Ein Morphiumsüchtiger
Das letzte Zeichen zur Abfahrt des Frankfurt-Berliner Nachtschnellzuges war von der Dachhöhe des Main-Neckar-Bahnhofes zu Frankfurt am Main erklungen. Ich hatte mir einen Schein zur Benutzung des Schlafwagens gelöst und in dem bequem eingerichteten Raume meinen Platz eingenommen. Mir gegenüber saß dichtverhüllt ein Herr, dessen Alter ich im ersten Augenblicke auf fünfzig bis sechszig Jahre schätzen zu müssen glaubte. Bei genauerer Betrachtung verriethen seine von Blässe angekränkelten Gesichtszüge ein jugendlicheres Alter. In der kleinen Vorhalle des uns Beiden zugewiesenen Schlafraumes hatte ich bei dem Einsteigen einen strammen Burschen in militärischer Haltung bemerkt, welcher unverwandt seine Augen durch die halbgeöffnete kleine Cabinetsthür auf den erwähnten Fahrgast richtete. Wenn auch diese eigenthümliche Situation gerade keinen sehr anheimelnden Eindruck auf mich machte, so glaubte ich dennoch eine Aenderung in meiner Platzverfügung nicht vornehmen zu sollen; war ich auf meinen vielen Reisen doch schon mit manchem unheimlicheren Fahrgaste zusammengerathen, und so dachte ich denn: auch dieser wird keiner der gefährlichsten sein.
Der gemüthliche Zugführer, mit welchem ich im Jahre 1870 bei Mars-la-Tour als Camerad im Feuer gestanden, rief sein schmetterndes „Ferrrtig!“ in die stürmische Märznacht; der Zug setzte sich in Bewegung und fuhr dröhnend über die breitbogige Mainbrücke, der Station Sachsenhausen zu, dem Heimathlande des Apfelweins. Kaum hatten wir das Weichbild der Stadt Frankfurt verlassen, als mein bärenbepelzter Nachbar sich regte und zu der mittlerweile etwas geöffneten Thür unseres Cabinets den Namen „Conrad“ hinausschnarrte. Mit Blitzesschnelle stand der vorher erwähnte Diener vor seinem Herrn, in der Hand ein Ledertäschchen, welches er jenem darreichte.
„Nein!“ herrschte dieser seinen dienstbaren Geist an, „wenn ich diese Gifttasche zehnmal verlangen sollte, hast Du mir solche heute Nacht entschieden zu verweigern.“
Der Bursche machte, ohne eine Miene zu verziehen, Rechtsum kehrt, mit dem militärischen „zu Befehl, Herr Major!“ – um sofort seinen Posten vor der Thüre wieder einzunehmen.
Mein Nachbar lehnte sich wieder ruhig in seinen Sitz zurück, ich aber konnte mich über die eigenthümliche Scene nicht beruhigen. Der Gedanke, daß ich muthmaßlich, wenn auch nicht mit einem Wahnsinnigen, so doch mit einem Menschen beisammen saß, dem ein gehöriger Käfer im Gehirn rumorte, ließ mich ihn keinen Moment aus dem Auge verlieren. Der persönliche Eindruck des Menschen war ein krankhafter. Das Unterhautzellgewebe seines Gesichts und seiner Hände schien verschwunden; die Farbe seines Antlitzes war aschgrau, und eine eigenthümliche Schweißabsonderung perlte auf seinen Wangen. Sein Mund war bläulich-blaß, sein Auge glanzlos, mit ungewöhnlich verengten Pupillen von ungleicher Weite, sein Blick matt, abgespannt und scheu. Die Schleimhaut des Mundes schien sehr trocken zu sein, denn mit zitternder Zunge bemühte er sich zeitweilig, die runzligen Lippen zu befeuchten.
Als wir ungefähr eine Stunde, ohne ein Wort mit einander zu wechseln, gefahren waren, athmete mein Nachbar auf einmal tief auf; seine Respirationsthätigkeit beschleunigte sich und er fuhr von Zeit zu Zeit mit der rechten Hand nach der Gegend des Herzens, einen tiefen Seufzer ausstoßend, welcher eine eigenthümliche Beklemmung der Brustorgane verriet. Die sonderbare Veränderung in dem Zustande meines Nachbars war mir peinlich; ich glaubte das Recht zu haben, denselben anzureden und ihm mit der Frage, ob ihm nicht wohl geworden sei, meine Hülfe durch Ueberreichung eines Schluckes Cognac anzubieten.
Der Leidende nahm die dargebotene Flasche mit dankbarem Blicke entgegen und entleerte in kräftigen Zügen fast die Hälfte des Inhaltes. Sofort erglänzte sein mattes Auge; er drückte mir beim Zurückreichen der Flasche kräftig die Hand und sagte: „Sie haben mich seit einer halben Stunde scharf beobachtet, mein Herr, und ich las in Ihren Zügen eine eigenthümliche Scheu, die Sie mir entgegenbrachten; eigenthümlich muß Ihnen freilich die Rede erschienen sein, die ich bei Beginn unserer Fahrt mit kurzen Worten an meinen Diener richtete, aber ich hatte mir einmal vorgenommen, heute enthaltsam zu sein, denn es muß ja endlich einmal ein neues Leben angefangen werden, und dazu habe ich mich nun entschlossen.“
Auch diese mir nicht so recht zusammenhängend erscheinenden Worte konnten meine Zweifel über den sonderbaren Fahrgast nicht zerstreuen; ich bat daher um Aufschluß über die mir unverständliche Mittheilung und erfuhr, daß er activer Officier sei, längeren Urlaub zur Wiederherstellung seiner Gesundheit genommen habe und sich auf dem Wege nach der Heilanstalt des Dr. Levinstein in Neu-Schöneberg bei Berlin befinde. Da mir diese Anstalt als ein Asyl für Nervenleidende bekannt war, so bemerkte ich [722] meinem Schlafgenossen, daß er gewiß an nervösen Zuständen leide. Er blickte mich einen Moment, wie um eine Antwort verlegen, an. Endlich machte er eine entschlossene Bewegung und sagte: „Ich glaube Ihnen zu Ihrer Beruhigung vollständige Offenheit schuldig zu sein. So hören Sie denn! Während der Strapazen des deutsch-französischen Feldzuges hatte ich mir eine rheumatische Neuralgie zugezogen, welche mit unsäglichen Schmerzen verbunden war; einzig und allein durch Morphinmeinspritzungen [1] unter der Haut konnten meine Leiden gemildert werden. Das wurde mein Unglück. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß die Opiumesser und Opiumraucher in neuerer Zeit vornehmlich unter den höheren Classen unserer westeuropäischen Bevölkerung eine ziemlich weit verzweigte Bruderschaft gefunden haben, nämlich die Morphiumverzehrer, jene glückselig-unglücklichen Menschen, welche durch gewohnheitsmäßigen Morphiumgenuß sich in die wonnigen Gefilde eines orientalischen Opiumessers hinüberträumen. Ebenso wie im Orient ganze Völkerschaften durch fortgesetzten Opiumgenuß entnervt und in ihren gesammten Lebenskräften zerrüttet werden, finden wir bei uns eine große Zahl einzelner Individuen, welche durch Gewöhnung an Morphium ihre Säfte zerstören, ihre Nerven aufreiben und ihren Geist zerrütten. Selbst der energischste persönliche Wille, die beste Absicht für’s eigene Wohl, die tiefste Erkenntniß von dem Nachtheile der erwähnten Unsitte reichen nicht hin, die Morphiumsucht zu bezwingen.
Sie sehen in mir einen solchen Unglücklichen. Die ursprüngliche Nothwendigkeit, meine schmerzhafte Krankheit durch Morphiumeinspritzungen zu übertäuben, machte, daß ich mich an das verführerische Mittel gewöhnte, und während der Arzt täglich höchstens etwa sechs Hundertstel Gramm gestattet, verbrauchte ich bis vor drei Jahren je nach Bedarf und Stimmung binnen vierundzwanzig Stunden ein halbes Gramm Morphium – nicht etwa um Schmerzen zu lindern – denn von meinem ursprünglichen Leiden war ich befreit – sondern nur um träumerischen Sinnengenüssen zu fröhnen.
Als nun gar in den letzten Jahren häufige Kümmernisse über unverschuldete Vermögensverluste und die Entwerthung industrieller Unternehmungen, an denen ich mich durch die unglückselige Ritterschaftliche Privatbank zu Stettin betheiligt hatte, meine Stimmung noch mehr zerrütteten, suchte ich durch Erhöhung der Dosis die trüben Gedanken, die mich täglich überkamen und in meiner Dienstfähigkeit beeinträchtigten, zu verscheuchen, sodaß ich es in neuerer Zeit bis zu einem ganzen Gramm Morphium auf den Tag gebracht habe. Ich pflege mir alle zwei bis drei Stunden eine Spritze voll Lösung von einem Decigramm Morphiumgehalt direct in das Blut überzuführen, indem ich mir mit einer sogenannten Pravaz’schen Spritze die Flüssigkeit –“ hier unterbrach mein Nachbar seine Schilderung und schnarrte zum zweiten Male den Namen „Conrad“ gegen die Thür des Cabinets. Conrad erschien. Der Officier verlangte ungestüm die Morphiumspritze und das Medicament. Der Diener verweigerte Alles auf Grund des erhaltenen Befehls. Diese vermeintliche Insubordination aber brachte den Leidenden in eine solche Erregung, daß er den armen Pommeraner krampfhaft am Halse packte und mehrmals schüttelte, sodaß dem armen Teufel Hören und Sehen vergehen mußte.
Jetzt sah ich die Hünengestalt meines zum ersten Male seit unserer Abfahrt sich erhebenden Genossen und konnte bemessen, in welch erschreckender Weise sein riesenhafter Knochenbau und die Kraft seiner Körpermuskulatur von der Fahlheit und Blässe seines Gesichtes abstachen. Ich beruhigte den aufgeregten Herrn mit der Versicherung, ich würde trotz seines eigenen Verbotes ihm die Morphiumspritze verschaffen, worauf er sich wieder in seinen Sessel niederließ. Da überkam ihn eine plötzliche Apathie, welche die Aerzte mit dem Namen Collapsus zu bezeichnen pflegen. Er preßte nur noch das Wort „Morphium!“ durch die Lippen und sank, sich total verfärbend, wie todt von dem Sitze herab. Conrad hatte sich, als er von den Fäusten seines Herrn durch mich befreit war, wieder aus dem Cabinet entfernt, aber bei dem stürmischen Angriffe das erwähnte lederne Täschchen fallen lassen; ich entdeckte solches am Boden, hob es rasch auf und riß in meiner verzweifelten Lage und in der Meinung, einen Sterbenden zu Füßen zu haben, das Schloß rasch aus einander. Ich entdeckte die Morphiumspritze und ein weithalsiges Gläschen mit Morphiumlösung.
Während meiner Feldzugszeit oftmals zum Lazarethdienste beordert, hatte ich die Technik der Morphiumeinspritzungen kennen gelernt. Die Procedur besteht bekanntlich darin, daß man eine nadelförmig zugespitzte kleine gläserne Spritze mit der Lösung des Medikamentes füllt, die Spitze durch die Haut in das Unterhautzellgewebe einsticht und nun durch Einschieben des Pistons die nöthige Anzahl Tropfen aus der Spritze in das Körpergewebe des Kranken einfließen läßt. Ich füllte rasch das Instrumentchen und spritzte dem zu meinen Füßen Liegenden die volle Ladung unter die zu einer Falte emporgezogene Haut des bloßliegenden Nackens.
Kaum war die Morphiumlösung in das Blut des Armen eingedrungen, als er die Augen aufschlug und wieder ein Lebenszeichen von sich gab. Ich hob ihn auf den Sitz empor und brachte ihm noch einen kräftigen Schluck Cognac bei; er erholte sich und war bald wieder vollkommen seiner Sinne mächtig. Es verging kaum eine Viertelstunde und ein sichtliches Wohlbehagen überkam meinen Begleiter, welcher der Dankesbezeigungen für meinen ihm erwiesenen Liebesdienst nicht müde werden konnte. Ich riet ihm, nun sich das Lager bereiten zu lassen und einem erholenden Schlaf sich hinzugeben, was er denn auch selbst für rathsam fand. Bald hatte ihn die Einspritzung dem Schlafgotte überwiesen. In den milden Zügen des Schlafenden zeigte sich eine wohlthuende Behaglichkeit, und das Spiel seiner Lippen verrieth wonnige Träume, welche sein morphiumberauschtes Gehirn umgaukelten.
Mich selbst floh nach dieser Aufregung der Schlaf. Ein Büchlein, welches mein Gefährte scheinbar als Reiselectüre hinter seinem Sitze verwahrt hatte, sollte mir die Zeit verkürzen. Es war eine Monographie über das Leiden, von welchem er heimgesucht, betitelt: „Die Morphiumsucht von Dr. Ed. Levinstein.“ Ich entnahm aus demselben, daß die Morphiuminjectionen in Deutschland bis vor etwa fünfzehn Jahren nur selten ausgeführt wurden. Die Methode war in England im Jahre 1857 von Dr. Alexander Wood erfunden worden. Die wundergleiche Wirkung gegen den Schmerz hatte der neuen Behandlungsweise rasch den Weg gebahnt, und die praktischen Aerzte benutzten anfangs allein die Morphiumspritze gegen jegliche Art von Unbehagen ihrer Patienten. Wäre die Technik der Morphium-Injectionen in den Händen der Aerzte geblieben und hätte durch deren imponirende Wirkung sich nicht auch der Laie der Handhabung dieses Instruments bemächtigt, so würde die moderne Verbannungsmethode des Schmerzes ein Segen für die Menschheit geblieben sein. Als aber die Laien besonders der höheren Gesellschaftskreise erkannt hatten, daß auch psychischer Schmerz durch Morphium-Injectionen vernichtet werde, erlernten sie die Selbstapplikation der Methode, und von diesem Augenblicke beginnt die Geschichte des schrecklichen Leidens, welches mit dem Namen „Morphiumsucht“ bezeichnet wird. Urheber und Verbreiter der Krankheit waren jene Aerzte, welche bei mehr oder weniger schmerzhaften oder langandauernden Krankheiten dem Patienten die Morphiumspritze selbst überließen. Die verführerische Wirkung der Morphiumeinspritzung besteht, wie bereits angedeutet, außer in der Bekämpfung der Schlaflosigkeit und des Schmerzes in einer gleichzeitigen glücklichen Umwandlung im ganzen Wesen. Der Betrübte wird heiter; der Ohnmächtige erhält Kraft, der Geschwächte Energie; der Schweigsame wird beredt, der Zurückhaltende verwegen. Ist aber das Gift aus dem Körper wieder ausgeschieden, was allmählich geschieht, so folgt dieser hochgradigen Steigerung des behaglichen Selbstgefühls, der sogenannten Euphorie, ein Zustand tiefer Ermattung und Niedergeschlagenheit.
Um diese physischen Unbequemlichkeiten zu verscheuchen, greift dann der Betäubungssüchtige wiederum zur Injectionsspritze, wie der Trunkenbold zur Schnapsflasche. Er vertrinkt seinen Unmuth, seinen häuslichen Aerger, seine geschäftlichen Unannehmlichkeiten. Er macht, wie der Branntweintrinker durch seinen Morgenschnaps, die zitternden Glieder mit Morphium wieder fest, und wenn die Wirkung des letzteren aufhört und die Gemüthsverstimmung, verbunden mit körperlicher Unbehaglichkeit, einen eigenthümlichen [723] Katzenjammer herbeiführt, so wird der Morphiumvertilger seiner traurigen Lage bewußt und kommt zu dem verhängnißvollen Schlusse, daß er sein geistig und körperlich zerrüttetes Leben nur durch erneute Zufuhr des Giftes wieder heben könne.
Die zerstörende Wirkung des übertriebenen Morphiumgebrauches tritt bald nach einem Zeitraume von fünf bis sechs Monaten, bald erst nach Jahren ein. Viele Morphiumsüchtige befinden sich eine Zeit lang unter dem Morphiumgebrauche ganz wohl, bis plötzlich eine Reihe von Störungen im Allgemeinbefinden eintreten, welche den Menschen bei plötzlicher Entziehung des Gewohnheitsgiftes in einen Zustand bringen, wie derjenige ist, den ich vorher in meiner Erzählung schilderte. Es stellen sich Kopfcongestionen, Herzklopfen, rheumatische Anfälle mit gespanntem Pulse ein, welch letzterer auch plötzlich verschwindet. Angstzustände, hervorgerufen durch Hallucinationen und Illusionen fast sämmtlicher Sinnesorgane, bilden schließlich einen Krankheitszustand heraus, welcher dem Säufer-Delirium ähnlich ist.
In einer solchen Lage nun befand sich mein Reisegefährte. Ich hatte ungefähr eine Stunde in dem Buche gelesen, als er erwachte und, sich behaglich dehnend, mir nochmals dankte. Wir unterhielten uns eine Weile über seinen lobenswerthen Entschluß, mit äußerster Energie die üble Gewohnheit künftig zu vermeiden. Ich rieth ihm, auf Grund meiner aus seinem Büchlein erworbenen Kenntnisse, die Cur erst zu beginnen, wenn er unter der Leitung eines tüchtigen Arztes sich befände, und er gab mir darauf auch das Versprechen, sich gegen Morgen selbst noch eine Morphiumeinspritzung in gewohnter Weise zu machen. Da ich somit einen neuen Anfall seinerseits nicht zu befürchten hatte, konnte ich mich selbst der nöthigen Ruhe hingeben; ich erwachte erst, als unser Zug in dem Anhaltischen Bahnhofe zu Berlin einfuhr. Mein Genosse hatte sich zwischen drei und vier Uhr noch eine Morphiuminjection gemacht; es sollte die letzte sein für’s Leben, wie er sich vorgenommen. Wir verabschiedeten uns am Bahnhofe. Er wurde von einem jungen Arzte, wie mir schien aus der Anstalt, in die er sich freiwillig begab, begrüßt und nach einem zweispännigen Gefährte geleitet, während mir der wachhabende Schutzmann die übliche Droschkenmarke einhändigte. Ich hatte dem Kranken versprochen, ihn in Neuschöneberg zu besuchen.
Die Heilart, welche daselbst zur radicalen Bewältigung der Morphiumsucht üblich ist, beruht auf einer sehr raschen und energischen Entziehungsmethode, während man in anderen Anstalten erst durch allmähliche Verringerung der Morphiumdosen ein stufenweises Abgewöhnen vornimmt. In Marienberg bei Boppard am Rhein bei Dr. Burkart, in Bendorf bei Dr. Erlenmeyer, in Wien bei Dr. Eder und in vielen Wasserheilanstalten werden gleichfalls solche Curen mit Erfolg durchgeführt.
Die Theilnahme, welche mir Major von B. eingeflößt, veranlaßte mich bald, mein Versprechen zu erfüllen und ihn in der Heilanstalt aufzusuchen. Er befand sich in einem wahrhaft jammervollen Zustande. Die Entziehungscur hatte sofort begonnen. Zufälle, wie ich solche in dem Eisenbahncoupé mit ihm erlebt, waren im Verlauf der verflossenen Tage mehrere vorgekommen; der Patient war kaum wieder zu erkennen. Er lag auf einfachem Sopha, von einer Pflegeschwester und zwei kräftigen Krankendienern bewacht; im Nebenzimmer saß einer der Assistenzärzte, welcher zur Beobachtung des Kranken fortwährend anwesend sein mußte. Die Thüren und Fenster des Krankenzimmers hingen in Charnierbändern, hatten weder Angeln, Griffe noch Riegel, sondern waren so eingerichtet, daß sie von innen weder geöffnet noch geschlossen werden konnten. Außerdem war das Bett mit glatten abgerundeten Pfosten versehen. Auf dem Tisch standen Champagner, Portwein, Cognac, kleingeschlagenes Eis, eine Theemaschine mit Zubehör. In dem anstoßenden Cabinet des Arztes waren verschiedene Medicamente vorräthig, sowie ein elektrischer Inductionsapparat aufgestellt, um bei vorkommenden Schwächezuständen den Kranken sofort wieder zu beleben. Auf mein Befragen, weshalb das Krankenzimmer so eigenthümlich eingerichtet sei, wurde mir mitgetheilt, daß fast alle Morphiumsüchtigen, denen das Morphium entzogen werde, zu Selbstmordversuchen äußerst geneigt seien, daher jede Möglichkeit zu solchen Vorkommnissen in der Bauart eines derartigen Locals vorgesehen werden müßte.
Die Erfolge, welche bei der geschilderten Heilmethode gegen die Morphiumsucht verzeichnet werden, sind in Bezug auf die Entwöhnung günstig, in Bezug auf die Rückkehr zur Leidenschaft getheilt. Bei charakterfesten, widerstandsfähigen, geistig und körperlich gesunden Personen ist die Aussicht auf absolute Heilung sicherer, als bei schwächlichen Charakteren. Eine einzige Injection nach geheilter Morphiumsucht besiegt den monatelang mit Erfolg geleisteten Widerstand gegen die Leidenschaft.
Auf mein Befragen, ob derartige Patienten in jener Anstalt sehr häufig Hülfe suchten, erfuhr ich, daß die Krankheit sowohl dort wie anderwärts allerdings in ganz erschreckender Weise zugenommen habe. Es zeigt sich hier wiederum, wie es im modernen Culturleben so oft zu finden ist, daß die Anmaßung der Laienwelt, sich selbst ärztlichen Rath ohne Einholung der Meinung eines tüchtigen Arztes zu erteilen, zu den unheilvollsten Ausschreitungen führen muß. So heilsam und glückbringend die Erfindung der Morphiuminjectionen für viele Leidende geworden ist, in eben dem Grade stiftet sie in leichtsinniger Hand Unheil und Verderben.
Der ferneren Ausbreitung der Morphiumsucht kann einzig und allein durch ein energisches Zusammenwirken der Aerzte mit den zuständigen Behörden entgegengewirkt werden. Die von verschiedenen Regierungen erlassenen Verbote beziehentlich der Verabreichung von Morphiumlösungen ohne ärztliche Specialverordnung sind von den zuständigen Aufsichtsbeamten der Apotheken in verschärfterem Maße zu handhaben. Besonders sollen die Apotheker keine Morphiumrecepte wiederholt anfertigen, wenn solche nicht die deutlich ausgedrückte Zustimmung eines im Orte ansässigen Arztes enthalten. Aber auch die Aerzte sollten jede Morphiuminjection nur persönlich oder durch Assistenten bewirken, unter keinen Umständen aber dem Kranken oder dessen Angehörigen überlassen.
Mein durch so eigenthümliche Zufälle neu erworbener Freund wurde nach einigen Wochen vollkommen geheilt aus der Anstalt entlassen. Bei dem festen Charakter des strammen Militärs ist anzunehmen, daß er nicht wieder in seinen früheren Fehler zurückverfalle. Mögen ihm die Folgen eines Rückfalls in die Morphiumsucht, Schwächezustände, die schließlich zum Tode führen, erspart bleiben!- ↑ Das Morphium ist ein specifischer Bestandtheil des orientalischen Opiums, jenes bekannten Medicaments, welches aus dem Safte halbreifer Kapseln des gewöhnlichen einährigen Mohnes, Papaver somniferum, gewonnen wird. Der wichtigste Bestandtheil, welchen der Milchsaft dieser Pflanze enthält, ist dessen schlafbringende Substanz, das Morphium, ein weißer, fast durchsichtiger, in feinen Blättchen krystallisirender Stoff, der mit Säuren Salze bildet und, in Wasser aufgelöst, vielfach als schmerzstillendes Medicament benutzt wird. Bekanntlich hat die Wirkung des Opiums solches im Orient zu einem berauschenden Genußmittel gemacht, das den Alkoholgenuß des Abendlandes ersetzt.