Ein Sonntag im Hamburger Hafen
Ein Sonntag im Hamburger Hafen.
Den Hafen müssen Sie an einem Wochentage sehen,“ rät der Hamburger wohlmeinend dem ihn besuchenden Fremden; „dann ist alles im vollen Betriebe. Sonntags ist nicht viel los.“
Das stimmt aber nur bedingungsweise. Wohl breitet sich auch eine Art Sabbathruhe über den umfangreichen Verkehrsmittelpunkt des Welthandelsplatzes aus. Kaufmann und Reeder lassen dann ihre Leute nur arbeiten, wenn’s dringend erforderlich wird, erstens weil löbliche Polizei sich den „Ablaßzettel“ zur teilweisen Aufhebung der Sonntagsruhe mit schwerem Gelde bezahlen läßt, und zweitens, weil Schauermann (Auflader) und Ewerführer höheres Entgelt verlangen, wie’s ihr Gewerkschaftstarif vorschreibt. Aber bei „hiller Zeit“ (d. h. wenn’s viel zu thun giebt) und sobald günstige „Tiden“ (Ebbe- und Flutverhältnisse) benutzt werden müssen, hilft alles nichts, denn auf den Liegeplatz des beladenen Dampfers am Quai wartet schon ein anderer Oceanriese, der wegen Ueberfüllung der Häfen einstweilen „im Strom vertäut“ ist. Bei dem gewaltigen Geschäftsaufschwung der letzten Jahre gilt die Ueberfüllung als Regel, nicht als Ausnahme, trotzdem fort und fort Rat und Bürgerschaft Dutzende von Millionen zur Anlage neuer Hafenbecken bewilligen.
Also laßt die Luken aufklappen, die Krähne sich schwenken und ihre Ketten sich senken, um zu laden oder zu „löschen“ (das Schiff zu entleeren) auch am heiligen Tage, wohlzumerken mit Ausnahme der Stunden der Hauptpredigt, 91/2 bis 111/2! Während dieser ist alle geräuschvolle Thätigkeit völlig untersagt. – Auch am Anlegeplatz der Fischereifahrzeuge herrscht beschränkte Sonntagsruhe; für des Leibes Nahrung sorgen muß der Mensch auch am Sonntag, und nur „frische Fische, gute Fische“ sagt das Sprichwort. Schon um 5 Uhr in der Frühe drängen sich auf den Ewern und Jollen der Finkenwärder und Blankeneser und anderer Bewohner des Elbufers die Käufer, fast sämtlich Vertreter der „zweiten Hand“, welche die im Schiffsraum zappelnden Aale, Schollen und Butten in größeren Mengen, schock-, stieg- oder korbweise, erstehen, um sie dann auf dem Markte oder im Hausverkauf zu „verhökern“; die Hausfrau steht so zeitig nicht auf. Viel gesprochen wird hier beim Feilschen nicht; die Fischer sind wortkarg, und für den Händler ist Zeit Geld, heute gilt’s besonders schnelle Einigung, das wissen beide Teile. Schon nach einigen Stunden werden alle die beschuppten Bewohner der Tiefe auf den Herd gewandert sein, weitaus die meisten als leckeres Sonntagsgericht für den „kleinen Mann“. Aber am besten schmeckt doch, was man selbst gefangen hat. So pilgert denn schon beim ersten Sonnenstrahl der Sonntagsangler dem Hafen zu nach seinem Lieblingsplätzchen zwischen den „Duc d’Alben“, den Anlegepfählen, „wo es am besten beißt“.
Fragt man die Hamburger, [891] woher die Bezeichnung „Duc d’Albe“ stamme, so versichern sie guten Glaubens in hundert Fällen neunundneunzigmal, daß der Herzog von Alba bei seinen Kriegsfahrten in den Niederlanden solche Zusammenstellungen riesiger in den Stromgrund eingerammter Baumstämme erfunden habe. Das ist aber gar nicht der Fall. Der spanische Feldherr unangenehmen Angedenkens hatte ganz andere Dinge im Kopf; ihn gelüstete jedenfalls nicht nach Lorbeeren auf dem Gebiete der Wasserbaukunde. „Dalle“ oder „Dolle“ ist die altniederdeutsche Bezeichnung für einen Pfahl; die Pflöcke am Bordrand des Bootes, zwischen denen die Ruder sich bewegen, heißen noch heutzutage an der norddeutschen „Wasserkante“ Dollen. „Diek“ ist Deich. Aus „Diekdollen“, Deichpfählen, ist seltsamerweise das französisch klingende Wort „Duc d’Alben“ gebildet worden. Wiederholte Versuche selbst sehr einflußreicher Männer der Hansestadt, diesem Ergebnis der Sprachforschung Geltung zu verschaffen, blieben gänzlich fruchtlos: die „Duc d’Alben“ behielten im Hamburger Hafen das im Laufe von Jahrhunderten nun einmal erworbene Bürgerrecht. – Viel gefangen wird aber keineswegs in ihrer Nachbarschaft. Nach stundenlangem Harren und Lauern lohnen den Sonntagsangler kaum einige winzige Weißfischchen, Rotaugen oder sonstiges Fischgesindel; nur höchst selten entzückt ihn „en ord’ntlichen Brassen“ (Barsch), der der Zubereitung daheim wert erscheint. Schadet nichts, es ist doch zu herrlich, nach angestrengter Alltagsarbeit hier gemütlich auf die gelbe Flut zu starren, dabei im „Brösel“ (Pfeifchen) den „shag“ (kurzgeschnittenen, sehr starken Tabak) zu schmauchen und das bunte Gewimmel auf der Fährbrücke daneben an sich vorüberziehen zu lassen.
Selbst das Scherzwort des hinzutretenden guten Bekannten: „Na, Tetje, du leerst woll de Metten dat Swemmen?“ (Nun, Theodorchen, du lehrst wohl die Regenwürmer das Schwimmen?) beantwortet der Sportfreund höchstens mit dem althamburgischen Wahlspruch unverwüstlichen Phlegmas: „Reg di man nich op!“ (Reg’ dich nur nicht auf!)
Gleiche Weisheit dürfte auch die Lebensrichtschnur des wackern Alten sein, der, auf dem Heck seines Ewers sitzend, die Füße auf die „Gangspill“ (Ankerwinde) gestützt, die schönen arbeitsfreien Stunden benutzt, um einmal wahrzunehmen, wie es „auf dem festen Wall“ (am Lande) aussieht, denn das interessiert ihn mehr als der ungeheure Dreimaster hinter ihm, den das Schwimmdock aufs Trockene gehoben hat, damit der Rumpf kalfatert und mit neuen Platten versehen werde. Was mag der Schiffsmann lesen? – Je nun, seine Geistesnahrung ist höchst verschiedener Art. Sie wird ihm unentgeltlich geliefert. An dem einen Sonntag „wrickt“ ein Kahn heran (wricken heißt die Fortbewegung des Fahrzeuges durch ein einziges schraubenartig am Bug gedrehtes Ruder), aus dem ein Mann mit roter Halsbinde ein Flugblatt an Bord wirft, das den „Arbeitsbruder“ feurig beschwört, „sich zu organisieren“, oder ihn dringend ermahnt, ausständigen Genossen nicht in den Rücken zu fallen, vielmehr ein Scherflein zu ihren Gunsten zu spenden. An dem andern Sonntag überreicht aus der vom Benzinmotor getriebenen Missionsbarkasse ein schwarzgekleideter freundlicher Herr mit weißer Krawatte ein christliches Wochenblatt oder eine Erbauungsschrift für die, denen der Kirchenbesuch unmöglich ist. So berühren sich die Extreme. Der Alte studiert sicherlich beide Litteraturerzeugnisse mit gleich großem Bedacht von Anfang bis zu Ende; was wüßte er heute, am Ruhetage, besseres anzufangen!
Nichts gekostet haben auch die Pläne von Hamburg nebst Vergnügungsanzeiger, die die soeben von Orten der Umgegend angekommenen Ausflügler in den Händen halten; auf der letzten Eisenbahnstation sind solche Empfehlungen in Masse gratis in alle Wagen geschleudert worden. Zum Hafen sind die Besucher glücklich gelangt; wo ist aber nun der Abfahrtsort der Vergnügungsdampfer? Die kleinen „schnuddeligen“ Dinger da unten beim Baumwall können’s doch nicht sein? „Nein, lieber Herr,“ meint höflich der um Rat gefragte Schutzmann, „das sind Schlepper. Die spannen sich wochentags vor die großen Segelschiffe oder vor die mit Waren beladenen Schuten und bugsieren sie dahin, wo es gewünscht wird. Heute ruhen sie aus. Sehen Sie ’mal: hier immer längs der Wasserkante, bei den alten Häusern da mit den spitzen Giebeln, führt der Weg. Nach und nach kommen dann die Landungspontons. Dort steht auf Tafeln, wohin es geht: Hafenfähre, Hafenrundfahrt, Harburg, Neumühlen, Oevelgönne, Nienstedten, Dockenhuden, Blankenese, Stade, Glückstadt, Cuxhaven, Helgoland.“
„Hurra, da können wir nicht fehlen!“ ruft der flotte Junge. So geht es denn entlang den „Vorsetzen“, an den beflaggten Masten vorbei – am Sonntag muß jedes Schiff mindestens die Flagge seines Landes hissen, so will es der Brauch. Staunend betrachten die Kinder namentlich auch die Erdgeschosse der [892] Häuser, meist Fachwerkbauten aus vergangenen Jahrhunderten, mit den vielen Läden und Wirtschaften, die mehr Inschriften in englischer Sprache haben als in deutscher; ist doch die Sprache Albions nun einmal das Seemannslatein, und „Wine, beer and 8pirits“ oder „Ship-Chandler“ (Händler für Schiffer) oder „Barber-Shop“ (Barbierladen) versteht auch der Schwede und der Portugiese. Die „seebefahrene Menschheit“ Deutschlands, die dort wohnt oder verkehrt, ist übrigens trotz ihrer vielsprachigen Eigenart so kerndeutsch und gut reichstreu wie nur irgend ein deutscher Stamm.
Da legt die Hafenfähre an; nur zehn Pfennige die Person kostet es, und man sieht so ziemlich dasselbe wie auf den etwas hübscher ausgestatteten Dampfern der Hafenrundfahrt, die in mancherlei Abstufungen bedeutend teurer sind. Die Fährdampfer berühren alle „Höfte“ (Spitzen, Kopfenden) der Quais; die Rundfahrtdampfer fahren weiter in die vielen Hafenbecken hinein, so daß man die Schiffe, die Elbbrücken, die Krähne etc. bequemer besichtigen kann. Wer aber die Hamburger Hafenbevölkerung in der Nähe kennenlernen will, der gehe auf den Fährdampfer! Dort wird unverfälschtes richtiges Plattdeutsch gesprochen. Fein genug ist heute aber auch hier die Toilette der meisten Passagiere; wenn „Jan Maat“ (so nennt sich der Matrose am liebsten, der Ausdruck älterer Romane „Teerjacke“ ist ihm völlig fremd) sonntäglich an Land geht, versteht er ebenso gut, sich „aufzudonnern“, wie die Mutter dieses schönen Worts, die Berliner Köchin.
Das Hamburger Sonntagspublikum aber wendet sich weder der „Fähre“, noch der „Rundfahrt“ zu; es wallt in immer stärker werdenden Scharen nach den Kassen an den Eingängen zu den langgestreckten Pontons der St. Pauli-Landungsbrücke, dem Hauptanlegeplatze aller der größeren und kleineren Flußdampfschiffe, die nach den vielen Vergnügungsorten der Stromufer fahren, meist elbeabwärts belegen. Denn zwischen Altona und Blankenese bietet das bergartig aufsteigende rechte Elbufer mit seinen unzähligen Landhäusern und -häuschen inmitten grüner Gärten, seinen von wundervollen Parkanlagen waldartig umgebenen prächtigen Palästen „königlicher Kaufleute“ einen entzückenden Reiz; es ist die Freude der auswärtigen Besucher, der Stolz der Einheimischen! Und während der Dampferfahrgast das majestätische Panorama an sich vorüberziehen läßt, umfaßt sein Blick zugleich den breiten Strom, belebt von Fahrzeugen aller Art, von den zierlichen Gighs und Wherries der Ruderklubs an bis zu den „Windhunden des Weltmeeres“, den schwimmenden Hotels der Amerika-, Asia- und Afrikalinien, oder den Fünfmaster-Seglerkolossen der neuesten Zeit, alles bunt beflaggt, und von manchem Bord tönen die Klänge des von einem Verein mitgenommenen Musikkorps oder einer Stewardkapelle! So viel Schönes für so wenig Geld, daß es auch der kinderreiche Familienvater sich „zähmen“ kann: darum auf „mit Kind und Küken“ nach dem Hafen! Macht der „Sonntag“ seinem Namen nur einigermaßen Ehre mit schönem Wetter, so wimmelt es bald auf dem Anlegeplatz beim Hafenthor von Hunderten, die sehnsüchtig der Beförderung harren.
Doch dies Harren hat auch seine Klippen, die selbst erfahrene Seestadtbewohner nicht immer zu meiden wissen. „Man ümmer sinnig, wir kommen je alle Mann noch mit,“ hatte der biedere Hamburger Bürger zu seiner besseren Hälfte gesagt, als sie mit den Kindern vorwärts drängte und in erster Reihe stehen wollte; „komm, Mama, setz’ dir bei mich auf der Bank, ich ruh’ noch en büschen aus, is’ Zeit überleidig genug, nich?“ Die Gattin jedoch erklärt, sofort Plätze auf Deck belegen zu wollen, „da kriegt man am besten was zu sehen,“ und verharrt am Rande des Pontons. Als endlich der Dampfer anlegt, entsteht ein furchtbares Gedränge; mühsam wehren die Beamten der „Hafenrunde“ der Ueberfüllung des Fahrzeuges und ordnen dessen sofortige Abfahrt an. Die Trossen (Haltetaue) werden gelöst, die Schaufelräder peitschen das Wasser … Da entsteht [894] Geschrei an Bord: „Vadder, Vadder, wo büst du denn?“ – „Harrjees, Vadder slöppt! (schläft)“ ruft eines der Kinder. Das Haupt der Familie, das leider den lobenswerten Bestrebungen der Gesellschaft vom blauen Kreuz sich anzuschließen niemals geneigt war, ist sanft und selig entschlummert. „Man nich so iilig (eilig),“ brummt er, als der Brückenwärter ihn weckt; „is de ‚Primus‘ nu endlich dar?“ – Ja, da ist er, dort, einige Klafter südwärts auf freier Elbe, und wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen, man lacht den Pechvogel noch gehörig aus. „Mit’n nächsten Dampfer komm’ ich nach!“ ruft er mit Stentorstimme den sich entfernenden Lieben noch zu und richtet dann seine Schritte zum Fährpavillon, dessen „nordische Maibowle“, nämlich ein sehr süßer, sehr heißer und sehr „steifer“ Grog, ihm soeben den bösen Streich gespielt hat. „Noch eenen, Herr Möller?“ fragt dienstbereit der Kellner. „Nee, Fritz, lieber en Selters!“ erwidert trübselig der Sitzengebliebene, der kommenden Gardinenpredigt gedenkend. Aber das lebhafte Getriebe auf der von Menschen wimmelnden Straße vor ihm heitert ihn rasch wieder auf, und bald murmelt er vergnügt: „Is doch zu nett, so’n Sonntag in unserm lieben Hamburger Hnfen!“