Ein Sonntagmorgen in Chislehurst

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Textdaten
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Autor: A. D.
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Titel: Ein Sonntagmorgen in Chislehurst
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 704–705
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[704] Ein Sonntagmorgen in Chislehurst. Die englischen Glocken mit ihrem für jedes Fremden Ohr so eintönigen Dreiklang riefen die frommen „Ladies and Gentlemen“ zur Kirche. England feierte seinen Sonntag. Wenn auch vielleicht nirgends in der Welt, Schottland ausgenommen, die strengste Orthodoxie die Menschen so beherrscht wie hier, ja mitunter diese „Sonntagsfrömmigkeit“ durch eine starke Dosis von Pedanterie den Schein des Lächerlichen annimmt, so bringt sie doch wenigstens etwas Gutes zu Wege: das ist die stille, göttliche Ruhe allüberall, in Feld und Wald, die nimmer gestört wird durch überthätige Arbeit. Wie oft sieht man bei uns in Deutschland, namentlich im Norden, den Handwerker mit Weib und Kind am Sonntagsmorgen hinausziehen auf’s Feld, den einzigen freien Tag seines Arbeiterlebens dazu benutzend, die oft gar schmale Ernte des Stückchens Land im Schweiße seines Angesichtes zu gewinnen. Gar nicht selten wird dann Caro vor den kleinen Handwagen gespannt, und nach Kräften bellend und heulend trabt er nun durch die Straßen. Ein englischer Arbeiter dagegen würde zwar sein Gewissen durchaus nicht zu belasten glauben, wenn er seine stillen Sonntagsbetrachtungen vor dem Schenktisch hielte, es jedoch als eine Todsünde betrachten, an einem Sonntag auch nur den Spaten zu erheben.

Ein klarer Herbsttag lag über Chislehurst und gab der paradiesisch schönen Landschaft noch erhöhte Reize. Man nennt die Grafschaft Kent den Garten Englands. Wenn dies mit Recht geschieht, dann ist Chislehurst das beste Blumenbeet in diesem Garten, ein Meisterwerk, das der Gärtner schuf. Uralte Bäume, Eichen, die sich sehr wohl „deutsche Eichen“ nennen könnten, schlanke Buchen und plaudernde Birken, die den Epheu wie einen geliebten Cameraden über den Stamm hinweg und bis an die Zweige hinein zu sich heran gezogen haben, rahmen die in ihrem frischen Grün schier leuchtenden Wiesen, die sanft ansteigenden Abhänge ein. Wiesenpfade führen durch die Weiden. Sie sind heute belebt von Jung und Alt; Männlein und Weiblein, das Gebetbuch in der Hand, sieht man zur Kirche gehen. Wie kleine weiße und farbige Muscheln leuchten hier und da geschmackvolle Landhäuser, saubere Farmen, auch wohl ein einsames [705] Parkhüterhäuschen, im Rococostil erbaut, aus dem Grün hervor, oder tauchen gleich kleinen heimlichen Nestern im Waldesdunkel auf, Frieden und Ruhe dem Nahenden verheißend.

Oberhalb Chislehurst liegt ein schöner alter Park. Nur durch ein eisernes fein durchbrochenes Thor kann man einen Blick hinein thun, sonst ist Alles dem Auge des Fremden durch eine ringsum laufende hölzerne Mauer verschlossen. Durch die Bäume sieht man den oberen Theil eines englischen Landhauses schimmern, nicht besser oder schlechter, als es eine jede gute englische Familie besitzt. Wahrlich, der einstige Eigenthümer dieses Hauses hat sich’s wohl niemals träumen lassen, daß ein Mann, durch dessen gesprochenes oder ungesprochenes Wort einst Europa sich regieren ließ, hier in Chislehursts Stille nachdenken werde über verlorene Größe, über die Launen des Glücks und über des Schicksals Walten, bis dann die letzte Großmacht ihn zwingen werde, für ewig von der Bühne der Weltereignisse zu verschwinden. Was der kranke Mann in seinen letzten Stunden gefühlt, gedacht, wer kann es sagen? wer in die Tiefen einer Seele blicken, die im Leben sich niemals ganz offenbart hat, im Tode nun für ewig verstummt ist? Von den Todten aber soll man nur Gutes reden – den Schleier der Liebe über Napoleon den Dritten!

Ich fragte den Parkhüter, ob die Kaiserin jetzt in Chislehurst sei. Er bejahte es, und nun wußte ich auch, wo ich sie bestimmt sehen würde, die einst so hochgefeierte Eugenie. Die Glocken der englischen Hochkirche läuteten noch immer und übertönten völlig ein einsames Glöckchen, dessen Klänge ich erst deutlicher vernahm, als ich mich einer kleinen, sehr hübsch gelegenen Capelle näherte, in welcher der katholische Gottesdienst abgehalten wird. Die Nähe der kleinen Gemeinde, verbunden mit der reizenden, gesunden Lage Chislehursts, war wohl einer der Hauptgründe, welche die kaiserliche Familie bewogen, hier ihren Aufenthalt zu wählen, als sie Frankreich verlassen mußte. Die Capelle ist überaus einfach eingerichtet; die Plätze der kaiserlichen Familie sind nur durch etwas bessere Stühle und Kniekissen, die sich allerdings dicht am Altar befinden, ausgezeichnet. Zur Rechten der Capelle befindet sich in einem Nebenraume das Grab des Kaisers. Dort erblickt man durch ein bronzenes, weites Gitter den reich mit Kränzen geschmückten Sarkophag. Eine wunderbar schöne Decoration schmückt die Außenseite dieses Gitters und somit auch die sonst ziemlich schmucklose Capelle. Die seltensten Blumen in Bouquets, Kränzen und Guirlanden liegen vor dem Gitter ausgestreut, dazwischen prächtige Schleifen von Gold, Silber, Atlas, von Künstlerhand mit Blumen und Emblemen reich gestickt. Auf der linken Seite des Gitters steht aufrecht das Wappen Napoleon’s. Ein getriebener Silberrahmen faßt ein vielleicht drei Fuß hohes Spiegelglas ein; auf demselben liegt in goldenen Lettern der Namenszug des Kaisers; darüber befinden sich, gleichsam aus dem Namen aufsteigend, goldene Palmenzweige, die trauernd die Blätter darüber zu neigen scheinen. Veilchen, die Lieblinge des Kaisers, sind in großer Menge vorhanden und ziehen sich in armdicken Guirlanden über und um das Ganze: einen rührenden Eindruck aber macht ein einfach schwarz geflochtenes Körbchen; es bildet gleichsam den Schluß des Ganzen und ist bis über den Rand angefüllt mit zarten Stiefmütterchen, die alle die Köpfchen zum Grabe des Kaisers neigen.

Der Eintritt zur Kirche, selbst zum Gottesdienst, ist nur gegen Bezahlung eines Shillings gestattet. Es geschieht dies natürlich „zum besten der Kirche“, wohl auch um zu vermeiden, daß nicht allzuviele Neugierige den Gottesdienst und die Andacht der Kaiserin stören. Für meinen Shilling gab mir jedoch der Kirchendiener einen sehr guten Platz, dicht an dem Gitter, welches die Gruft abschließt, und von wo ich die Kirche, den Altar und den Platz der Kaiserin gut übersehen konnte. Die kleine Kirche war dicht besetzt von der gläubigen Gemeinde; zur pünktlichen Zeit öffnete der Pförtner beide Kirchenthüren, und Eugenie, auf den Arm ihres Sohnes gestützt, ging, artig grüßend, durch die von ihren Sitzen sich erhebende Menge zu ihrem Platze. Ihr Gefolge bestand aus zwei Herren und zwei Damen, die hinter der Kaiserin und ihrem Sohne Platz nahmen.

Da ich nicht Katholik bin, hatte ich Muße genug, während der mir fremden Gebräuche des Gottesdienstes die Kaiserin zu beobachten. Ihre Haltung ist edel und graciös. Die tiefe Wittwenhaube beeinträchtigt nicht die eigenthümlich interessante Schönheit ihres Gesichts; wenn auch die Jugend ihre Stirn verlassen, die Augen vielleicht matter unter den hochgeschwungenen Brauen hervorblicken, Niemand kann sagen, Eugeniens Schönheit sei schon unter dem Wittwenschleier verblüht. Sie war während des Gottesdienstes ganz bei der Sache, weniger ihr Sohn, der wohl mitunter mit den Gedanken einen Seitensprung zu machen beliebte und den Kopf öfter nach einem gewissen Punkte wandte, allwo ein rosenfarbenes Hütchen sich auf einem allerliebsten Lockenkopf aufgebaut hatte. Mir wurde übrigens dadurch ganz gute Gelegenheit geboten, des Prinzen Antlitz genauer zu beobachten. Napoleon’s Sohn hat ein hübsches offenes Gesicht; nicht gerade ausgeprägte Intelligenz spricht aus seinen Zügen, jedoch entbehren sie keineswegs einer gewissen Schlauheit. Ein Gesicht, wie es viele giebt, in das aber jedermann gern hineinschaut. Zur Zeit besucht der Prinz die Cadettenschule in Woolwich und ist dort seiner einfachen Liebenswürdigkeit wegen gern gesehen. Uebrigens beginnt der Bart zu keimen bei Dem, der einst Frankreichs Thronerbe werden sollte.

Der Gottesdienst war zu Ende; die Kaiserin erhob sich, mit ihr die ganze Gemeinde. Es sind Engländer, die der gewesenen Kaiserin diese Aufmerksamkeit bezeigen; sie verehren sie als die erste Person in der Kirche und geben ihr die Ehrerbietung, die sie als des Kaisers Gemahlin einst in so reichem Maße genossen. Napoleon ist todt, Frankreichs Thron noch immer unbesetzt. Chambord und Orleans umarmten sich vor einigen Monaten brüderlich in Wien. Doch was sagt die Welt? was lehrt uns Frankreichs Geschichte? Ueber Frankreichs Thron steht wie mit bedeutungsvollen Lettern geschrieben: Wer weiß, wer weiß!

Eugenie und ihr Sohn blieben eine Minute dem Grabe Napoleon’s gegenüber stehen. Beide legten die Hand auf Herz und Mund und winkten dann hinüber zu dem Entschlafenen. Der Kaiserin Gesicht war tiefernst und traurig in diesem Augenblicke. Er, welcher jetzt so ruhig dalag, hatte ihr ja einst Alles gegeben, was nur das stolzeste Herz eines Weibes begehren konnte. Mit dem Fürstenmantel, den er um ihre Schultern legte, machte er sie zur Kaiserin eines Volkes, dessen Abgott sie wurde – freilich wohl nicht auf eine gar so lange Zeit. Die Krone fiel; der Gatte starb – Eugenie weilt im fremden Lande, fast vergessen. Das trauernde schwarzgekleidete Weib, das dort, rechts und links sich neigend, die Kirche verläßt, ist eine Wittwe. Wittwen und Waisen haben ja stets die Sympathien aller Guten, – und wie leicht läßt sich richten über gefallene Größen!

Ich wandte noch einmal meine Schritte nach dem Parke zurück, dem Asyl der verbannten Kaiserfamilie. Ein schmaler Pfad zwischen üppigen Farrenkräutern führte mich gerade dem Hauptportale des Hauses zu, dessen obere Fensterreihe von hier aus nur sichtbar ist. In einem geöffneten Balconfenster lehnte eine Frauengestalt; still und nachdenklich schaute sie hinaus in die friedvolle sonnige Landschaft. Hinter mir vernahm ich Schritte, und ein Priester, derselbe, welcher vorhin die Hochmesse gehalten, schritt an mir vorüber. Ehrerbietig grüßte er, dem Schlosse näher kommend, zum Fenster hinauf, und eine weiße Hand winkte ihm von dort dankend. Die Frauengestalt verschwand am Fenster. Der Priester aber zog einen winzigen Schlüssel aus den Falten seines Talars und öffnete eine kleine kaum sichtbare Pforte, hinter der Eugeniens Beichtvater meinen Blicken entschwand. Ich pflückte mir einige Farren und Gräser, band sie zusammen und nahm sie mit mir, ein Andenken an Chislehurst, allwo ein Kaisertraum zu Ende ging, ein Ereigniß abschloß, das in den Annalen der Weltgeschichte mit rothen Lettern verzeichnet sein wird.
A. D.