Ein Geschichtswerk von Karl Biedermann
[894] Ein Geschichtswerk von Karl Biedermann, das einen Abschnitt der neuen oder neuesten Geschichte behandelt, wird immer willkommen geheißen werden, einmal weil der Verfasser durch seine lange parlamentarische Laufbahn oft in der Mitte der Ereignisse stand und mit hervorragenden Persönlichkeiten in nächste Berührung kam; dann aber auch, weil die Darstellungsweise Karl Biedermanns frei von jeder Manier, durchaus verständlich und volksthümlich ist. Diese Vorzüge hatte schon sein Werk „Dreißig Jahre deutscher Geschichte 1840 bis 1870“ und sie finden sich nicht minder in der „Ergänzung nach rückwärts“, die er jetzt demselben hinzugefügt, in der Schrift „1815 bis 1840. Fünfundzwanzig Jahre deutscher Geschichte“, welche in zwei Bänden vorliegt (Breslau, S. Schottländer).
Wir erfahren zunächst aus dem Werke, wie der Wiener Kongreß über das Schicksal der Völker verfügte. Von besonderem Interesse sind die Verhandlungen über die sächsisch-polnische Frage; die Charakterköpfe der hervorragenden Diplomaten sind ungezwungen in die Schilderung der Vorgänge eingefügt; wir sehen, wie aus verschiedenen Entwürfen heraus sich die deutsche Bundesakte gestaltete. Dann wird eine kurze, aber sehr lebendige Schilderung des Krieges von 1815, der Schlachten bei Ligny und Belle-Alliance eingeschoben. Wir wenden uns darauf den inneren Vorgängen in Deutschland zu: der Gründung der Burschenschaft, dem Wartburgfest, der Ermordung Kotzebues durch Sand und der rückläufigen Bewegung, welche dem studentischen Aufschwung folgte und ihm ein jähes Ende bereitete.
Die preußische Kamarilla, welche den Sieg über den widerstrebenden Staatskanzler von Hardenberg davontrug, wird in ihren Hauptvertretern und in ihren eifrigsten Schergen geschildert. Es ist eine Zeit, welche noch heutigen Tags bei unbefangener Darstellung die Leser mit Grauen erfüllen muß; denn die Verfolgung der damaligen Jugend war eine unerhörte, und ein so grausames Strafmaß, welches über die bloße Aeußerung von Gesinnungen Todesstrafe und lebenslängliches Gefängniß verhängte, erinnert an die Zeiten der Cäsaren und der französischen Schreckensherrschaft. Und dabei bestand in Deutschland der tiefste Frieden. Den Höhepunkt erreichte die Reaktion mit den Karlsbader Beschlüssen. Inzwischen waren in den deutschen Mittelstaaten und kleinern Staaten nach langen Kämpfen zwischen den Regierungen und den Ständen Verfassungen eingeführt worden; über die Entwicklung und Gestaltung derselben giebt Biedermanns Schrift willkommene Auskunft.
Der zweite Band beginnt mit einer Darstellung der geistigen und litterarischen Bewegung vor, in und nach dem Befreiungskriege und endet mit einem Abschnitte: „Wandlungen in Poesie und Philosophie“; es ist dies ein Gebiet, auf welchem der Kultur-, und Litterarhistoriker Biedermann vorzugsweise zu Hause ist und das er mit geistvollen Lichtblicken erhellt. Die Darstellung der politischen Vorgänge bringt in vier Kapiteln eine Geschichte des Bundestages bis 1824, schildert dann Deutschland unter den Rückwirkungen der Pariser Julirevolution von 1830, die Einflüsse der belgisch-polnischen Revolution, das Hambacher Fest, den preußisch-deutschen Zollverein, den hannoverschen Staatsstreich, die inneren Zustände des österreichischen Kaiserstaates und die Vorgänge auf kirchlichem Gebiet.
Beide Werke, zusammengefaßt unter dem Titel „Geschichte Deutschlands vom Wiener Kongreß bis zur Aufrichtung des neuen deutschen Kaiserthums“ sind dem Fürsten Bismarck gewidmet.