Ein Nonplusultra von Diebeskunst
[160] Ein Nonplusultra von Diebeskunst. So weit es die Londoner Diebe in der Kunst des Angriffs auf das Eigenthum gebracht, ebenso haben naturgemäß die Londoner Eigenthümer die Mittel und Wege ausgebildet, sich gegen dergleichen Angriffe zu schützen, besonders in der City, wo auf einer englischen Quatralmeile die größten Schätze der Welt dicht neben-, über- und untereinander aufgehäuft sind. Was Schloß und Riegel, feuer- und diebesfeste Eisenkasten Extra Vorsichtsmaßregeln vermögen, das schien Alles im höchsten und vollkommensten Grade angewandt zu sein. Und doch kamen wieder und immer wieder wahre Helden- und Geniethaten von Einbrüchen an’s Tageslicht. Aber das Großartigste und Entsetzlichste für die Eigenthümer wurde neulich von einem Sonnabend an bis zum Montag früh in dem Juwelierladen des Herrn Walker in Cornhill, der eigentlichen Gold- und Edelsteinstraße in der City, geleistet. Publicum und Presse geriiethen in die größte Aufregung. Kaufleute, Fabrikanten, City Obrigkeiten, Polizeibebörden hielten stürmische Versammlungen und Reden, Alles war wochenlang in Bestürzung und Aufruhr. Nach diesem Einbruche gilt nichts mehr für sicher und man verlangt andere, stärkere, zahlreichere, wachsamere Polizei, während die City Obrigkeit gegen solche Beschuldigungen die Eigenthümer selbst der Nachlässigkeit bezichtigt. Der Scandal war groß und hat sich noch nicht beruhigt. City Obrigkeit, Kaufleute und der Bestohlene haben zusammen einen Preis von mehr als fünfzehntausend Thalern auf Entdeckung der Einbruchsdiebe gesetzt, doch hatte man bis jetzt (Mitte Februar) noch keine Spur gefunden.
Der Werth des gestohlenen Gutes beträgt sechstausend Pfund oder vierzigtausend Thaler.
Das Entsetzliche dabei war, daß diese Werthe mitten aus dem besonders geschützten und gesicherten Laden, mitten unter besonders wachender Polizei, mitten in der dichten City aus der festesten Geldspinde herausgebrochen und ungestört weggeschafft wurden. Fast alle Bureaus und Läden der City werden des Nachts ohne Menschen darin gelassen, sehr sicher und fest verschlossen und der ununterbrochcn gegen Diebe und Einbrecher wachenden Polizei anvertraut. Der Juwelier Walker hatte außerdem als besondere Vorsichtsmaßregel den Vor- und Hinterladen so eingerichtet, daß dieselben, während der Nacht durchweg glänzend mit Gas erleuchtet, durch Oeffnungen in den eisernen Schaufensterläden von dem Auge der Polizei jederzeit bis in jeden Winkel übersehen werden konnten. Entsprechend angebrachte Spiegel reflectirten jeden Theil des Ladens, der nicht direct durch eine der Oeffnungen zu sehen war, so daß jede Gestalt und Bewegung darin von außen bemerkbar und ein Versteck nicht möglich wurde. Ausgelöschte Gasflammen würden die Anwesenheit von Dieben sofort um so sicherer verrathen haben.
Außerdem war im Innern Alles fest verschlossen und die wertvollsten Kostbarkeiten ruhten doppelt und dreifach sicher in einem diebes- und feuerfesten eisernen Geldschranke. Gleichwohl sind Diebe nicht nur in den Laden, sondern auch in diesen Geldschrank eingebrochen und haben durch Decken und Böden des Hauses Oeffnungen gebohrt und sind hinein- und davongekommen, nachdem sie jedenfalls die sechsunddreißig Stunden vom Sonnabend bis zum Montag früh wie Helden und Künstler gearbeitet. Um das Technische und Tüchtige ihrer Leistung zu würdigen, muß man sich Umstände und Localität möglichst veranschaulichen.
Der Laden Walker’s befindet sich zu ebener Erde in einem ganz aus Läden, Bureaus und Geschäftslocalen bestehenden Hause, so daß des Nachts niemand darin schläft. Ganz oben in der höchsten Etage ist ein photographisches Atelier, das vom übrigen Hause durch eigene Treppen und Flure getrennt ist. Die zweite und erste Etage bestehen nur aus verschiedenen kaufmännischen Bureaus. Alle diese Theile sind am Tage durch eine offene Thür an der Seite in einer kleinen Nebenstraße zugänglich. Das Erdgeschoß wird auf der einen Seite von Walkers Laden, auf der andern von dem Geschäft eines „Kaufmann Schneiders“ ausgefüllt, der das ganze Geschoß darunter als Zuschneide-Werkstatt benützt. Der Laden Walker’s hat zwei Straßenseiten, eine nach Cornhill, die andere nach einer engen Nebenstraße. Von beiden Seiten konnte man in dem geschlossenen und dann stets hellerleuchteten Laden das ganze Innere übersehen, und die Policemen, die dem Gesetze nach alle elf Minuten ihr ganzes Gebiet durchwandern und alle Sicherheitsmittel an den Läden untersuchen sollen, hatten sich noch besonders verpflichtet, den Laden Walker’s jedesmal durch die Oeffnungen zu inspiciren.
So schien Einbruch oder wenigstens erfolgreicher Einbruch und Raub unmöglich.
Allerdings war die Seitentreppe zu den Bureaus und dem Photographen den ganzen Tag für Jedermann zugänglich, aber Walker und seine Untergebenen verließen und schlossen das Haus nie eher, als bis der Photograph und die übrigen Geschäftsleute ihre Locale geschlossen und das Haus verlassen hatten. Gleichwohl bleibt keine andere Annahme übrig, als daß an jenem verhängnißvollen Sonnabend sich die Diebe und Einbrecher irgendwie verborgen hatten und sich einschließen ließen. Als sie im Besitz des geschlossenen Hauses waren, hatten sie sechsunddreißig Stunden vor sich, die sie, wie genaue Untersuchungen ergaben, auf folgende Weise benutzt haben.
Sie hatten sich im Zimmer unter dem Atelier des Photographen versteckt und einschließen lassen. Von da aus brachen sie in das Bureau darunter im ersten Flur ein. Hier gelang es ihnen, durch vortreffliche Instrumente die feuerfeste Geldspinde zu öffnen und das zufällig wenige Geld darin herauszunehmen. Aergerlich über die geringe Ernte beschlossen sie, die Gelegenheit weiter auszubeuten. Sie wußten, daß unter ihnen Massen von Gold- und Silberschätzen, wenn auch hell beleuchtet und von außen sichtbar, aufgestapelt waren. Unter dem Bureau, in welchem sie waren, befindet sich die Schneider-Werkstatt (oder vielmehr der Kleiderladen). Sie arbeiteten ein Loch durch die Decke und stiegen hinunter in diesen dunkeln Raum. Nun befanden sie sich neben den Schätzen Walker’s, durch eine Wand getrennt. Durch diese versuchten sie einzubrechen, aber die innere Seite des Walker’schen Ladens war mit Eisen beschlagen, so daß sie den Versuch aufgaben, aber nur diesen Weg. Sie machten nun einen originellen, wenn auch mühsamen Umweg. Sie hieben ein Loch in den Boden unter ihnen, durch welches sie in den unterirdischen Zuschneideraum, der unter dem ganzen Hause sich ausdehnt, hinabstiegen. Da sie jedenfalls Bescheid wußten, wählten sie auch die rechte Stelle für eine Oeffnung durch die Decke nach dem Laden Walker’s und zwar in den hintern Theil desselben dicht hinter einer Arbeitsbank am Fenster, hinter welcher, just der einzigen Stelle, sie hinauskriechen und sich verbergen konnten. In der Nähe befindet sich die große diebs- und feuerfeste Geld- und Pretiosenspinde, aber im vollen Lichte des Gases und von zwei verschiedenen Außenseiten vollauf sichtbar.
Es ist ermittelt worden, wie sie die angeblich keiner menschlichen Gewalt und List weichende Thür des Geld- und Pretiosenschrankes geöffnet haben, aber empörend und unerklärlich ist es geblieben, wie sie im vollen Lichte, von außen den alle elf Minuten vorbei inspicirenden Policemen unsichtbar geblieben sein können, zumal da sie unter allen Umständen viele Stunden zu dieser Arbeit brauchten. Wahrscheinlich haben Einer oder Zwei im dunkeln Untergeschoß zum Fenster hinaus gewacht und den jedesmal kommenden Policeman durch ein Zeichen angekündigt, so daß sich die Künstler oben jedesmal während der Minute der Gefahr hinter die Arbeitsbank verkrochen. Die übrige Zeit benutzten sie, die feuer- und diebsfeste Geltspinde zu öffnen. Zwischen der Thür derselben und dem Rande war eine Spur von Ritze, aber nicht so groß, um ein Blättchen Briefpapier dazwischen schieben zu können. Allein mit besonders dazu fabricirten, sehr feinen Stahlmeißeln, deren eine Seite feilenartig gefurcht ist (um das Zurückspringen zu verhüten), läßt sich diese feine Ritze zunächst erweitern. Der erste Meißel fängt dünn wie ein Stückchen Papier an und steigt bis zur Dicke eines Achtelzolls. Damit wird die äußere Gewandung der Feuerfesten ein Achtelzoll nach außen gehämmert. Dann folgt ein zweiter Meißel bis zur Dicke eines Viertelzolls, dann ein dritter etc. immer stärker, bis Raum ist für die gußstählerne Brechstange und deren Hebelkraft. Der eine Arm des Hebels ist sehr kurz, der andere, womit gehoben wird, verhältnißmäßig sehr lang, also einer ungeheueren Gewalt fähig. Traute sich doch Archimedes zu, allein mit bloßer Hebelkraft die ganze Erde aus ihrer Bahn zu schleudern! Eine gußeiserne Brechstange, einen halben Zoll nach innen getrieben und drei Fuß lang, giebt einem Menschen von einhundertachtundsechzig Pfund Schwere, der mit ganzer Gewalt sein eigenes Gewicht an den Hebelarm hängt, ein Gewicht von 18,544 Pfund, dem nichts Feuer- und Diebsfestes widerstehen kann.
Mit solcher Hebelkraft sprengten sie die Feuer- und Diebesfeste, nahmen für 40,000 Thaler Waaren heraus und zogen sich sicher mit Strickleitern und einer geöffneten, dann wieder eingeklinkten Seitenthür in bescheidene, bis jetzt undurchdringliche Verborgenheit zurück, es den geleerten Spinden, den Löchern durch die Decken und der zurückgebliebenen feinen Strickleiter überlassend, von ihren unerhörten Heldenthaten und Kunstwerken Zeugniß abzulegen. Die ganze City ist nun in Angst um ihr Eigenthum. Dabei kommen die bis jetzt sichersten Vorsichtsmaßregeln, die man in der an Kostbarkeiten reichsten Straße zu New-York, Wallstreet, anwendet, zur Sprache. Man läßt dort die kostbarsten Läden mit offenen Spiegelscheiben in brillantester Beleuchtung in der bis zur Tageshelle erleuchteten Straße offen stehen, so daß jedes Gesicht in denselben, jede Gestalt in einem solchen Laden in vollem Glanze gesehen werden kann. Mehrere Wächter sind unsichtbar im Dunkeln einiger Häuser placirt. Glas und Gas sind die sichersten Wächter, sagen die Amerikaner. Und in dieser Wallstreet hat noch Niemand des Nachts einen Einbruch gewagt.