Ein Schreckenstag in der Geschichte der Stadt Wehlen

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Autor: Friedrich Bernhard Störzner
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Titel: Ein Schreckenstag in der Geschichte der Stadt Wehlen
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aus: Was die Heimat erzählt. Sagen, geschichtliche Bilder und denkwürdige Begebenheiten aus Sachsen, S. 318–322
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Erscheinungsdatum: 1904
Verlag: Arwed Strauch
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: SLUB Dresden und Wikimedia Commons
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141. Ein Schreckenstag in der Geschichte der Stadt Wehlen.

Durch die Täler und Schluchten der „Sächsischen Schweiz“ hüpfen viele muntere Bächlein, die alle der Mutter Elbe zueilen. An der Mündung dieser klaren und hellen Gebirgsbäche liegt gewöhnlich in reizvoller Umgebung ein Städtchen oder Dörfchen. Die meist weinumrankten Häuser spiegeln sich im rauschenden Elbstrom, und den Hintergrund des lieblichen Landschaftsbildes bilden riesengroße Sandsteinfelsen, die natürlichen Schutz- und Trutzmauern der Gegend.

Stadt Wehlen um das Jahr 1830.

Auch die Stadt Wehlen am rechten Elbufer liegt am Eingange eines Grundes, durch den ein unscheinbares Bächlein sich mühsam Bahn bricht. Jedem, der die Sächsische Schweiz bereist hat, ist der tiefe Grund mit seinen überhängenden und gewaltigen Felswänden bekannt; es ist der Uttewalder Grund, der von Wehlen aus bis hinauf nach Uttewalde und Lohmen sich erstreckt. In früheren Zeiten war dieser Grund fast unzugänglich, heute kann man ihn auf einem bequemen Wege durchwandern. Hier und da, besonders in der Nähe des sogenannten „Felsentores“, führt der Pfad zu wiederholten Malen über das Bächlein, das sich aber nur im zeitigen Frühjahr und zu Regenzeiten bemerkbar macht. Im warmen Hochsommer ist der unscheinbare Bach vertrocknet, und man hält es kaum für möglich, daß er, wie die Bewohner Wehlens erzählen, einmal fast die ganze Stadt verheert habe.

Es war am 1. September des Jahres 1822, an einem Sonntage. Am frühen Morgen lag auf den Bergen und über den Tälern der ganzen Sächsischen Schweiz ein dichter Nebel, der sich bald in Regen auflöste. Vergeblich versuchte die Sonne das Gewölk zu durchbrechen. Da vernahm man ein dumpfes Rollen. Es donnerte in der Ferne. Ein Gewitter hatte sich [319] entwickelt und zog elbabwärts. Doch hielt dies die braven Wehlener nicht ab, das Haus des Herrn, wohin eben die Glocken riefen, zu besuchen. Die Bewohner des Städtchens sammelten sich, wie sie es gewohnt waren, zum Gottesdienste. Sie zogen hinauf ins Gotteshaus, das damals am Abhange des Berges stand und achteten nicht auf den immer dichter fallenden Regen und auf die schwarzen drohenden Wolkenmassen, welche über die Berge hereinzogen. Die Glocken waren verstummt, die Orgel ertönte, und bald durchbrauste der Gesang: „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr!“ die Kirche.

Die alte Kirche in Stadt Wehlen im Jahre 1882, ein Jahr vor dem Abbruch.

Die Andächtigen vernahmen nicht das Nahen des Gewitters. Der Donner rollte immer dumpfer, und der Regen schlug, vom Sturm getrieben, an die Fenster des Gotteshauses. Es wurde dunkler und dunkler. Nur mit Mühe konnten die Singenden die Schrift im Gesangbuche erkennen. Grelle Blitze leuchteten und erhellten von Zeit zu Zeit das Innere des altehrwürdigen Kirchleins. Niemand aber verließ das Gotteshaus; jetzt verstummte der Gesang, und die Orgel schwieg. Auf der Kanzel erschien aber heute kein Diener des Herrn. Eine dringende Amtsverrichtung hielt ihn fern. Ihn vertrat der Kantor Märkel, der vom Altarplatze aus eine Predigt vorlas. Sie behandelte das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Kantor Märkel [320] verstand es, seine Zuhörer zu fesseln. Mit einer wahren Begeisterung sprach er, und der Wohllaut seiner Stimme drang erwärmend in die Herzen der Versammelten. Man lauschte andächtig seinen Worten und merkte dabei gar nicht, wie das Unwetter draußen immer bedrohlicher tobte und förmlich raste. Auf jeder Silbe des Sprechers lag eine höhere Weihe, und das düstere Walten der Elemente außerhalb des Gotteshauses erhöhte die fromme Andacht nur noch mehr. Der begeisterte Kantor war in seiner Vorlesung eben bis zu den Worten gekommen: „Die Sturmglocke tönt; hast du

Kirche zu Stadt Wehlen.

nur eine Hand, mit der du helfen kannst, so säume nicht! Fort, fort, wer helfen kann!“ – Noch waren aber diese Worte nicht ganz verhallt, als plötzlich, gleich einer Wahnsinnigen, eine Frau in die Kirche hereingestürzt kam. Ihre Blicke und Mienen kündeten Furcht, Schrecken und Entsetzen an. Mit bebender Stimme rief sie: „Rettet euch! Rettet euch! Die Flut kommt!“ – Die andächtigen Kirchenbesucher vernahmen den Notschrei, der von der Wölbung der Kirche schaurig zurückhallte. Viele, die das hastige Eintreten der Frau nicht bemerkt hatten, glaubten, man habe es mit einer Irrsinnigen [321] zu tun. Sie setzte aber ihr Rufen fort, ihre Stimme wurde immer lauter, und schließlich versuchte das Weib es, diejenigen, welche sich in seiner Nähe befanden, geradezu hinauszudrängen.

Kantor Märkel hielt in seiner Vorlesung inne. Eine tiefe Stille trat ein, die freilich nur wenige Augenblicke währte. Denn alsbald vernahm man das Brausen und Rauschen der mächtigen Gewässer. Leichenblässe bedeckte die Gesichter. Jeder ahnte die große Gefahr. Die Andacht war vorüber. Alles stürzte zur Tür hinaus, um schnell heimzukommen. Doch welch ein Bild der Verwüstung sah man vor sich! Zwischen der Kirche und dem jenseitigen Berge tobte eine furchtbare Wasserflut. Niemand wußte, wo aus, wo ein. Zum Städtchen hinunterzukommen, das war nicht mehr möglich; unten wogte ein brausender See.

In der Nähe der Dörfer Uttewalde und Lohmen war ein verheerender Wolkenbruch niedergegangen, ein Wolkenbruch, wie man ihn seit Menschengedenken in dieser Gegend nicht erlebt hatte. Das Wasser bahnte sich in gewaltigen Wogen nach dem Uttewalder Grunde zu einen Weg. Bäume wurden entwurzelt, Felsblöcke unterwaschen und von der Flut mit fortgerissen. In rasender Eile schossen die Wassermassen nach dem Städtchen Wehlen herein, Schutt, Schlamm, entwurzelte Bäume, losgerissene Felsen und große Quadersandsteine mit sich führend. Selbst Trümmer von Gebäuden brachte die Flut mit sich; denn nicht wenige Häuser waren von Grund aus weggewaschen worden. Tief in den Elbstrom hinein bildete sich von allen diesen Gegenständen ein förmlicher Damm. – Das Elend war groß. Männer, Frauen und Kinder standen händeringend vor den Trümmern ihrer ehemaligen Wohnungen. Hunderte von arbeitsamen Bürgern waren in wenigen Minuten obdachlos und bettelarm geworden. Auch Menschenleben waren leider zu beklagen.

In den umliegenden Ortschaften, wie in Lohmen, Krippen und Rathen, hatte das Unwetter ebenfalls nicht geringen Schaden verursacht; doch das Städtchen Wehlen war wohl am schwersten und härtesten heimgesucht worden. Es hat Jahre gedauert, ehe die demselben geschlagenen Wunden verheilt waren, obgleich mildtätige Menschen es nicht an Hilfe und reichlicher Unterstützung fehlen ließen.

Heute sieht man freilich von dem damals angerichteten Schaden in Wehlen nichts mehr. Freundlich blicken die weinumrankten Häuser und Villen den Wanderer an und laden ihn zur Rast ein. Die Zeit hat alles wieder ausgeglichen. Heute hält man es kaum für möglich, daß so etwas hier hat vorkommen können; die Alten jedoch, die Augenzeugen gewesen waren, berichteten noch mit Grausen von dem Schreckenstage der Stadt Wehlen!

Der brave Kantor Märkel ist seit fast einem halben Jahrhundert nicht mehr unter den Lebenden. Er starb im Jahre 1860. Auf dem Kirchhofe zu Wehlen findet man sein Grab. Er war ein allgemein beliebter Mann und lebt noch heute in den Herzen der guten Wehlener fort, die einst seine Schüler waren. Märkel war auch eine wissenschaftlich berühmte Persönlichkeit. Er zeichnete sich nicht nur als tüchtiger Musiker aus, sondern er war auch ein großer Naturfreund und Naturforscher. Märkel besaß als bedeutender Käferkenner einen weithin klingenden Ruf. Im Wehlener Grunde, dem unteren Teil des Uttewalder Grundes, ist ihm ein Denkmal errichtet worden. An einer Felsenwand, auf einer daselbst angebrachten Gedenktafel, ist folgende Inschrift zu lesen:

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„Dem gründlichen Erforscher dieser Gegend,
Friedrich Märkel, Kantor in Wehlen,
in seinem Sterbejahre 1860.“

Wehlen zählt gegen 1900 Einwohner. Die meisten von ihnen beschäftigen sich, wie schon früher, mit Steinbrecherei, Schiffahrt, Schuhmacherei und Weberei. In der Umgegend werden Hopfenbau und Weinbau getrieben. Fremde wählen den lieblichen Ort gern zum Sommeraufenthalt und fühlen sich in der herrlichen Luft und unter den biederen und schlichten Bewohnern desselben sehr wohl. Ein besonderer Schmuck des trauten Städtchens ist die alte Burg Wehlen, deren Trümmer über die Stadt emporragen. Die Burg Wehlen verfiel schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Sie war einst der Lieblingssitz des Markgrafen Heinrich, mit dem Beinamen der Erlauchte. Die Burgreste sind nicht mehr bedeutend, doch ist der Besuch derselben immerhin ein recht lohnender; denn vom höchsten Teile der Ruine aus hat man eine herrliche Aussicht. Am Fuße des Burgberges liegt das liebe Städtchen, ihm gegenüber das Dörfchen Pötzscha. Zwischen beiden Orten strömt die Elbe dahin. Links von Pötzscha grüßen die Rabensteine und die Bärensteine herüber, aus weiterer Entfernung der Lilienstein, der Königstein und die Höhen des östlichen Erzgebirges. Kommst du, lieber Leser, einmal nach dem Städtchen Wehlen, dann versäume nicht, der alten Burg einen Besuch abzustatten. Vergiß aber auch nicht, an den Schreckenstag Wehlens zu denken und beherzige wohl, daß auch da zuweilen das Unglück mahnt, wo die Natur alle ihre Reize ausgebreitet hat.