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Ein Sohn Thüringens (Die Gartenlaube 1865/34)

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Titel: Ein Sohn Thüringens
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 539–542
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Nachruf auf Berthold Sigismund
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Ein Sohn Thüringens.

„Ein Sohn des sang- und liederreichen Thüringens, der seine Lieder voll tiefer Naturempfindung, voll reinen Menschengefühls, voll wahrhafter Poesie gesungen und erlebt hat auf langer Wanderschaft. Er hat ein gut Stück gesehen von ‚der schönen, weiten Welt‘, zu der’s ihn so sehnsüchtig hinauszog über die grünen Waldberge seines heimathlichen Thales. Aber zuletzt hat’s ihn doch nicht gelitten da draußen in der Fremde, fern von der Heimath, und er hat all die Herrlichkeit der Welt verlassen und ist wieder zurückgekehrt in den grünen Waldfrieden seines thüringischen Heimatthales. Da bin ich ihm begegnet und hab’ ihn kennen gelernt zu guter Stunde unter seinen Büchern und Naturstudien, bin mit ihm gewandert manchen schönen Tag und hab’ es ihm auf den Kopf zugesagt, daß er ein Dichter sein müsse, ohne daß ich wußte, ob er jemals ein Gedicht gemacht; und eigentlich wußte das fast Niemand, kaum er selber. Er war der einzige lyrische Poet unter den unzähligen, die mir in meinem Leben bekannt geworden, von denen das alte Wort: ‚Dichter lieben nicht zu schweigen, wollen sich der Menge zeigen‘ etc. nicht galt.“

Mit diesen warmen Worten charakterisirt Adolph Stahr in der Einleitung seiner Ausgabe von Berthold Sigismund’s „Liedern eines fahrenden Schülers“, treffend eine der hervorragendsten Seiten des zu früh von uns geschiedenen, uns unvergeßlichen Dichters und Schriftstellers, sinnigen Naturforschers, hingebenden Jugend- und Volksfreunds. Auch die „Gartenlaube“ verlor in ihm einen vieljährigen, gediegenen Mitarbeiter, und sie glaubt nur die Pflicht der Dankbarkeit gegen den Hingeschiedenen zu erfüllen, wenn sie ihren Lesern das ansprechende Bild seines Lebens vorführt.

Ja, das „Wandern und Singen“ in heimathlicher Natur war seine größte Lust und Freude! „So fröhlich, frisch und vogelfrei in’s Blaue fortzustreben, die schöne, weite Welt zu sehen“, das war von Jugend auf sein sehnsüchtiges Verlangen!

Die ersten Stiefeln trug ich
Und saß am Berg allein,
Da sann und sann und frug ich:
Wie muß es drüben sein,
Jenseits der Berge Zinnen,
Dort hinter’m Waldessaum?
Des Tags war das mein Sinnen,
Und Nachts war das mein Traum.

Den Vater fragt’ ich schüchtern;
Doch lächelnd sagt er mir:
‚Glaub’ Träumen nicht und Dichtern!
Dort ist es grad wie hier.‘
Nein, nein, was hold mir träumte,
Ist wohl des Suchens werth!
Ungläubig ich mir zäumte
Geheim mein Steckenpferd,

Und ritt im schnellsten Traben
Den steilsten Berg hinauf;
Doch da verfolgt den Knaben
In sorglich schnellem Lauf
Die Mutter, und sie sperrten
Mich hinter’n Fliederzaun;
Ich sollte nicht die Gärten
Jenseits der Berge schaun.

Zerbrochen ist das Pferdchen,
Das ich als Knabe ritt,
Doch läuft mein Steckenpferdchen
Noch jetzt denselben Schritt.
Wenn Berge vor mir blauen,
Da bin ich gleich entbrannt,
Dort hinter’m Berg zu schauen
Das wunderschöne Land.

Wandernd und singend belauscht er die Natur bis in die Tiefen ihrer geheimsten Werkstätte; als rüstiger Wanderer durchforscht er mit offenem Auge und Herzen Land und Leute; wandernd und singend bringt er selbst den Leidenden Trost und Hülfe; auf weihevollen Spaziergängen lehrt er seine Kinder und Schüler die irdische Heimath kennen und lieben – auf fröhlicher Wanderschaft gebietet ihm endlich der Tod das unerbittliche Halt.

Das Leben eines reichbegabten, edlen Mannes, selbst wenn es, wie das unseres Sigismund, in seinen äußern Verhältnissen nichts Ungewöhnliches bietet, ist stets lehrreich und anziehend, erhält aber ein höheres, psychologisches Interesse, wenn sein Bildungsgang die zu duftigen Blüthen und segensreichen Früchten sich entwickelnden Keime und Knospen schon früh gelegt und sorgfältig gepflegt erkennen läßt. Auch Sigismund’s Werden und Wesen, seine Gefühls- und Anschauungsweise wurzelt unverkennbar in der goldnen Jugendzeit und in den glücklichen Verhältnissen seiner ersten Umgebung. In Stadtilm im Schwarzburgschen am 19. März 1819 geboren, verlebte er den größten Theil seiner Jugend in Blankenburg am Thüringer Walde, dem Wohnsitze seiner Voreltern, wohin sein Vater als Justizamtmann 1828 versetzt wurde. Die Lage dieses Städtchens im freundlichen Thalschooße der Rinne, gehoben durch die auf steil emporragendem Berge thronenden Ruinen des Greifensteins, ist so reizend, daß selbst Fürst Pückler einst entzückt äußerte: „Hätte ich nicht Muskau, möchte ich Blankenburg haben!“ Hier in den stillen Thälern mit dem traulichen Wellenrauschen, in den tiefen Felsgründen mit ihren heimlichen Waldesschluchten, bei den ernsten Denkmälern der Vorzeit sog sein weiches, für Naturschönheit empfängliches Gemüth die ganze Zauberfülle der Romantik ein, empfing er den Weihekuß des Genius, der seine Dichtungen, sein ganzes Wesen durchweht. Und wer die „unschuldigen, liebevollen, naturwahren Poesien des fahrenden Schülers recht genießen, die [540] schlichte Einfalt und Keuschheit ihrer Sprache ganz verstehen will, muß selbst hinauswandern in das tannengrüne, waldduftige Thüringer Land –

Wer den Dichter will versteh’n,
Muß in Dichters Lande geh’n.

Hier in einer Natur von seltener Reichhaltigkeit der Thier- und Pflanzenformen, von mannigfaltigen Gebirgs- und Steinarten wurde er als Knabe schon zum Beobachten und Forschen angeregt, trieb er als „kleiner Wildfang“ auf einsamen Streifzügen in Wald und Feld seine ersten Naturstudien, lernte er schon früh den hohen Werth selbstgefundener Wahrheiten ahnen und die beseligendsten Freuden im Umgange mit der Natur empfinden. Eine sorgfältige häusliche Erziehung wirkte nicht minder bestimmend auf seine Geistes- und Herzensbildung. Berthold fand gerade in seiner engeren Familie die trefflichsten Vorbilder christlicher Tugenden und athmete früh den Geist der Liebe und Demuth im elterlichen Hause. Neben dem Unterrichte der Bürgerschule bereitete ihn der treusorgende Vater selbst für das Gymnasium zu Rudolstadt vor und hatte die Freude, seinen dreizehnjährigen Sohn als Secundaner aufgenommen zu sehen; während die treffliche Mutter, eine sorgsame, fromme Hausfrau, den Hauptgrund zu seiner Herzensbildung legte. Seine würdige Großmutter, die er uns als eine „einfache, brave, resolute Thüringer Bürgerfrau, schlecht und recht und gottesfürchtig“ schildert, weckte in ihm den frommen Sinn, das Sehnen nach sittlicher Vollkommenheit. „Geheimes, ahnungsvolles Grauen“ erfüllt den kleinen Knaben, wenn er die altehrwürdige, mit hohen Zwillingsthürmen in herrlichen Sculpturen gezierte Kirche seiner Vaterstadt ungesehen betritt und im „heißen, stillen Gebet hofft – Gott zu sehen“. – An seinen Eltern und sechs jüngeren Geschwistern hing er mit der innigsten Liebe; sein einziger Bruder war ihm der „treueste Herzensfreund“; nirgends fühlte er sich glücklicher, als im trauten Familienkreise, „wo die Schwestern eifrig drehn die Rädchen“ und „des Mütterleins Segen lieblich wie Maiduft waltet“, so wurde ihm in frühester Tugend das hohe – und leider jetzt so seltene – Glück eines innigen Familienlebens zu Theil und blieb ihm Bedürfniß für das ganze Leben. Fern von dem elterlichen Hause, in der „Großstadt Gebrause“, umschwebt ihn stets das Bild der wonnigstillen Heimath, und mit „traurigsüßem Sehnen“ gedenkt er in seinen Liedern oft des theuern Vaterhauses.

Ohne Heimath wäre der Sterne
Gesegnetster mir öd und leer.
Zu Haus ist doch das rechte Glück!

Diesen Sinn für trautes Familienleben, die schönste Mitgift des väterlichen Hauses, trug er auch als Mann in seinen eignen Hausstand über. Er war es, der in ihm das warme Interesse und die hingebende Liebe für Kinder und Kindererziehung erweckte und ihm durch das ganze Leben ein genügsames, kindlichfrohes Herz erhielt. Goethes Ausspruch, daß das, „was sogar die Frauen an uns ungebildet lassen, die Kinder ausbilden, wenn wir uns mit ihnen abgeben“, hat sich an Sigismund im vollsten Maße bewahrheitet.

 Unsre Welt
Wär’ ohne Kinder schlecht bestellt;
Ein Gastmahl wär’ sie ohne Wein,
Ein Sonntag ohne Sonnenschein,
Ein Garten ohne Blumenzier,
Ohn’ Drosselschlag ein Waldrevier,
Ohn’ Sang und Klang ein Hochzeitsfest.

Und als ihm selbst die „höchste Ehre und Freude dieser Erde“, Vater zu sein, bescheert wurde, erschien ihm kein Gegenstand der Naturforschung würdiger, als das nächste und theuerste Wesen, die Entfaltung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu beobachten, Knospe um Knospe zu belauschen. Eine Frucht dieser mit liebendem Vaterblicke gemachten Studien war das Schriftchen „Kind und Welt“ (Braunschweig bei Vieweg 1856), eine genetische Anthropologie, allgemein faßlich, mit tiefem, naturtreuem Verständniß und der ganzen Liebe eines herzigen Kinderfreundes geschrieben. Ammon empfiehlt in seinem bekannten Werke „Die ersten Mutterpflichten“ dieses liebliche Büchlein allen Eltern und Kinderfreunden, die Freude an Kindern und den Wunsch haben, sich über die Entwickelung derselben an der Hand ruhiger Beobachtung zu unterrichten. Die Fortsetzung bildet ein anderes Schriftchen, „Die Familie als Schule der Natur“ Leipzig bei Keil), gleich jenem aus Selbstbeobachtung hervorgegangen und durchweht vom Geiste sinniger Naturforschung und weiser Pädagogik, in welchem Sigismund allgemeine Regeln über den naturkundlichen Unterricht giebt und die von ihm erprobte Methode darlegt, das Kind vom zartesten Alter in die Natur einzuführen, dasselbe durch eigene Thätigkeit die Natur anschauen, denkend betrachten und ästhetisch auffassen zu lehren.

So suchte Sigismund den Familienkreis zur Schule der Natur und zur Quelle der reinsten Freuden zu machen; ja, wir dürfen dieses Streben als eine seiner hauptsächlichsten Lebensaufgaben, als Kernpunkt seiner schriftstellerischen Thätigkeit betrachten und die erwähnten Werke, so wie die zahlreichen Beiträge für diejenigen Journale, die für die Hebung des Familienlebens und für die belehrende Unterhaltung „am häuslichen Heerd“ wirken, als die besten Gaben bezeichnen, die wir ihm verdanken. Auch für die darstellende Kunst besaß unser Sigismund ein verständiges, feingebildetes Urtheil, war selbst ein geschickter Zeichner und Porcellanmaler – eine Kunst, zu der er ebenfalls als Knabe die erste Anregung durch einen befreundeten Maler in Blankenburg empfing – und würde gewiß als Künstler Vorzügliches geleistet haben, hätte er sein Talent nach dieser Seite hin ausgebildet. In seinen Gedichten liefert er uns so manches reizende Natur- und Genrebildchen voll Leben und Wahrheit, mit einer Farbenfrische gemalt, als sähen wir dasselbe unter dem Pinsel einer Meisterhand entstehen; seine „Thüringer Waldblumen“ und besonders seine „Idyllen und Genrebilder“ weist er mit so gewandter Feder und köstlichem Humor zu zeichnen, als sei er Ludwig Richters würdiger Schüler.

„An den Raphaels erbaut’ ich mich noch immer, doch ich seh’
Gern zu Zeilen auch ein Bildchen von Ostad und Teniers.“

Gediegene „Hausmusik“ und Gesang, vorzüglich Volks- und Kindergesang, liebte er außerordentlich, sang selbst einen schönen Bariton und trug namentlich die Schubert’schen Lieder mit tiefem Gefühle vor. Weniger begeistert war er für die Oper, „die er verstockt meidet, wenn ihn nicht der Mozart lockt“. Seine Kinder, so wie früher auch die Schwestern, unterrichtete er selbst im Clavierspielen und singen.

Mit Sigismund’s Streben, das Familienleben zu vertiefen, steht sein reges Interesse für das Volk und dessen Naturgeschichte im engsten Zusammenhang. Wenn das Volksleben in der Familie und Kindererziehung seine Grundpfeiler hat, so betrachtete er auch dessen Erforschung und Veredlung als nächste Lebensansgabe; wie das Kind, so war auch die Kindheit der Völker ihm höchster Gegenstand seiner Theilnahme. In der That, es gehörte zu seinen schönsten Freuden, die mannigfaltigen Lebensformen und Berufsthätigkeiten der Menschen, zumal der Gebirgsbewohner zu beobachten, die ja ihre Kindheit am treuesten bewahrten. Die Fragen, welche Wohnungs- und Kleidungsformen, welche Speisen, welche Gewerbe, welche wirthschaftliche und sittliche Zustände, welche Gebräuche, welche Erzeugnisse der bildenden Kunst und Volksdichtung sich bei den Bewohnern einer Gegend vorfinden, ob sie denselben eigenthümlich und durch welche natürliche und geschichtliche Einflüsse sie bedingt sind – diese Fragen hielt er ebenso sehr der Untersuchung werth, wie die Erforschung von Flora und Fauna eines Landes; eine vergleichende Ethnographie der deutschen Gebirgsbewohner bezeichnet er als ein würdiges Strebeziel für die vereinigten Kräfte derer, welche für das deutsche Volksthum Sinn haben. In seiner schlichten, herzgewinnenden Weise verstand er es aber auch, mit dem Volke, selbst mit den niedrigsten Leuten, zu verkehren und sich in die Lage und Weltanschauung armer Menschen zu „träumen“. „Das Loos der glücklichen Armuth erscheint wirklich zuweilen so reizend, daß man wenigstens auf einige Zeit aus der eigenen Haut fahren und sich in eine fremde stecken möchte.“ Eine besondere Gabe besaß er, sich auf ungesuchte Weise die Mundarten, Redefiguren und Sprüchwörter verschiedener Gegenden anzueignen, und hatte überhaupt ein tiefes Verständniß für Geist, Sprache und Dichtung des Volkes. Kurz, er war ein vortrefflicher Beobachter, dessen feine Fühlerfäden überall hinreichten, ein kenntnistreicher, liebevoller Maler des Volkslebens, der mit gleichem Geschick die industriellen Verhältnisse, wie die geschichtlichen Momente und das Volksthümliche darzustellen wußte. Nächst seinen pädagogischen Schriften gehören daher seine ethnographischen Schilderungen zu dem Vorzüglichsten, was aus diesem Gebiete geleistet worden ist. Sauberkeit der Form, Reichthum und Gediegenheit des Inhaltes, klare, anmuthige Naturschilderung zeichnen [541] seine Schriften über den Thüringer Wald, das Voigtland, die Lausitz, das sächsische Erzgebirge aus.

Daß er die ethnographischen Verhältnisse der engern Heimath zu seinem ganz besondern Studium machte, läßt sich erwarten. Es war ihm daher kein Auftrag ehrenvoller und willkommener, als der seiner Regierung, eine Landeskunde für das Fürstenthum Schwarzburg-Rudolstadt zu bearbeiten. Er unterzog sich der eigenthümlich schwierigen und mühsamen Aufgabe mit ganzer Liebe und mit einem Fleiße, dessen er sich nach dem Ausspruche Lessing’s mit Recht selbst rühmen kann. Diese Landeskunde, von welcher leider nur die Oberherrschaft Schwarzburg-Rudolstadt vollendet wurde, die Bearbeitung der Unterherrschaft Frankenhausen aber kaum bis zu den Vorarbeiten gedieh, ist ein würdiges Seitenstück des rühmlichst bekannten Werkes von Brückner über das Herzogthum Meiningen.

Sowie wir Sigismund’s Eigenthümlichkeiten als Dichter und Naturforscher, als Förderer der Jugenderziehung in seinen heimathlichen Verhältnissen begründet fanden, so läßt sich auch die Vorliebe für Volk und Industrie in ihren äußersten Wurzelfäden bis in seine Jugend verfolgen, und sie fand in dem spätern Leben immer neue und reichere Nahrung. Als Knabe mit keck-ritterlichem Wesen lebt und webt er in den Spielen der Jugend, versteht er es, als kleiner Tausendkünstler allerlei Apparate und Spielzeuge herzurichten, und keiner seiner Cameraden war geschickter in der Anfertigung von Weidenflöten, Pfeifen und sonstigen Orchesterinstrumenten zu jenen lieblichen Frühlingsconcerten, die er uns so ergötzlich und mit seliger Jugenderinnerung in „des Knaben Lust und Lehre“ schildert. Unter schlichten, fleißigen Bürgern aufgewachsen, lernte er schon früh ihre volksthümlichen Sitten und Gebräuche, ihre Beschäftigungen und Gewerbe kennen und wurde selbst von seiner Großmutter zu ländlichen Arbeiten angehalten. In der Tischlerwerkstatt seines Nachbars war er täglich zu finden und nahm an diesem Handwerk ein so großes Interesse, daß er seinen Vater dringend bat, ihn doch Tischler werden zu lassen. Der Vater hatte Mühe, diese Neigung zu bekämpfen, und mußte ihm wenigstens gestatten, neben seinen Gymnasialstudien zu Rudolstadt noch zu tischlern. Durch’s ganze Leben widmete er den Gewerben eine liebevolle Aufmerksamkeit und war um die Förderung derselben bemüht. Der junge Tischler machte übrigens auf der Schule die glänzendsten Fortschritte und erwarb sich die Liebe seiner Lehrer in so hohem Grade, daß er schon im achtzehnten Lebensjahre mit den besten Zeugnissen zur Universität entlassen werden konnte. Die Wahl des Berufes wurde ihm schwer. Er hatte Neigung zum Lehrerberuf, allein seine Liebe zu den Naturwissenschaften und sein warmes Mitgefühl für die Leiden der Menschen bestimmten ihn, wider Erwarten seiner Eltern und Lehrer, die medicinische Laufbahn zu ergreifen. Er studirte von 1837–1842 zu Jena, Leipzig und Würzburg, wurde von letzterer Universität zum Doctor promovirt und ließ sich als praktischer Arzt in Blankenburg nieder. Kränklichkeit, mit der er von Jugend auf zu kämpfen hatte, aber in noch weit höherem Grade der lebhafte Drang nach Erweiterung seines geistigen Horizontes, sowie der Wunsch, auch anderwärts Land und Leute kennen zu lernen, veranlaßten ihn, im Jahre 1843 seinen ärztlichen Wirkungskreis zeitweilig aufzugeben und als Hauslehrer in die Schweiz zu gehen.

Berthold Sigismund.

Der Aufenthalt in der Schweiz und zumal die mit seinem Zögling unternommenen Alpenreisen gehörten zu seinen angenehmsten Erinnerungen. Ein Universitätsfreund aus England, durch dessen Umgang er in die englische Literatur eingeführt worden war, verschaffte ihm hierauf eine Stelle als Lehrer der deutschen Sprache und Naturgeschichte zu Worksop[WS 1] bei Nottingham. Nach einjährigem Wirken an dieser Schule und mehrmonatlichem Verweilen in London, während welcher Zeit er Englands Sprache und Volk eifrigst studirte, begab er sich nach Paris, um dort die medicinischen Studien fortzusetzen. Bedenklich leidend, aber „mit hellerem Kopfe“ kehrte er im September 1845 zu den lieben Seinen zurück, erholte sich bald unter der treuen Pflege derselben und trieb mit neuem Eifer Naturwissenschaften und englische Literatur. Selbst die ärztliche Praxis wurde wieder aufgenommen. Mit welchem Samaritergeiste er als „schlichter Bauerndoctor“ wirkte, zeigt am deutlichsten seine Gedichtsammlung „Asclepias, Bilder aus dem Leben eines Landarztes“ (Leipzig bei Wöller); sie ist das schönste und rührendste Zeugniß seines tieffühlenden Menschenherzens. „Ein treuer Krankenwärter, der theilnahmsvoll die armen Leute pflegte und weicher ihre Schmerzenskissen legte“, beklagt er es nicht, wenn ihm der Beruf selbst am Sonntag keine Ruhe und Erholung läßt:

„Ich finde, und das ist mein schönstes Fest,
Auch Sonntagsfreuden an dem Werktage.“

Freilich kam er bei seiner Praxis auf „keinen grünen Zweig“ und opferte ihr noch dazu seine Gesundheit; dagegen fand er in derselben mehr denn je Gelegenheit, seine Volks- und Menschenkenntniß zu erweitern und seine menschenfreundliche, edle Gesinnung zu bethätigen. Auch nach einer andern Seite hin geschah dies, als ihn das Vertrauen seiner Mitbürger zum Oberbürgermeister in Blankenburg wählte. Dieses Amt, dessen Verwaltung in die verhängnißvollen Jahre 1846–1850 fiel, brachte ihm aber auch trotz seiner Redlichkeit, Milde und Freundlichkeit gar manche bittere Erfahrungen, deren er jedoch später nur lächelnd gedachte, und er folgte daher um so lieber dem Rufe als Professor der Naturwissenschaften und der englischen Sprache an das Gymnasium zu Rudolstadt, als ihm diese Stellung einen Wirkungskreis bot, der ganz seiner Neigung und Befähigung entsprach. Ruhe und Milde, Liebenswürdigkeit und Charakterstärke, klarer, anziehender Vortrag machten seine Lehrerwirksamkeit zu einer höchst segensreichen. Als gewiegter, umsichtiger Schulmann zeigte er sich namentlich in seiner letzten Schulrede über die Einführung Shakespeare’s als Schulschriftsteller. Zu Ende des Jahres 1851 verheirathete er sich, ein Schritt, der sein Lebensglück zu einem vollkommenen machte. Von dieser Zeit an entfaltete er trotz seiner wankenden Gesundheit eine Thätigkeit, die wahrhaft bewunderungswürdig zu nennen ist, wenn man bedenkt, daß er neben den zahlreichen Berufsgeschäften und Privatstunden nicht nur die eigenen Kinder unterrichtete und leitete, sondern auch noch Zeit erübrigte, seine Lieblingsstudien zu pflegen und nach außen durch Wort und Schrift gemeinnützig zu wirken. Der Gewerbeverein, dessen Präsident er war, die Fortbildungsschule [542] für junge Handwerker und andere Vereine hatten in ihm einen eifrigen Förderer und verdanken seinen populärwissenschaftlichen Vorträgen die vielfachste Belehrung und Anregung. An das Leben machte er die bescheidensten Ansprüche, zumal ihm seine Kränklichkeit zur Entsagung manchen Genusses zwang; dafür fand er aber in seinen Ferien-Wanderungen, nah und fern, und in seiner schriftstellerischen Thätigkeit die vollste Befriedigung und süßeste Erholung.

Beschäftigt mit der Idee, ein größeres Werk über die Industrie des Thüringer Waldes zu schreiben, griff er, wie alljährlich, so auch in den Ferien des letzten Sommers zum Wanderstabe; sein elfjähriges, wißbegieriges Söhnchen begleitete ihn. Treu dem Grundsatze des alten Weisen „Omnia mea mecum porto“ trug er stets – und auch auf dieser seiner letzten Wanderung – das ihm von seinen Schülerfahrten her lieb und theuer gewordene „Ränzel von Seehundfell, wie es paßt zum Wanderstabe“, und fast wäre dasselbe auch sein Sterbekissen geworden. – Rüstig kam er am 3. August v. J. nach einem mehrtägigen anstrengenden Gebirgsmarsche in Schnepfenthal an, um von da aus unter Führung eines befreundeten Collegen und Gesinnungsgenossen den an Naturschönheit und Industrie so reichen nordwestlichen Theil Thüringens genauer kennen zu lernen. Genußreiche, glückliche Tage verlebten die Freunde auf ihren gemeinschaftlichen Wanderungen – es waren die letzten des „fahrenden Schülers“! Denn als er das interessante Städtchen Schmalkalden verließ, um das Land der armen Nagelschmiede, den wenig gekannten Gebirgswinkel von Oberschönau, aufzusuchen, befiel ihn auf offener Waldstraße sein altes Magenleiden und zwang ihn zur Umkehr. Mit Mühe und Noth erreichte er seine Heimath Rudolstadt und in Folge wiederholten Blutbrechens endete sein reiches, edles Leben am 13. August 1864.

Berthold Sigismund’s Ruf als naturwissenschaftlich-pädagogischer Volksschriftsteller ist ein wohl und fest begründeter. Wenn Schiller als Erforderniß einer guten Volksschrift hinstellt, „dem ekeln Geschmack des Kenners Genüge zu leisten, ohne dadurch dem großen Haufen ungenießbar zu sein, sich an den Kinderverstand des Volkes anzuschmiegen, ohne der Kunst von ihrer Würde zu vergeben“, und die Popularität als eine so schwierige Aufgabe bezeichnet, „daß ihre Lösung der höchste Triumph des Genius genannt werden müsse“ – so hat Sigismund durch seine Arbeiten bewiesen, daß diese Aufgabe keine unmögliche sei. Wahre Musterstücke hat er in populär-naturwissenschaftlichen Abhandlungen geliefert; und wie manches Treffliche hätte sein rastlos strebender Geist uns noch hinterlassen, wenn ihn nicht der Tod so früh vom thatenkräftigen Leben abgerufen. Um so frischer möge sein Gedächtniß bei Alt und Jung im Vaterlande sich erhalten!



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Workshop