zum Stehen gekommen; die verhältnißmäßig milde Witterung hatte die Eisschollen aufgeweicht und dadurch geeigneter gemacht an einander zu kleben und Stopfungen zu bilden. Wie verhängnißvoll diese Stopfungen zu werden vermögen, sollte sich bald zeigen.
In der Nacht zum 18. Februar begann bei Thorn der Eisgang. Eine Stopfung, welche sich unterhalb Thorns gebildet hatte, brachte das Eis bald wieder zum Stehen. Am 18. Februar Mittags setzte es sich in der vollen Breite des Stromes abermals in Bewegung, und nun nahm das Drama schnellen Fortgang. Ueberall, an den verschiedensten Stellen, waren Stopfungen eingetreten und führten Katastrophen herbei. Schon am Nachmittag brach der Damm der Thorner Niederung bei Schmolln; unaufhaltsam drang das Wasser in die Oeffnung und überschwemmte die rechts der Weichsel gelegene Niederung; weitere Dammbrüche bei Pensau und Czarnowo folgten; die häufigen Stopfungen unterhalb hinderten den Abfluß der Wassermengen, und der Morgen des 19. Februar beleuchtete eine einzige große Wasserfläche. Das Werner’sche Haus in Schmolln war von den Fluthen weggespült worden; bei Thorn war die hölzerne Brücke über einen Weichselarm fortgerissen, das Zollhaus mit dem Krahne am Weichselufer von den Eismassen zusammengedrückt; zwei Häuser in der Fischerei-Vorstadt waren [274] arg zerstört worden; zwei andere Häuser am Weichselufer, das Otto’sche und das Reimann’sche Schankhaus, lagen da wie in’s Eis verpackt.
Abgeschlossen von aller Welt, mitten im Wasser und Eise, durchlebten die Bewohner der Ruine Dybow, Thorn gegenüber, und die Schiffer, welche mit ihren Kähnen unter den Bäumen der Bazarinsel Zuflucht gesucht hatten, entsetzliche Stunden. Wohl hatte der Eisgang im Hauptstrome, in Folge der Stopfungen unterhalb, schon am Abend wieder aufgehört, aber mit um so stärkerer Macht nahm das Eis seinen Weg durch den linken Nebenarm der Weichsel nach der linksseitigen durch Dämme nicht geschützten Niederung. Vom Kaszczoreker Sand bis hinüber nach Rudak, von den Festungswerken, die sich bei Thorn an der rechten Seite des Stroms erheben, bis zu dem Damme der Posen-Thorner Eisenbahn, den das Wasser schon zu unterspülen begann – Alles nur eine einzige Wüste von Wasser und Eis. Hier die Eisschollen, in barocken Gestaltungen an einander geschoben und auf einander gethürmt, ruhig liegend, aber jeden Augenblick bereit, bei eintretender Strömung dahin zu gleiten mit furchtbarer Gewalt; dort Wasser und Eis in rasendem Laufe vorüber eilend und Tod und Verderben bringend.
Ebenso traurig sah es in den Niederungsdörfern aus, in Gurske, Schmolln, Pensau und Czarnowo. Nicht allen Bewohnern war es gelungen, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen; vierundzwanzig entsetzliche Stunden verlebten einzelne auf den mitten im Wasser stehenden Häusern, ehe es den Nachbarn gelang, mit Kähnen heranzukommen und sie an’s Land zu bringen. Und zu aller dieser Sorge des Augenblicks noch die bange Frage: was wird die nächste Zukunft bringen? Werden sich die Eisstopfungen unterhalb langsam lösen, wird das Eis von oberhalb auch nicht mit Macht nachdrängen und dann vollends zerstören, was das Wasser verschonte?
Die Bewohner des linken Weichselufers befanden sich in keiner besseren Lage. Die Ländereien von Nessau, Schulitz, Fordon – alle bieten sie denselben trübseligen Anblick – Wasser und Eis, so weit das Auge reicht, nur hier und da ein Baum, ein Dach aus den Fluthen hervorragend, oder allerhand Mobilien, Spiegel, Schränke, Wiegen und Hausgeräth in den Fluthen schwimmend – und der Mensch machtlos dem verheerenden Elemente gegenüber. Ueberall die nämlichen Eisstopfungen , die das Wasser anstauen und übertreten lassen! Die Ortschaften der Culmer Niederung, Grenz und Roßgarten, sind auf’s Höchste bedroht; ein Militärcommando geht eiligst von Culm ab, an der Erhöhung der Dämme zu arbeiten. Die Fischereivorstadt bei Culm steht unter Wasser. Aus der Schwetz-Neuenburger Niederung und aus Schwetz selbst kommen herzzerreißende Nachrichten; eine Eisstopfung, die von der Graudenzer Brücke bis nach Deutsch-Westfalen reicht, setzt die Niederungsdörfer und die Altstadt Schwetz unter Wasser. 135 Häuser, meist von der Armuth bewohnt, sind in der Altstadt von Schwetz dem Elemente preisgegeben, theils schon zerstört, theils dem Einsturz nahe. Aus den Dächern hervor, unter die sie geflüchtet, bringen die Armen, zitternd vor Aufregung und Kälte, ihre wenigen Habseligkeiten bis in die späten Nachtstunden hinein in Kähnen nach der höher gelegenen Neustadt, wo sie in der Stadtschule, im Kreishaus, in Restaurationen vorläufig Obdach finden und die Mitglieder des Frauenvereins in edlem Wetteifer Hunderten von Nothleidenden Nahrung darbieten. Verzweiflung und Dankesgefühl, Furcht und Hoffnung kämpfen in den Herzen. Von Danzig ist ein Militärcommando nach Deutsch-Westfalen abgegangen, um die Eisstopfungen durch Sprengungen zu beseitigen; wird die Hülfe zeitig genug kommen – oder werden auch die bis jetzt verschonten Häuser und mit ihnen die Habe, die zurückgelassen werden mußte, ein Raub der Wellen werden?
Die Hoffnung hat nicht betrogen. Das Unglück, so groß es ist, hat seine Grenzen erreicht. Die Stopfungen lösen sich, das Wasser verläuft sich. Am Nachmittag des 19. Februar hat das Wasser bei Thorn seinen höchsten Stand erreicht mit 25 Fuß 2 Zoll, den höchsten, welchen die Weichsel in diesem Jahrhundert dort gehabt. Nur die Eisgänge der Jahre 1579, 1584 und 1719 mit respective 28 Fuß, 27 Fuß 4 Zoll und 26 Fuß 1 Zoll hatten höheren Wasserstand. Langsam, sehr langsam beginnt das Wasser zu fallen, aber dieser langsame Verlauf erweist sich als ein Glück für die unteren Weichselgegenden; denn das Hochwasser hat Zeit sich zu vertheilen; das Eis kann sich allmählich lösen; ganz normal vollzieht sich der Eisgang im untern Stromlaufe, wo sonst die Gefahr am größten ist. Mit Ende Februar können die Bewohner der Weichselwerder aufathmen; die Weichsel hat ausgetobt. Auf dem Lande, welches der Strom mit seinen Eismassen überzogen, hat er compacte Eismauern bis zu 15 Fuß Höhe zurückgelassen. Als phantastische Eisgebirge, mit seltsam geformten Kuppen, mit Grotten und Thälern liegen die gefesselten Riesen da; die Kraft, die ihnen Leben gab, ist verschwunden; gestern noch der Schrecken der Männer, sind sie heute der Spielplatz der Knaben, und in wenigen Wochen hat die Frühlingssonne ihnen ein Ende gemacht.
Der Schaden, welchen Eisgang und Ueberschwemmung angerichtet, ist noch nicht zu berechnen. Härter als die Zerstörung der Gebäude trifft die Bewohner der Niederungen der Schaden an den Dämmen, zu deren Wiederherstellung die Deichverbände verpflichtet sind, und die Versandung ihrer Ländereien. Mehrere Fuß hoch hat die Weichsel an vielen Stellen den guten, fetten Niederungsboden mit Sand bedeckt, als wolle sie ihrem Zerstörungswerk, auch nachdem sie in ihr Bett zurückkehren mußte, Dauer verleihen. Aber ein kerniger Schlag Menschen sind diese Colonisten, die seit den Tagen der Ordensritter zu verschiedenen Epochen, namentlich unter Friedrich dem Großen, aus allen Theilen Deutschlands nach den Weichselniederungen sich gezogen haben und seitdem, im Gegensatz zu der gemischten Bevölkerung der „Höhe“, einen rein deutschen Stamm und den Kern der bäuerlichen Bevölkerung in dem vorwiegend vom Großgrundbesitz bewirthschafteten nordöstlichen Deutschland bilden. Sie verzagen nicht; mit frischem Muthe, mit unvergleichlicher Ausdauer und mit der alten Anhänglichkeit an die liebgewordene eigene Scholle gehen sie immer wieder von Neuem daran, die Wunden zu heilen, die ihnen die tückische Weichsel schlug, und wenn sie, wie zu hoffen, von der Staatsregierung dabei unterstützt werden, wird es ihnen auch diesmal gelingen.[1]
- ↑ Von einem Hülfscomité in Schwetz sind Aufrufe zur Hülfe für die von den Fluthen der Weichsel um Hab und Gut gebrachten sehr zahlreichen Bewohner jener Niederungen in der Presse verbreitet worden; auch sie sind, wie die Klagen vom Spessart, vor den verheerenden Wogenstürmen der Theiß verhallt. Der Szegediner Wohlthätigkeitsdrang hatte sein gutes Recht; vielleicht besinnt man sich aber nun auch auf die patriotische Pflicht, die verarmten deutschen Colonisten nicht sich, ihrer Arbeitskraft und der Hülfe des Staats allein zu überlassen sondern jenen deutschen Fleiß so zu unterstützen, daß er seiner Arbeit wieder froh werde.