Ein Häckerlingsschneider als Apostel

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Ludwig Würkert
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Häckerlingsschneider als Apostel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51 u. 52, S. 823–825, 828, 838–840
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[823]
Ein Häckerlingsschneider als Apostel.


Culturbild aus unserem Jahrhundert.


Im Königreiche Sachsen liegt zwischen Leipzig und Dresden die freundliche Stadt Leisnig. Selbstverständlich markire ich die Lage des Ortes nicht für die sächsischen und deutschen, sondern für die Leser der „Gartenlaube“ weit und breit in fernen Landen und jenseits der Meere.

Seit die Leipzig-Dresdener Eisenbahn auch die Stadt Leisnig berührt, wird dieselbe jährlich von Tausenden besucht, die sich hier an der Schönheit der Natur erquicken. Und wenn nun auch an Wochentagen die Wagenzüge nicht allzulang sind – an Sonn- und Festtagen vom Frühlinge bis zum Spätherbste ist das doch anders. Die eiserne Schlange des öffentlichen Verkehrs, welche sich dampfend durch die weite Welt windet, erscheint dann auch hier als eine bedeutend gewachsene, langgestreckte, nicht selten als Riesenschlange.

Alle die Tausende, die sie herbeiträgt, erfreuen sich nun der reizenden Lage der Stadt; sie besuchen Garten und Park des Dr. Mirus, dessen Kunstsinn diese Plätze von Jahr zu Jahr verschönert und dessen Humanität Jedem den Eintritt in dieselben gestattet, ohne erst eine Begrüßung oder Bitte darum zu verlangen. Kaum zweihundert Schritte von diesem Garten und Park thürmt sich das alte Schloß Mildenstein auf; da besteigt man die Höhe des Steinriesen, einer altersgrauen Warte, und hält dort belohnende Umschau. Ganz in der Nähe streckt sich der Schloßberg mit seinen Anlagen und Fernsichten hin; an der Tiefseite des Schloßberges aber zieht sich in aufsteigender Schlucht eine uralte Vorstadt herauf, wahrhaft schweizerartig, da an manchen Stellen Häuser und Häuslein an Felsen geklebt sind und in eigenthümlichem Holzwerk, kleinen Fenstern und bemoosten Schindeldächern Wahrzeichen vergangener Jahrhunderte aufweisen.

Blicken wir nach der andern Seite der Stadt. Da wandern die Sonntagsgäste von der hochgelegenen Straße hinab durch die hübschen, reinlichen Anlagen, unter den Obstbäumen hin, an grünen Ruheplätzen vorbei, in das von der klaren Mulde durchrauschte Thal. Sie nehmen ihren Weg nach dem prächtigen Eichberge oder auch weiter hinauf bis zur Meylust, welche uns durch Axt und Spaten von dem sinnigen Waldfreunde und Oberförster Mey aufgeschlossen wurde. Hier führt der Bergweg zunächst in eine majestätische Vorhalle, aufgebaut aus mehr als hundert schlanken, kerzengeraden, alten Tannen, Prachtbäumen von seltener Höhe. – Aus dieser grünen Tannenhalle, die man mit Recht auch einen lebendigen Säulensaal, einen hochgewölbten freien Dom nennen könnte, geht’s dann zu den übrigen herrlichen Plätzen, geschaffen durch Wald und Fels, gastlich und sauber gemacht durch Menschenhand. Von den meisten dieser Plätze hat man eine erquickende Aussicht. Bald blickt das Auge hinab in das reizende Muldenthal, bald hinüber über das Thal auf die bewaldeten Uferhänge und fruchtbaren Felder, bald wieder hinab auf die langgestreckten, saftgrünen Wiesen des lieblichen Scheergrundes oder auf das einst dunkle und faulenzende, jetzt hell-freundliche und fleißig arbeitende Kloster-Buch.

Mit Ausnahme des zuletzt genannten Punktes sieht man von fast allen Höhen ein Kirchlein, welches drüben über der Mulde und hinter der bewaldeten Uferwandung emporragt. Die meisten von den Besuchern Leisnigs haben das ferne Kirchlein gesehen und des landschaftlichen Bildes sich erfreut; Keiner aber der Fremden wußte und weiß, welch eine grausige That sich dort einst vollzog. Auch Wenige in der Stadt und Umgegend selbst wissen davon, sie müßten denn alt sein, so alt wie ich etwa. Und wenn Manche auch davon wissen, so haben es doch Wenige nur gesehen mit eigenen Augen, wie ich es sah. So will ich denn im Folgenden auf Grund authentischer Actenstücke und aus meinen eigenen Erinnerungen erzählen, zu welchen Ausschreitungen sich zu Anfang dieses Jahrhunderts einige religiöse Fanatiker hinreißen ließen, irregeführt durch die verwirrten Vermahnungen eines Mannes, der sich das Ansehen eines Apostels gab.

[824] Nah an jenem Kirchlein breitet sich der Friedhof aus, und auf ihm hatte man im Jahre 1818, den 21. Juli eine Kanzel erbaut, weil das Kirchlein viel zu klein war, die herbeigeströmten Menschenmassen aufzunehmen. Zahlreiche Gensd’armen, Tags vorher eingerückt, hielten in der Nähe des Friedhofes, einige auf dem Friedhofe selbst. Auch ein geöffnetes Grab gab es auf diesem, und neben dem Grabe stand ein Sarg, und in dem Sarge lag ein Mann mit gespaltenem Haupte, mit abgehauenen Händen und abgehauenen Füßen. Er lag auf dem Rücken, und darum konnte Niemand die Stiche sehen, die durch den Rücken dem Manne in den Leib gegangen waren. Ich aber hatte sie zwei Tage zuvor gesehen, als sein Weib und seine fünf unerzogenen Kinder jammernd den verstümmelten Leichnam umklammerten. Dieses Bild wiederholte sich auch heute an dem Sarge des Unglücklichen.

Und nicht nur sein Weib und seine Kinder weinten. Denn der Mann, der vor uns im Sarge lag, ein armer Häusler aus dem benachbarten Orte Naundorf, galt weit und breit für einen Ehrenmann, für fleißig, bescheiden in seiner Armuth doch ringend, das zu verdienen, was für sein Hüttenleben und die Familie Bedarf war. Dieses Zeugniß gaben ihm nicht nur Alle, die ihn kannten; auch der Pfarrer von Altenhof – so heißt das Dorf, wo das Kirchlein heute noch steht – auch der Pfarrer, der damals die Feldkanzel bestieg und eine lange Leichenpredigt hielt, gab ihm dieses Zeugniß.

Der Pfarrer ließ die sogenannte Leichenpredigt drucken und, was das Beste dabei war, zur Unterstützung der armen Familie verkaufen. Die Predigt liegt, indem ich diese Zeilen schreibe, vor mir, und sie mag wenigstens für den einen oder den anderen Zweifler das feststellen, was ich oben über den verstümmelten Leichnam sagte. Auf der fünften Seite der Predigt heißt es: „Wollte Gott, es wäre blos eine erdichtete Nachricht – doch nein, Menschen, gleich reißenden Thieren, haben nicht nur das Blut eines ihrer unschuldigen Mitbrüder vergossen, sondern ihm auch Hände und Füße abgehauen und seinen Kopf zerspalten.“ – Die Predigt ergeht sich über den Text: 1. Mos. 37. Vers 33. „Ein böses Thier hat Joseph gefressen; ein reißend Thier hat Joseph zerrissen.“ Daraus hätte sich Etwas machen lassen. Der gute Pastor steifte sich aber allzusehr auf „den herrlichen tugendhaften Joseph“, der doch, wie schon Seume sagt, ein richtiger „Kornwucherer“ war, was ja Jeder, der tiefer in jenen antiken Getreidebörseschwindel blickt, bestätigen muß.

Lassen wir das. Die Predigt war zu Ende; der Sarg wurde versenkt; die Nachmittagssonne warf noch ihren Abschiedsgruß auf ihn und den Todten, und Hunderte umdrängten das Grab und grüßten auch noch mit einer Handvoll Erde. –

Auch ich that es und wand mich dann mit Mühe durch die Menschenmenge, welche sich nur langsam zerstreute, obgleich die Gensd’armen wiederholt zum Weggehen mahnten. Vor dem Kirchhofe bildeten sich verschiedene Gruppen, in denen man sich ziemlich ungehalten darüber aussprach, daß heute noch Cavallerie in die umliegenden Dörfer einrücken solle, da die Bauern an der ganzen Sache doch unschuldig wären.

„Räsonnirt nicht!“ rief ein hinzutretender Gensd’arm in solch eine laute Gruppe hinein. „Es wird sich schon zeigen, ob Ihr unschuldig an der Sache seid. Liefert nur erst den Häckerlingsschneider aus, der Euch lange Abende hindurch mit seinen Vorlesungen, Predigten und Offenbarungen die Köpfe verdreht hat! Warum versteckt Ihr den Kerl?“

„Ein Kerl ist er nicht!“ schnatterte laut eine alte Frau, „er in ein ehrlicher Mensch; er schneidet am Tage fleißig sein Stroh, und wenn er am Abende hier und da Gottes Wort predigt, da geht er ganz nach der Bibel, wie der Pastor. Wenn aber der Pastor kein Kerl ist, so ist der Häckerlingsschneider auch kein Kerl.“

Viele lächelten der Rednerin Beifall zu und zwickerten mit den Augen, daß sie fortfahren solle.

Das gefiel der alten Frau, und sie sprach ruhig weiter: „Und das glaubt nur, Herr Gensd’arm, der Häckerlingsschneider macht’s gewiß oft besser, als der Pastor. Das würdet Ihr auch sagen, Herr Gensd’arm, wenn Ihr seine Predigten hörtet. Und Gottes Wort bleibt Gottes Wort, ob’s der Pastor in der Kirche oder der Häckerlingsschneider in der Bauernstube redet. Und noch dazu – der hat kein Pfarrgut, kein Holz, keinen Decem, der ist arm, wie es Jesus war, und wenn der Herr Jesus kein Kerl war, so ist auch der Häckerlingsschneider kein Kerl. Und nun wißt Ihr’s, Herr Gensd’arm.“

Es schien, als fänden diese Worte einen ernsten Nachhall in dem Gemüthe der Umstehenden. Man verhielt sich schweigend, nur eine stille Bewegung ging durch den Haufen der Bauersleute. Der Gensd’arm stutzte; er erkannte die starke Anhänglichkeit des ganzen Haufens an den Häckerlingsschneider und fragte die geschwätzige Frau: „Alte Hexe, wie heißt Ihr?“

Die Alte machte sich schnell aus dem Staube, ohne Antwort zu geben. Der ganze Trupp löste sich auf, und ob auch der Gensd’arm ihnen einige Schritte nachging und nochmals laut nach dem Namen der alten Frau fragte, er erhielt keine Antwort. Die Leute schritten schnell nach verschiedenen Richtungen auseinander; sie verriethen die Frau nicht, die man in Altenhof und Umgegend nur die „alte Müllerchristel“ nannte.

Ich mußte diese Scene erwähnen, weil in ihr die Stimmung sich abspiegelt, welche weithin auf vielen Dörfern für den Häckerlingsschneider vorherrschend war. Und nicht nur unter den Unbemittelten, auch unter den wohlhabenden Landwirthen gab es für den Häckerlingsschneider Johann Gottlieb Kloß starke Sympathien. Wir werden dem Manne näher treten, indem wir das grausige Blutbild, von welchem wir ein Stück schon sahen, nun weiter aufrollen. –

Es war am 19. Juli des Jahres 1818, also zwei Tage vor der erwähnten Kirchhofsscene und gerade an einem prachtvollen Sonntagsnachmittage, als ich in meiner Geburtsstadt Leisnig im hohen Grase eines kleinen, aber reizend gelegenen Gartens saß. Außer mir befand sich eine Kegelgesellschaft im Garten, um die ich mich nicht kümmerte, weil in mir eine verzeihliche Verstimmung lag. Ich war nämlich damals Obersecundaner auf der alten Kloster- oder Fürstenschule zu Grimma. Genau mit diesem Sonntage schlossen die Ferien, welche ich in meiner Heimath verlebt hatte, und das eben verstimmte mich. Alle Einrichtungen waren damals auf der Grimmaschen Fürstenschule noch strengklösterlich; im ganzen Jahre gab es nur vierzehn freie Tage, wo man die Zelle verlassen und daheim sein, oder einige Meilen weit hineinwandern konnte in die Welt. Diese vierzehn freien, schönen Tage waren nun abermals auf ein ganzes Jahr dahin. Mein Bündel lag schon geschnürt, nur ein Buch hatte ich noch nicht eingepackt; ich las darin, als ich im hohen Grase des Gartens saß, und suchte aus ihm frischen Muth zu schöpfen für den neuen Eintritt in die klösterliche Zelle. Das wollte mir nicht gelingen. Ich las und las, aber immer schwirrte mir lockend der Wunsch durch den Kopf: könnte ich doch morgen, statt in das alte Kloster zurück zu müssen, weit hinaus in die schöne Welt! – Das Buch, in welchem ich las, war „Seume’s Spaziergang nach Syrakus“.

Plötzlich wurde ich aus meinem Gedankenzuge herausgerissen, denn mehrere Sonntagsspaziergänger riefen durch die offen stehende Gartenthür: „Wisset Ihr’s schon? in der Mühle zu Beiersdorf hat der Häckerlingsschneider einen Mann geopfert. Boten sind herein in’s Amt; man sucht die Gerichtspersonen. Der Amtswachmeister ist schon mit den Ketten fort. Wir wollen eben auch hinaus.“

Ich klappte mein Buch zu; die Kegelgesellschaft zerstäubte. Alles machte sich auf der Weg nach der Beiersdorfer Mühle, eine Stunde von Leisnig, nicht weit von Altenhof gelegen, wo jenes Kirchlein steht. Bald war ich drüben über der Mulde bei den Schaaren, die nach der Mühle zogen. Da wurde nun manche Rede, manches Urtheil laut. Bald hieß es: „Der Häckerlingsschneider Kloß hat’s gethan, er selbst.“ – Ein Anderer rief: „Gewiß nicht; ich kenne den Mann; so etwas thut er nicht, und zu solcher That fordert er auch nicht auf. Ich habe ihn einige Male gehört, wenn er predigte.“ – Und wiederum ein Anderer meinte: „Nun, wenn er es selbst nicht that, so haben es die Kloßianer gethan.“

„Kloßianer“ hießen nämlich schon seit einigen Jahren die Anhänger des Häckerlingsschneiders Kloß, überhaupt Alle, die seine Predigten oder, wie er sie selbst nannte, seine „Vermahnungen“ besuchten.

Als wir bei der Mühle ankamen, war die Sonne untergegangen. Der Juli-Abend, hell genug, um Alles erkennen zu lassen, breitete sich aus auf die Felder, wo hier und da die [825] Ernte schon begonnen hatte und hochaufgeschichtete Garben ihrer Einfuhr nach der Tenne entgegensahen. Ringsum lag Friede – nur in der Mühle nicht. Aus ihr klangen kreischende Stimmen, wildes Geschrei, toller Lärm.

Der Mühlenbesitzer Friedrich Gottlieb Fischer, seine Frau und die sogenannte Kleinemagd, Namens Christine Birke, rannten tobend in der Wohnstube hin und her. Auf dem Tische lagen mehrere Plättstähle, ein Hirschfänger, eine Axt, ein Spaten, eine Heugabel. Bald ergriffen sie die eine, bald die andere Waffe und drohten damit hinaus in den Hof unter dem Geschrei: „Der Teufel ist todt – Gott hat’s befohlen! – Wir haben ein gutes Werk vollbracht!“

Das jetzt angekommene Leisniger Justizamt schritt sofort ein, und obgleich die Müllerin sich bedeutend zur Wehr setzte und den Amtswachmeister mit dem Hirschfänger verwundete, so waren doch die drei Tobenden bald in Ketten gelegt. Hatten sie sich aber schon vorher gerühmt, daß sie. „den Teufel getödtet und ein Gott wohlgefälliges Werk vollbracht“ hätten, so rühmten sie sich dessen in ihren Ketten noch mehr.

Als sie gefragt wurden, wo der Häckerlingsschneider sei, versicherten sie: „Der ist nicht hier; seine Stunde kommt später; uns hat’s Gott befohlen.“

Nun wurde nach dem Häckerlingsschneider gesucht – Niemand sah und fand ihn. Ich aber sah und fand, was ich nie vergessen werde. In der Mitte des Mühlhofes lag der Gemordete – an dessen Grabe wir ja schon auf dem Friedhofe standen – in seinem Blute, mit gespaltenem Haupte, mit hoch über dem Gelenke abgehackten Füßen und Händen, mit mehreren Degen- und Heugabelstichen im Rücken. Die Hände – ich kann einen genaueren Vergleich nicht geben – leuchten im Abendscheine wie rothe Stulphandschuhe, die Füße wie rothe Halbstiefeln. Auch der weiße Leinwandkittel war mit Blut getränkt.

Seitwärts von dem Todten – Christoph Friedrich Flohr war sein Name – befand sich die Düngerstätte, auf der sich ein aufgeschichteter Hügel erhob. Das war, wie man sich allgemein sagte, der Opferaltar. Er trug die Opferstücke: einen todten, noch blutenden Ziegenbock und fünf Stück blutige Enten. Drei Pferde, von denen besonders das jüngste und beste zum Opfer ausersehen war, weil in ihm „der Teufel am lebendigsten rumorte“, hatte der Mühlknappe Claus, der von der Tollheit frei geblieben war, hinausgeritten in den Wald, die Kinder der Müllersleute aber waren von der sogenannten Großemagd, Namens Wartig, gerettet worden, während die vorhin genannte Kleinemagd, theils verführt und gezwungen, theils von dem Fanatismus mit ergriffen, sich unter den Mördern befand.

Mittlerweile hatte sich der mildeste Sommerabend niedergesenkt. Es war, als wolle die Natur die Menschheit beschämen. Der Mond – es mochte ziemlich Vollmond sein – stieg auf und beleuchtete wie mit traurigem Angesichte die schaurige Stätte. Die Männer der Gerichtsbehörde ließen einen Wagenkorb über den Leichnam stülpen und ordneten an, daß bis zum nächsten Tage, wo die gerichtliche Aufhebung erfolgen sollte, zwei Wächter an die Stätte gestellt wurden. Dann fuhr ein Leiterwagen vor. Der Müller Fischer, seine Frau und die Kleinemagd mußten den Wagen besteigen, und ich sehe es noch heute, wie der Mond ihre blutbefleckten Sonntagskleider beleuchtete.

Der Wagen fuhr ab. Vor, hinter ihm, an den Seiten desselben schritten Menschen. Die Leute von Leisnig verhielten sich still, denn in der ganzen Stadt hatte der Häckerlingsschneider Kloß kaum ein Dutzend feste Anhänger. Unter den Landleuten aber, von denen viele aus den benachbarten Dörfern herbeigekommen waren, zeigte sich Aufregung und Bewegung. Man nahm den Häckerlingsschneider in Schutz, und es klang aus diesen Schutzreden stark ein pietistischer, oft mystischer Ton.

Noch weit stärker und voller von Nacht und Wahn durchtränkt waren die Reden, welche die Gefangenen vom Wagen herab an das Publicum hielten. So oft auch der Wachmeister hinaufrief: „Haltet Ruhe!“ immer wieder predigte besonders die junge, sechsundzwanzigjährige Müllerin laut und gehoben, aber in abgebrochenen Sätzen: „Wir haben recht gethan. Wir sind getrost und wollen gerne leiden; auch die Apostel haben gelitten. Die Teufel müssen getödtet werden. Abraham wollte ja auch seinen Sohn opfern, aber da kam Gott und brachte den Widder; der Sohn Isaak blieb lebendig, und Flohr, in welchem der Teufel war, wird auch wieder lebendig werden. Gott wird bald kommen und das Weltgericht halten, aber die Teufel müssen wir erst tödten, die noch in der Welt sind, da ja geschrieben steht: ‚Der Teufel geht umher, wie ein brüllender Löwe.‘“

Ich ging immer dicht am Wagen; ich hörte Alles und blieb bei dem Wagen, bis er in Leisnig an dem alten Schlosse Mildenstein vor dem Gefangenhause hielt. Hier wurden die Drei heruntergehoben; ich hörte noch das Geklirre der Ketten, dann entfernte ich mich. Erschüttert und still durch die laue Mondnacht schreitend, sagte ich zu mir: „Diese armen Leute liegen nun in Ketten, weil sie geknechtet liegen unter religiösem Wahnsinne.“

Für den Secundaner war’s vielleicht genug. Heute, wo ich Greis bin, sage ich allerdings noch mehr.




Am andern Morgen, obgleich die Nacht ziemlich schlaflos für mich verging, war ich doch früh schon auf dem Platze. Fest entschlossen, heute nicht nach Grimma in die Fürstenschule zurückzukehren, hing ich das schon geschnürte Bündel an die Wand, muthig und getrost auf die Carcertage schauend, die mich als Strafe für mein Außenbleiben erwarteten. Wie hätte ich auch gehen können! Die Stadt war lebendig; Cavallerie zog vorbei und belegte viele umliegende Dörfer, von denen man wußte, daß sie von der pietistischen Seuche ergriffen waren. Und in der That hatte sich diese weit verbreitet; auch in der Gegend von Döbeln, Mügeln, Oschatz etc. waren viele Dörfer angesteckt – der Häckerlingsschneider stand in Renommée.

Aber warum griffen die Behörden nicht früher ein? Man hielt die Sache für unschädlich; hatte doch Kloß auf der Superintendentur zu Oschatz und anderweit, wo er eine Art Examen bestehen mußte, wenn auch nicht schriftlich, doch mündlich das Wort erhalten; man war der Ansicht, daß seine „Vermahnungen“ unschädlich seien. Unschädlich aber waren seine Vorträge durchaus nicht.

Ein Jahr früher hörte ich ihn selbst einmal. Die Bauernstube, in welcher er sprach, war von Menschen gedrängt voll. Tabak durfte nicht geraucht werden, und man sagte mir, Kloß dulde das Rauchen nicht; er behaupte, der Tabak sei das Unkraut, welches der Teufel unter den Weizen gesäet habe, und aus den Untersuchungsacten ergiebt sich, daß Kloß gelehrt habe: „wie jetzt der Rauch aus dem Munde des Tabakrauchers komme, so werde er auch in der Hölle aus seinem Halse hervorbrennen.“ Wie stets bei seinen Vermahnungen, so saß der Apostel Johann Gottlieb Kloß auch damals auf einem Stuhl, der in der Bauernstube auf den Familientisch gestellt wurde. Er war ein stattlicher Mann, dreißig Jahre alt, und unverheirathet. Er wohnte eigentlich auf einem Dorfe bei Roßwein, zog aber seit einigen Jahren, Häckerling schneidend und predigend, besonders in der Leisniger Gegend umher. Die bunte Kattunjacke und die gelblichen Lederhosen, die er trug, gaben ihm ein besonderes Ansehen. Auf dem Tische stand ein Glas, mit Bier gefüllt, aus welchem er während seiner Rede oft trank. Ehe diese begann, wurde ein orthodoxes Lied gesungen. Dann erhob er seine volle, klangreiche Stimme und ermahnte die Anwesenden zur Gottesfurcht und Tugend, weil sie sonst nicht mit ihm eingehen könnten in’s „gelobte Land“. Bald vermengte er aber das „gelobte Land“ mit dem „Paradiese“, das es ja ebenfalls geben müsse, weil sonst der Herr Jesus gelogen hätte am Kreuze, wo er auf das Paradies noch hingewiesen. Dann sprach er von seinen Träumen, Visionen, Offenbarungen, von seinem durch Gott ihm befohlenen Lehrberufe etc. Nach einer Pause schlug er die Bibel auf und las mehrere Verse aus der „Offenbarung Johannis“. In schauerlicher Weise legte er dieselben aus, sprach drohend von Krieg und Theuerung, Uebel, welche eintreten müßten, wenn sich die Menschen nicht bessern würden, und verkündete dumpf und mit prophetischem Tone die Nähe die jüngsten Tages und des Weltgerichts. Todtenstille herrschte unter den Anwesenden. Gegen Tanz, Spiel, Musik, Schänkenbesuch eiferte er heute nicht, obgleich er das sonst in jeder „Vermahnung“ zu thun pflegte, wohl aber forderte er am Schlusse alle Anwesenden auf, niederzuknieen. Willig kam man dieser Aufforderung nach, während er selbst vom Stuhle sich erhob und auf dem Tische niederkniete.

Ich schlich still zur Thür hinaus, hörte aber draußen das sinnverwirrende Gebet, das er laut und feierlich sprach. Als [828] sich die Gemeinde erhoben hatte, legte man Geld auf einen Teller, dann gingen die Meisten fort, nur die sogenannten „Auserwählten“ blieben da. Durch das Fenster sah ich noch, daß der Prophet sehr freundlich mit einer jungen, sauberen Magd sprach. Mir schien es, als rede er ihr zu, auch noch da zu bleiben. In dem Gehöfte, in welchem der Prophet sprach, hatte er nämlich auch jedesmal freie Station und Nachtquartier. Uebrigens war er, wie Jedermann sagte, in seinem Umgange freundlich, bescheiden, dienstfertig – und den Häckerling schnitt er überall preiswürdig. Ich aber erkannte schon damals, daß trotz dieser guten Eigenschaften der ganze Mann von pietistischen Albernheiten erfüllt war.

[838] Wir kehren zurück zu dem Morgen, welcher an jenen blutigen Sonntag sich anschloß. Ich ging also nicht in meine Klosterschule nach Grimma, sondern hinaus auf den Beiersdofer Mühlhof.

Welch eine Menschenmenge war hier versammelt! Sogar auf den Dächern der Mühlgebäude und auf den umstehenden hohen Bäumen saßen Leute. Von einigen Reitern begleitet kam der Wagen mit den drei Gefangenen an. Der Müller und die Kleinemagd verhielten sich ruhig, nur die Müllerin sprach noch hitzig vom Teufel, von Aposteln, von Jesus, Abraham, Isaak, und der bekannten Opferfabel.

Als die Drei in ihren Ketten an die Gerichtstafel gestellt waren, die man im Hofe errichtet hatte, sprach der Untersuchungsrichter einige Worte mit dem Amtswachmeister. Dieser trat an den Wagenkorb, welcher am Abende vorher über den Leichnam gestülpt worden war. Stille herrschte an der Gerichtstafel, Stille ringsum. Die drei Gefangenen mußten die Augen auf den Korb richten. Der Wachmeister und der dabeistehende Wächter hoben den Korb empor und legten ihn zur Seite. Ein Schrei des Entsetzens ging jetzt durch die Menge – die drei Gefangenen blickten ruhig, ohne jegliches Zeichen einer innern Bewegung hin.

Kaum war der Korb abgehoben, da stürzte sich jammernd die Frau des Todten nieder auf den Leichnam; die Kinder, größtentheils Knaben, schrieen weinend: „O, der Vater, der Vater, der gute Vater!“ Und als nun die Kinder den todten Vater jammernd herzten, da ging ein Wehklagen durch die Menge und tausend Augen wurden naß. Die drei Gefangenen aber blickten ruhig und getrost auf Alles.

Das Verhör war kurz. Die Gefangenen legten volles Geständniß ab und rühmten sich ihrer That. Die Müllerin besonders gab zu den Acten: „Gott wollte es so haben. Ich wußte, was ich that, und da ich allein zu schwach war, mußten mein Mann und die Magd mir helfen.“

Bald wurden die Uebelthäter wieder zurückgefahren in ihre Gefängnisse – wohl Tausende begleiteten sie auch heute. Ich blieb längere Zeit noch in der stattlichen Mühle, welche überall von Wohlstand zeugte. In der Wohnstube setzte ich mich müde und ergriffen auf das Sopha, bis ich wieder hinaus mußte, denn man brachte den Leichnam zur gerichtlichen Section herein. Die weinende Wittwe kam hinterdrein mit den Kindern. Die Letzteren hatten einige Blumen aus dem Mühlgarten geholt und sie auf ihren Vater gestreut, auch eine Rose trug er in einem der Knopflöcher seines Leinwandkittels. Durch die Fenster aber fiel der Glanz der Himmelsrose – die Julisonne beschien die Mutter, die Kinder, den todten Vater.

Ich ging nach Leisnig zurück, hier und da auf einige Reiter stoßend, welche, um dem Häckerlingsschneider nachzuspüren, in die umliegenden Dörfer ritten, von denen man wußte, daß sie für denselben Partei nahmen.

Ein entschiedener Parteigänger, bei Meißen wohnend, hatte ihn auch wirklich versteckt; der Prophet war in dem Gute seines Beschützers in den Backofen gekrochen. Noch an demselben Tage aber kroch er wieder hervor und stellte sich freiwillig in dem Justizamte zu Meißen, von wo er später in das Leisniger Amt abgeliefert wurde. Hier offenbarte sich dann, daß er an dem blutigen Morde nicht die eigentliche, nicht die schwerste Schuld trug. Wohl hatte er einige Male seine „Vermahnungen“ in der Mühle gehalten und sonst noch die Müllersleute in ihrer finsteren pietistischen Richtung befestigt, ihnen vorgelesen, mystische Tractätchen gegeben, mit ihnen gefrömmelt und geschwärmt. Noch zehn Tage vor dem blutigen Ereignisse hielt er mit den Müllersleuten eine der „Betstunden“ ab, die sich von den „Vermahnungen“ dadurch unterschieden, daß sie nicht öffentlich, sondern in der Familie stattfanden und dabei nur gesungen und knieend gebetet wurde. Dennoch war es ein Anderer, der diese Leute auf die eigentliche Höhe der Geistesnacht trieb, auf welcher sie den Mord verübten.

Bald nach der eröffneten Criminaluntersuchung wurde dieser Andere verhaftet und in das Arresthaus zu Leisnig eingesetzt.

Der Hufschmied Goldammer, einundvierzig Jahre alt, in dem Dorfe Alt-Leisnig wohnend, war dieser andere Mann.

Wir bemerken, ehe wir weitergehen, daß wir, wie bisher, auch jetzt nur den Kern, nur die Hauptsachen aus den ungemein dickleibigen Acten geben. Wollten wir auf die Nebensachen eingehen, dann müßte der gegenwärtige Artikel, selbst wenn man sich dabei nur an den vor dreißig Jahren gedruckten Auszug aus den Acten halten würde, doch zu einem starken Buche werden. Unser Artikel ist eine getreue Skizze aus der Acten.

Goldammer hatte den Häckerlingsschneider oft gehört, in nähere Bekanntschaft aber kamen Beide erst gegen Fastnacht 1818, wo Kloß nun auch eine „Vermahnung“ in Goldammer’s Wohnung hielt. Letzterer hatte das gewünscht, denn er wollte den Schein gewinnen, als sei er nun auch ein warmer Kloßianer. Unter dieser Verschmitztheit gedachte er die wohlhabenden Müllersleute auszubeuten, deren pietistischer Hang ihm bekannt war. Geld aber brauchte er, denn Ambos und Hammer reichten nicht aus, ihn bei seinem wüsten Leben zu ernähren. Ueberdies hatte er eine Frau und sieben Kinder – also Geld wollte er schaffen um [839] jeden Preis. Mit Kloß wurde innige Freundschaft geschlossen, ebenso mit den Fischer’schen Eheleuten, bei denen er leicht Eingang fand, da sie in naher Verwandtschaft zu einander standen.

In kurzer Zeit war er im Müllerhause der beste „Herzensfreund“ geworden; er sang und betete mit diesen Leuten und tauchte sie immer tiefer und tiefer in den mystischen Sumpf, wobei ihm nicht nur seine Ehefrau, sondern auch seine vierzehnjährige Tochter Rosine Marie Beihülfe leistete. Die Tochter besonders mußte an dem finsteren Werke mitarbeiten. Als scheinbare Hellsehende erklärte sie die Fischer’schen Eheleute für „Auserwählte“, die den Teufel aus der Welt schaffen sollten. Dabei wahrsagte die Tochter, wie es der Vater ihr vorher eingab. Mit prophetischem Tone verkündete sie das nahende Weltgericht, redete mit Gott und dem Heilande, gab den Müllersleuten Verhaltungsregeln, – und die Getäuschten warfen sich gläubig vertrauend und mit innigster Liebe in die Arme der Hellsehenden. Letztere verschrieb auch in ihrem Wunderschlafe allerhand Wurzeln und Kräuter, welche der Schmied zur Heilung kranker Menschen und Thiere verkaufte, – kurz er trieb Monate lang seinen Betrug in und außer dem Müllerhause mit großem Vortheile. Kloß, ebenfalls getäuscht, hat an dem Betruge nicht mitgeholfen, er glaubte aber an die Tollheiten, die das Wundermädchen aussagte.

Wir übergehen hier viele einzelne Sprossen, aus welchen der Schmied die finstere Leiter erbaute, auf der er die „Auserwählten und Begnadeten“ immer höher steigen ließ, bis dieselben, was er sicher nicht wollte, sich in ihrem Wahne auch auf die letzte Sprosse stellten und von da herabstürzten in die Menschenblutlache.

Das konnte aber der Schmied nicht gewollt haben. Damit hätten ja all die Vortheile und Genüsse für ihn aufgehört, die er von den Müllersleuten zog. Lieh doch Fischer noch am 16. Juli, drei Tage vor der Blutthat, willig und gern seinem „Herzensfreunde“ vierzig Thaler mit der Bemerkung, daß er ihm das Geld nicht wiederzugeben brauche. – Zum Morde sollte es also nicht kommen. Zwar hatte er den in geistige Nacht Gestoßenen auch Wurzeln und Thee gebracht, wovon sie trinken mußten, aber in der Untersuchung wurde nachgewiesen, daß dieselben nicht besonders schädlich waren. – Vielleicht auch wäre der Mord unterblieben, wenn die vom Teufelswahne Erfüllten die Rosse hätten abschlachten können, welche der Mühlknappe rettete.

Da aber kam der arme Häusler Flohr. Er wollte einen Sack Mehl aus der Mühle abholen, – er that das für den Schulmeister, da er für seine Kinder nur ein knappes Schulgeld zahlen konnte. Als er in die Wohnstube trat, fragte Fischer: „Das ist ja wohl Flohr?“

„Nein, der ist’s nicht,“ rief die Müllerin, „es ist Verstellung; es ist der Teufel.“

Mit diesem Zuruf warf sie einen Plättstahl nach ihm, was sie unter demselben Schrei heute schon gegen drei Andere gethan, ohne gerade hart zu treffen.

Flohr aber war hart getroffen; er taumelte zu Boden, und schnell versetzte die Müllerin ihm einige Stiche mit dem Degen. Dennoch raffte Flohr sich auf und sprang in den Hof. Unter dem Geschrei: „Der Teufel! Der Teufel!“ eilten die drei Rasenden ihm nach, erreichten ihn auf der Mitte des Hofes, wo der Verfolgte stürzte und nun die gräßliche Blutarbeit an ihm vollendet wurde.

Wir haben diese Arbeit angeschaut, haben den armen Mann gesehen, auch sein Weib und die Kinder, theils am Sarge auf dem Friedhofe, theils an der Blutstätte auf dem Mühlhofe, wo sie den Leib des Todten mit Blumen bedeckten und eine Julirose ihm in’s Knopfloch seines Kittels steckten – genug denn haben wir gesehen von der schauerlichen Tragödie. Auch erkannten wir genug. Nicht physisch, sondern weit mehr psychisch erklärten wir uns den Zustand jener drei Unglücklichen. Durch den von Kloß, hauptsächlich aber von Goldammer ihnen beigebrachten Wahn, daß man die im Alten Testamente vorgeschriebenen Opfer ehren, den Teufel bannen, sich und Andere mit Gott aussöhnen müsse durch Blut, kamen sie zur schrecklichen That. Und nun das Gebet dazu! Fischer sagte vor Gericht aus, daß er mit seiner Frau täglich dreimal knieend gebetet habe. Ganz recht, man werfe die eingekapselten Funken nur geschickt in pietistische Gemüther – und wie leicht werden die Flammen des Fanatismus aufsprühen!




Die Untersuchung dauerte weit über ein Jahr hinaus. Die Urthel, welche damals in Sachsen noch von der Leipziger Juristenfacultät oder dem Schöppenstuhle gefällt wurden, geben uns einen Gradmesser der verschiedenen Schuldhöhe.

Der Hufschmied Goldammer wurde mit mehrjähriger Zuchthausstrafe ersten Grades belegt. Damals befand sich in Sachsen das strengste Zuchthaus noch in Zwickau. Goldammer, so kräftig und stark er von Natur war, hielt die harte Zuchtstrafe nur kurze Zeit aus; er erlag ihr bald. – Seine Kinder sind brave Leute geworden.

Die Müllersleute Fischer kamen nicht als Verbrecher, sondern als Wahnsinnige nach Waldheim, wo zu jener Zeit theils Armen- und Krankenanstalt, theils Irrenhaus und milderes Zuchthaus bestand. Sie wurden auf unbestimmte Zeit daselbst untergebracht. Späterhin, als das Irrenhaus nach Colditz verlegt wurde, mußten sie auch mit dorthin. Erst nach dreizehn Jahren konnten sie entlassen werden. Trotz der großen Proceßkosten war ihnen das Mühlengrundstück erhalten geblieben. Sie kehrten dorthin zurück und lebten noch lange in der Mitte ihrer Kinder, die sie zu wackern Menschen erzogen. Jetzt ruhen sie auf demselben Friedhofe, wo das Kirchlein steht und wo auch der in finstrer Geistesnacht von ihnen getödtete Flohr ruht.

Die Kleinemagd Christine Birke, mehr als Verführte und zur Unthat mit Gezwungene verurtheilt, bekam nur ein halbes Jahr Gefängnißstrafe. Sie lebt heute noch und ist glückliche Mutter und Großmutter.

Auch die Tochter des Hufschmiedes Goldammer, welche, genöthigt durch ihren Vater, die Somnambule spielte, erhielt nur mäßige Strafe, die Mutter derselben aber ein halbes Jahr Zuchthaus. Beide sind gestorben. Endlich der Häckerlingsschneider Kloß. Er mußte nur auf ein einziges Jahr in’s Spinnhaus wandern – damals die mildeste Strafanstalt in Sachsen. Als er entlassen war, heirathete er noch und wohnte nun bei seiner Schwester, auf einem Dorfe in der Nähe von Roßwein. Zwar war ihm das Abhalten von Vorträgen streng untersagt, aber zuweilen versammelten sich die ihm treu gebliebenen pietistischen Querköpfe doch hier und da in einem Gehöfte, wo er seinem alten Berufe gemäß den Tag über Häckerling aus Stroh schnitt, am Abend aber sinnverwirrenden Katechismushäckerling aus seinem Kopfe darbot und sich freute, wenn für ihn der Zinnteller herumging. Er starb ziemlich arm und liegt auf dem Friedhofe zu Roßwein begraben. – –

Und wie wurde es mit mir? Wie ging es mir in Grimma? Der Rector zürnte sehr, aber ich mußte erzählen, und da die alte Frau Rectorin mit zuhörte und heimlich dann mit ihrem Manne sprach, so ging Alles gut – Strafe sollte nicht erfolgen.

Mit den übrigen Professoren, bei denen ich mich als Eingetroffener melden mußte, ging’s nun viel leichter, denn ich konnte sagen: „Der Herr Rector hat erkannt, daß ich nicht kommen konnte.“

Einer der Professoren, der Lehrer der Mathematik – es war der stramme, feueräugige Professor Töpfer mit gepudertem Haupte und dickem Zöpflein, an den gar Viele sich gern erinnern werden, die zu jenen Zeiten als Fürstenschüler dem Manne nahe standen – fragte mich, nachdem ich erzählt hatte:

„Was sagt Er zu dieser Geschichte? Hat Er darüber nachgedacht? Was trieb die Leute zu dieser schändlichen That?“

„Religiöser Wahnsinn,“ antwortete ich.

Er schritt in seiner derben Weise auf mich zu, schlug mich auf die Schulter und sagte: „Da hat Er Recht. – Und nun marsch in die Zelle!“

„Religiöser Wahnsinn“, er war es, unter dessen grausiger Gewalt die Müllersleute Fischer und ihre Magd die schaurige That vollbrachten. Wir sahen, daß dieser Wahnsinn sie nicht urplötzlich ergriffen hatte, sondern daß die pietistische Richtung, die ihnen schon eigen war, durch den Häckerlingsschneider gesteigert und dann durch die unsinnigen, mystischen Belehrungen von Seiten Goldammer’s zur höchsten Höhe getrieben wurde.

Von Stufe zu Stufe baut sich die geistige Nacht fast [840] immer auf. Anfangs das starre, dunkelgläubige Lesen in Katechismus und Bibel, dann das Hören davon und die Belehrung in Schule und Kirche: das macht, wenn die Vernunft nicht dagegen arbeitet, den Pietisten fertig. Aus dem Pietisten – das lehrt tausendfach die Erfahrung – entpuppt sich leicht der Mucker; die Muckerei erzeugt den Fanatismus, und nun ist’s ein kleiner Schritt nur zum völligen religiösen Wahnsinn. Also die Grundlage, die dunkle Schule und die dunkle Kirche, hinweg – und selten nur wird ein Pietist aufwachsen. Mit dem Pietismus fallen die weiteren Nächte.

In solch eine Nacht schauten wir durch die obigen Mittheilungen. Wäre die, welche im Jahre 1818 das Muldenthal umschattete, die letzte gewesen! So ist’s nicht. Im Jahre 1819 zog sie schaurig durch den Canton Zürich in der Schweiz. Der Anfang war Pietismus, das Ende religiöser Wahnsinn mit blutigem Verbrechen. Auch dort lag die Nacht auf einer wohlhabenden Bauernfamilie; zur „Ueberwindung des Teufels“ kreuzigte Margarethe Peter ihre Schwester und ließ sich dann selbst an’s Kreuz schlagen. Bei dem Anschauen dieser zwei Leichen riefen andere Tolle aus: „O, könnten wir auch sterben, wie diese Heiligen!“ – Im Jahre 1855 vollzog sich eine gleiche Blutarbeit in Chemnitz in Sachsen. Da war es der Schuhmacher Vogt, der den Verein „Die heiligen Männer“ stiftete. Zwei Mütter, die zu dem Verein gehörten, wurden beredet, ihre kranken Kinder abzuschlachten, weil sie „vom Teufel besessen wären“. – Hunderte von Beispielen ließen sich aufführen. Man lese darüber den geistreichen Culturhistoriker Johannes Scherr!

In allen Ländern gab und giebt es blutige Thaten des „religiösen Wahnsinns“, auch, wie die „Gartenlaube“ erst neulich mittheilte, gräßliche Stücke in Amerika. – Und immer, in alter und neuer Zeit, stiegen die pietistischen Nächte, die frommen Seuchen, der ganze religiöse Wahnsinn aus der altkirchlichen Pandorabüchse. Tausende von Beweisen giebt es dafür.

Aber verzagen wir nicht! Lüge und Wahn werden auch auf diesem Felde weichen. Tüchtige Männer heben ja jetzt fleißig das Erz der Wahrheit aus den Schächten der Naturwissenschaft; tüchtige Männer sitzen an den Schmelzöfen; tüchtige Männer prägen die gewonnenen Goldbarren zu Münzen, und rolliren diese Münzen nur erst frei in den Volksschulen, dann – zehn Jahre kaum, und das ganze Volk wird mehr und mehr die Wahrheit erkennen.

Ludwig Würkert.