Ein Tag auf dem Stadtthurm zu Andernach

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Textdaten
Autor: Friedrich Wilhelm Carové
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Titel: Ein Tag auf dem Stadtthurm zu Andernach
Untertitel:
aus: Moosblüthen, zum Christgeschenk, S. 175–222
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1830
Verlag: Brönner
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Erscheinungsort: Frankfurt a.M.
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google-USA* und Commons. Siehe auch den E-Text
Kurzbeschreibung: Beschreibung von Andernach und Umgebung
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Ein Tag auf dem Stadtthurm zu Andernach.
(Zwölf Blätter aus dem Tagebuch eines Engländers).
1.

Der Mensch möchte Alles, oder doch möglichst Vieles genießen, und weil die Welt immer größer und reicher wird, so fängt er immer früher an, und genießt immer schneller; aber darum freilich auch nicht halb so tief und innig, und – im Grunde – gewiß nur halb so viel und halb so lange, wie sonst. So nippt er jetzt schon aus jedem Freudenbecher nur ein Schlückchen, um aus allen Bechern kosten zu können, und begnügt sich mit flüchtiger Ansicht und Bekanntschaft, wo er sonst nach Einsicht und Vertraulichkeit verlangte. Schon ist die Reise klein, wenn sie nur durch Frankreich, Italien, die Schweiz und die Rheingegenden geht, und um groß zu heißen, muß sie fast ganz Europa verschlingen. Da muß man froh seyn, wenn man auch nur zehn Minuten vor dem Strasburger Münster und vor Göthe, und fünf vor dem Papst und dem Rheinfall zu Schaafhausen gestanden hat. Bald aber wird es nicht mehr genug seyn, den Köllner Dom und den heil. Christoph zu München, und das jüngste Gericht in Rom gesehen zu haben, vom Pariser Koth, vom Berliner Sand und vom Wiener Staub sprechen zu können, und Stammbuchblätter von Walter Scott, von Viktor Hugo und Thorwaldsen zu besitzen; – in einen amerikanischen Urwald und bis zu einer Oase im sandigen Arabien muß man durchgedrungen seyn, drei Minuten bleiben für den Fall des Niagara und höchstens drei Wochen für die Ruinen von Meroe, Persepolis und Ellora, und wer nicht Bolivar und Mina und Miaulis, und dazu noch ein halb Dutzend abgedankter Könige und den Pascha von Egypten – im Stammbuch hat, der hat Nichts.

Auch mir fehlte es nicht an Lust und Begierde, Alles auf Erden, was einem anständigen Manne genießbar wäre, zu genießen; allein ich war etwas zu sanguinisch gewesen, und hatte bei Anlegung meines Vermögens die Geschicklichkeit der englischen Mechaniker zu hoch, und die Macht und Gewalt eines mit dem Meere vermählten Stromes zu gering angeschlagen. Einige Dampfschiffe sprangen in die Luft; die Themse stieg hinab in den halbvollendeten Tunnel, und so zerstob ein Theil meiner Capitalien, und meine weitfahrenden Pläne wurden zu Wasser. Ich mußte mich mit einer Viertelsreise auf das Festland begnügen und wählte die Rheingegenden.

Schon hatte ich alles Merkwürdige in Kölln recht sorgfältig betrachtet, und so genau, als möglich, gezählt, gemessen und aufgeschrieben; die vielen alten Kirchen und die wenigen neumodischen Menschen darin, die ehemaligen Klöster, worin jetzt zehnmal mehr Waffenbrüder casernirten, als sonst Mönche, die aber vor diesen das Verdienst hatten, auch ohne Gelübde sich des Gehorsams, der Ehelosigkeit und der Armuth zu befleißigen; dann auch die schwarzbemäntelten Bettelweiber mit ihren abgegriffenen Rosenkränzen an den Ecksteinen der Kirchenthüren, und auf den Spaziergängen so manche wespenartig geschnürte und überputzte Bürgerstochter mit halbverwelkten Rosen auf den Wangen und trüben Lebens– und Liebeslichtern in den romantisirten Augen. Nicht minder fleißig war ich zu Bonn gewesen und hatte den dunkeln Münster und die hellen Universitätsgebäude besucht, und in den Hörsälen viel Gelehrsamkeit und vielerley Systeme, auf den Lustorten viel Wind und wenig Geselligkeit gefunden. –


2.

So, fast erdrückt von dem Reichthum der altköllnischen Kunst und halb niedergebeugt von der schweren Last der neubonnischen Wissenschaft, fuhr ich an einem duftigen Herbstmorgen dem stolzen Siebengebirg entgegegen, und ließ Kirchen- und Schulstaub von der lebendigen Ostluft aus Augen und Ohren mir wegwehen. Die Lerche wirbelte dem Herrn ihr Morgenlied, gewiß eben so schön, als am ersten bräutlichen Schöpfungsmorgen, und auf allen Bäumen prangten goldene Früchte und die ganze Gegend lachte mir freundlich entgegen, vom blauen Duft nur zart verschleiert, nicht verhüllt. Aber das Siebengebirg in seiner Majestät schien mir freundlich-ernst sagen zu wollen: „Fortan verfolge bedächtiger deinen Weg; denn du nahest der ersten Thronstufe des königlichen Rheines! Im Niederland – da ließ er dir das schöne Waizenbrod zur Nahrung reichen; an der Pforte des Hochlandes heißt er mich, mit einem Becher Weines dich begrüßen, und dir zur Stärkung ihn darreichen, damit du Kraft gewinnest, alle Stufen seines Thrones leicht hinanzusteigen!“ – Und ich vernahm das freundliche Wort, und that, wie mir gerathen worden. In den flachen Niederlanden hatte ich das Trinkgeld des Postillons verdoppelt, um nur recht bald die schon meilenweit entgegenkommende Thurmspitze des nächsten Ortes nicht mehr zu sehen; nun versprach ich es zu verdoppeln, wenn ich Schritt vor Schritt gefahren würde, nur um die immer wechselnden Aussichten gleichsam tropfenweise einzuschlürfen. – Mein Wille geschah, – weil ich nicht vorausbezahlte, und es läutete Mittag, als ich nach Remagen kam. Es war tief Abend, fast Nacht, als ich dem alten Andernach nahte. Und doch wäre ich auch jetzt noch lange nicht bis dahin gekommen, wenn überall auch der Wagen still gehalten hätte, wo mein Auge von neuer überraschender An- und Aussicht gefesselt wurde. Der kühne Drachenfels, die hochanstrebende Löwenburg, die waldgekrönten Weinberge, die Burgruinen aus phantastischer Ritterzeit und die Basaltfelsen, wie Säulen des ersten Naturtempels, die vielen zierlichen Dorfschaften, aneinander gekettet durch Reihen von Obstbäumen, das lockende Rolandswerth, mit seinen lieblichsten klösterlichen Erinnerungen und seiner stärkenden erfreulichen Gegenwart, die stolzen Schiffe stromauf- und stromabwärts, und die leichten Kähne an ihnen vorüber, und Alles von den ruhig wogenden grünen Fluthen des Rheines, wie durch ein lebendiges Hoffnungsband verknüpft, und über Allem das Antlitz des Himmels, der mit seinen blauen Augen der Erde die Versicherung seiner treuen Liebe und seines ewigen Bestandes gab! – Wie oft hätte ich da ausrufen mögen: O Gott, die Herrlichkeit deiner Werke ist zu groß für Eines Menschen Brust; gieb mir eine Gefährtin, mit der ich die Fülle des Genusses theile! Nein, umgieb mich mit Tausenden, die fühlen, wie ich, auf daß wir Alle zu dir aufjauchzen, und Jeder von uns den ganzen vollstimmigen Lobgesang dir darzubringen meine!


3.

Und je weiter ich kam, um so herrlicher wurde die Gegend, und als ich im letzten Abendglanz zu meiner Linken den kühngewölbten Hammerstein, und rechts den gradabschüssigen Krahnenberg, zwischen Beiden die prächtigen Thürme von Andernach, und im fernen Hintergrund den blauen Gebirgszug des Westerwaldes gewahrte, und in jedem Augenblick neue Schönheiten hervortraten, da beschloß ich, in dieser Gegend einen Ruhetag zu feiern. Zunächst verlor ich nun jene Thürme von Andernach wieder aus dem Gesicht, und eine tiefe Dämmerung bedeckte schon die Gegend, als bei einer Wendung der Straße, sie ganz nahe vor meinen Augen standen, – der große – als ein ernstes Fragezeichen; die beiden anderen als die Antwort darauf, aber mit einem Doppelpuncte, welcher den Schluß zu errathen ließ. Wirklich war der große Thurm, wie ich bald vernahm, zum Schutze der Stadt erbaut worden; die beiden anderen gehörten zur Hauptkirche; dieser zunächst lag der alte Kirchhof. So sorgte ehemals die weltliche Macht für die geistliche, und diese führte das Weltliche über das Grab in den Himmel! Der Staat war ehedem das Mittel, die Kirche das Leben, der Himmel das Ziel. – Ich dachte nun hinter dem großen Thurme und in der heitern Gegend eine große und heitere Stadt zu finden; aber ich fand nur ein kleines, dumpfes Nest. Doch war die enge Straße voller Menschen; denn am anderen Tage sollte der weitberühmte Birnkrautsmarkt gehalten werden. Ein freundlicher Wirth, der sein französisches Vaterland aufgegeben, um es mit seinem deutschen Frauenland zu vertauschen, fand pour Monsieur l’Anglois noch ein Stübchen, und ich ging bald zur Ruhe, um am andern Tage vor Sonnenaufgang den hohen Thurm zu besteigen. Von hier aus wollte ich der schönen Gegend so recht in’s Angesicht schauen, und Alles rings umher in Ein großes Bild zusammenfassen. Denn wie ich als Kind und Knabe am liebsten in engen Wiesenthälern und in schattigen Hausgärten und bei einzelnen Blumen und Bäumen verweilte, so dürstete ich jetzt nur nach Höhen und weiten Aussichten bis in die unabsehbare Ferne. Und nicht blos eine Viertelstunde nahm ich mir vor, auf dem Thurme zu bleiben; sondern unter allen Beleuchtungen, in allen Stimmungen der Tageszeiten wollte ich die Gegend sehen, wie man auch dann erst einen Menschen vollständig kennt, wenn man ihn in den verschiedensten Lebensverhältnissen beobachten konnte. Freilich giebt es viele Alltagsseelen, die man, wie eine leere Trommel, durch einen Ton schon kennen lernt, und so auch Gegenden, die mit einem Blicke schon erschöpft werden. Aber diese Rheinlandschaften sind wie geistreiche Menschen, die man, wenn auch nicht zu jeder Jahres-, doch zum wenigsten zu jeder Tageszeit gesehen haben muß, wenn man sie ihrem Werthe gemäß erfassen will.


4.

Noch war Alles still in der kleinen Stadt, bis auf einige Sperlinge, die auf der Dachrinne des Hinterhauses saßen und dem reichen Hafermahle im Hofe entgegen zwitscherten, das ihnen von den heutigen Marktgästen aufgetischt werden sollte. Im Hause regte sich Nichts, als der Perpendikel in der großen Standuhr, die eben fünf schlug, als ich schon den bestellten Thürmer am Fensterladen des Zimmers klopfen hörte, worin der Hausknecht schlief. Ich sprang aus dem Bette, kleidete rasch mich an, nahm Fernrohr und Zeichengeräthe zur Hand, steckte meine Grogflasche und ein Milchbrod zu mir, und ehe noch der müde Hausknecht seinen kurzen aber tiefen Schlaf aus den Augen gerieben hatte, war ich schon unten, riegelte die Thüre auf und überließ ihm nur die Sorge, sie wieder vor unerwünschten Gästen zu verschließen. Der Thürmer, der mich für einen Stockengländer hielt, und deshalb glaubte, daß ich kein deutsch und nur etwas französisch verstünde, aber dabei reich sey, zog behende seinen sehr nachgiebigen Hut herunter, bückte sich sehr tief und sagte: „Bonn schur, Musje, foules fous alleh apresang auf di Thurm?“ Als ich ihm hierauf antwortete: „Ja, mein Freund, recht gerne;“ da blieb er verwundert stehen, und sein ängstliches Angesicht entrunzelte sich, weil er sich nun keine Mühe mehr zu geben brauchte, sich verständlich zu machen; doch fragte er mich noch in halbgebrochenem Deutsch: „Si sprech also deutsch?“ bis erst mein „Ja ja, lassen Sie uns nur weiter gehen,“ – ihn völlig beruhigte, und wir nun unsern Weg dem Thurme zu nahmen. Alle Thüren, alle Läden waren noch geschlossen; nur ein Bäcker öffnete eben sein kleines Fenster und zog seine Schlafmütze vor mir ab, als vor einem fremden Herrn, der am heutigen Markttage vielleicht noch Butterbretzeln bei ihm kaufen werde, die bekanntlich zu den weitest und breitest berühmten Andernacher Fabrikaten gehören. Bald darauf bat der Thürmer mich, ihm zu verzeihen, daß der Weg nun in ein enges Gäßlein einlenke; – dann ging es in ein noch engeres, dann eine schmale Treppe von hervorstehenden Steinen hinauf, längs der Stadtmauer hin – an den Thurm, – und die dunkle Wendeltreppe rasch hinauf! Da stand ich oben auf der Zinne und schaute, und Alles war ruhig und prachtvoll ringsumher, und feierlich über den stillen Bergen röthete sich der Morgen. Aber im Thale schlief noch Alles, und selbst der gewaltige Rhein ließ seine breiten Spiegelfluthen geräuschlos dahingleiten. Ich empfand die Allgegenwart Gottes, und wie das eingeathmete Licht der Sonne aus der Blume wieder ausscheint in zarten Farben, wie es von der stillen Pflanzenseele wieder ausgehaucht wird in süßen Düften – so stieg auch aus meinem Herzen Anbetung empor, und ich war Gemeinde und Priester und Altar und Opfer zugleich. Unwillkührlich entblößte ich mein Haupt, und betete im Geist aus ganzer Seele:

„O Gott, wir loben Dich! wir erkennen, daß Du der Herr bist! Dich, den ewigen Vater, betet der ganze Erdkreis an. Zu Dir jauchzen unablässig die Cherubim und Seraphim. Heilig, heilig, heilig, Herr Gott Zebaoth! – Der Himmel und die Erde sind deiner Majestät und deines Glanzes voll.[1]

Und der Thürmer schien mir wohl anzusehen, daß ich etwas anderes that, als nur ins Weite schauen; denn auch er zog seinen Hut herunter, und sprach halb laut ein Ave Maria. Dabei sah er von der Seite nach mir hin, bedeckte sich wieder, als ich es that, – und gewiß ist, um seiner guten Meinung willen, sein Stoßgebetlein nicht leichter befunden worden, als das meinige!


5.

Nun war auch seine Zunge gelöst. Auf dem Wege zum Thurme hatte er nur so viel gesprochen, als die Ehrerbietung von ihm forderte; denn, daß ich auch deutsch sprechen konnte, schien ihm wohl nur eine zu oberflächliche Gemeinschaft. Als er aber aus sympathetischem Gefühl mit mir gebetet hatte, gewissermaßen, um es mir bequem zu machen, da fühlte er sich mir um zehn Stufen näher gerückt, und drei Viertheile seines Herzens neigten sich schon vertraulich zu mir hin. Als ich nun vollends, um der kühlen Morgenluft die Stirne bieten zu können, einen Schluck aus meiner Grogflasche that und sie ihm darreichte, und mein Brod ihm darhielt, das er sich eine Hälfte davon selbst abbreche, da fiel die letzte Scheidewand zwischen uns beiden, und sein Herz lächelte auf seinen Lippen und leuchtete in seinen Augen. – „Ja Herr, so fing er, ein Viertel Milchbrod noch im Munde, mit mir zu plaudern an, wäre jetzt nur unser Herr Schuldirector hier; das ist ein gar freundlicher und gelehrter Herr. Der würde Ihnen Alles beschreiben, was Sie hier sehen. Da war vor acht Tagen einer von den Großen von Coblenz hier. Den hat der Herr Director überall herumgeführt und ihm alles explicirt. Er hat ihn auch hier auf den Thurm geführt, und da hab’ ich ihm zugehört, was er ihm Alles so gelehrt vordemonstrirt hat.“ – „So erzählt mir, sprach ich zu ihm, was ihr davon behalten habt, so gut als ihr eben könnt.“ – „Ja, fuhr er, ohne zu zögern, fort, ich hab’ mir Alles wohl gemerkt. Sehen Sie, sprach er zu dem Großen, die Aussicht von diesem Thurme kann man wohl ein Panorama nennen; denn man sieht und schmeckt von Allem und aus allen Zeiten Etwas. Die Mühlensteine da unten am Krahnen – das sind unverwerfliche Zeugen aus der Urzeit her, als längs dem Rheine noch so viele Vulkane brannten; auch sind die Berge auf dieser und jener Seite noch mit Bimssteinen übersät. Dann kamen die alten Deutschen weit aus Persien her, vielleicht Abkömmlinge ihres Gottes Theut; die Römer nannten sie aber Germani, etwa, weil sie schon damals so brüderlich mit einander zankten. Aus dieser Zeit ist aber Nichts stehen geblieben; denn der feuerspeiende Berg zu Rom hat bis hierhin Alles mit seinen Legionen überschüttet. Nur von einigen Flüchtlingen ist später aus fernen Gegenden in Liedern und Sagen etwas Uraltdeutsches wieder zu uns gekommen. – So soll da drüben auf dem Berge, wo Sie ein epheubewachsenes Haus stehen sehen, das man Windhausen nennt, der felsenstarke Nial mit seiner Frau Bergthora gewohnt haben. Der hatte schon viele Frauen zu Wittwen gemacht und war noch nie verwundet worden. Seine Feinde hielten ihn für eisenfest. Aber als er auf einem Streifzuge den alten Grimmhart im Kampfe getödtet, da schwuren Flose und seine eilf Brüder, des alten Grimmharts Söhne, ihm den Untergang. Nials Söhne waren alle im Krieg geblieben, und er allein mit Bergthora und ihrem einzigen kleinen Enkel. Da schlichen an einem stürmischen Herbsttage Flose und seine Brüder früh Morgens herbei, als Bergthora eben in das Holz gegangen war, um Feuerung zu holen, und Nial und sein Enkel noch auf der Bärenhaut lagen. Jeder trug einen brennenden Fichtenstamm, und damit zündeten sie Nials Hütte an, und steckten die zwölf brennenden Stämme rings in den Boden. Aber Bergthora wurde es auf dem Wege zum Walde gar unheimlich zu Muth, es überlief sie immer heißer, der Angstschweiß stand ihr in dicken Tropfen auf der Stirne. Sie vermochte nicht weiter in den Wald hinein zu gehen. Als sie sich aber umwandte, da kehrte die Kraft ihr zurück. Wie mit Adlerfittigen eilte sie zu ihrer Hütte. Die stand in Flammen! Flose sah sie kommen, und Mitleiden ergriff sein Herz; denn seine Racheglut war gleichsam aus ihm hinaus und hinüber gegangen in die brennende Hütte. Er faßte Bergthora bei dem Arm und wollte sie zurückhalten. Aber mit überwältigenden Blicken, wie eine gereizte Löwin, schaute sie ihn an und sprach: „Ich ward jung Nial gegeben; da habe ich ihm gelobt, daß Eins sollte ergehen über uns beide;“ und sie riß sich los und stürzte unaufhaltsam in die lohende Flamme.“


6.

Und kaum hatte der Thürmer geendigt, da ging über Windhausen die Sonne auf und krönte alle Berghöhen mit Licht und Glanz; am nahen Krahnen lichtete ein großes holländisches Schiff die Anker, die frische Morgenluft schwellte die Segel, und als der Steuermann und die Schiffsleute mit abgezogener Mütze ihr Gebet für eine glückliche Fahrt verrichtet hatten, wurden noch einige große Ruder zur Hülfe genommen. Indessen kam des Thürmers Frau und brachte ihrem Manne den Kaffe. Allein dieser, so heimlich froh er dem warmen Frühstück entgegen sah, rief ihr doch mit einem selbstgefälligen Lächeln zu: „Du kommst zu spät; ich habe schon mit dem Herrn Milord gefrühstückt.“ Die Frau sah mich halb dankend, halb verdrießlich an, weil ich ihr gleichsam in ihr Hausrecht eingegriffen hatte, und um sie ganz zufrieden zu stellen, sagte ich ihr, sie möge ihr Körbchen nur ausladen; ihr Mann habe mein kaltes Morgenbrod nicht verschmäht, so wolle ich jetzt auch mit ihm seinen warmen Morgentrunk theilen. Nun meinte sie zwar, daß ihr Kaffee für einen vornehmen Herrn viel zu schwach sey; indessen freute meine Herablassung sie doch zu sehr, als daß sie den Wunsch hätte ablehnen dürfen. Ihr Mann wollte in seinem Diensteifer noch immer fortfahren, mir zu erzählen, was er alles aus den Reden des Directors behalten habe; ich lud ihn aber ein, seinen Kaffee warm zu trinken, und er gehorchte gern. Alsbald nahm seine Frau sich meiner an, führte mich um die Zinnen herum, zeigte mir, wo ihr Häuschen stehe; dann, wo sie vor dem Thore ein Gärtchen habe, dann wo der Birnkrautsmarkt gehalten wird, wobei sie meinte, ich sey wohl des berühmten Marktes wegen hierher gereist.

Aber in raschen Zügen hatte ihr Mann seinen Kaffee hinunter geschluckt, und eilte nun, in sein Amt wieder einzutreten. „Sehen Sie, mein Herr, fuhr er fort, von Windhausen führte der Herr Director den Großen etwas weiter rechts hinauf, und zeigte ihm, wo am Gebirge her die alten Römer viele Meilen weit einen Graben gegen die alten Deutschen aufgeworfen haben, der nun der Heidengraben heißt. In derselben Gegend hat man bei Biber ein römisch Kastell und Bad aus der Erde aufgewühlt und nicht weit davon hat ein römisch Dorf gestanden, wo jetzt die stolze Abtei Rommersdorf steht.“ – Ich gab dem Thürmer meine Verwunderung zu erkennen, daß er das Alles so gut im Gedächtnis behalten habe und das Behaltene so gut wieder zu erzählen verstehe. Seine Frau, die dabei stand, ließ ihm nicht Zeit mir zu antworten; sondern zog die Augenbrauen hoch in die Höhe, und sagte mit gehobener Stimme zu mir: „Das kömmt daher, daß mein Mann auf Geistlich studirt hat, und er wäre jetzt vielleicht selbst Director, oder doch Kaplan wenn ihn sein Weg nicht alle Tage an dem Haus meiner Eltern vorbeigeführt hätte. Damals sah ich aber auch anders aus, als jetzt. Und wie er größer wurde und hörte, daß er kein Mädchen mehr ansehen dürfe, und mich auch nicht, wenn er einmal ein geistlicher Herr geworden, da wollte er lieber mit mir blos Kirchendiener, als ohne mich ein Kirchenherr werden. Und er hat Gott auch als Küster immer fleißig und redlich gedient;“ – „und, fügte der Küster hinzu, – es hat mich bis auf diesen Tag noch nicht gereut, daß ich dich genommen habe; und wie ich so lange krank war, da hast du mich ganz anders gepflegt, als wenn ich ein Geistlicher und du nur meine Haushälterin gewesen wärest.“ – „Hast du nicht auch jedesmal, versetzte sie rasch, wenn ich im Kindbette lag, dir dein Glas Bier und deine Pfeife Taback abgebrochen, um mir dreimal die Woche Weinsuppe zu kochen? Hast du“ – – „Nun laß das nur gut seyn, erwiederte der über sich selbst halb gerührte Thürmer, und geh’ du jetzt nach Haus und räume alles auf, denn wir bekommen gewiß heute Besuch von der Frau Schulmeisterin von Leutesdorf.“ – Die Frau grüßte mich und ging; – ihr Mann aber blieb an der Thüre stehen, hielt sie offen, bis seine Frau die dunkle Treppe hinunter war, und lehnte dann behutsam die Thüre wieder bei. Ich fragte ihn, warum er die Thüre so zögernd wieder zugemacht habe? – „Das muß man thun, erwiederte er; weil sonst die armen Seelen aus dem Fegefeuer, die sich zur Strafe zwischen Thür und Angeln aufhalten müssen, zu arg gequetscht werden.“


7.

Indessen war die Sonne in voller Kraft emporgestiegen, und der zarte Duft, der Alles so zauberisch umwob, ließ allen Wünschen und Erwartungen freien Spielraum. Man wußte nicht, nahte der Herbst oder war es noch Frühling. Aber durch den ruhigen Morgenduft stiegen nun überall, wo Menschen wohnten, leichte Rauchsäulen, wie Morgenopfer, empor, und auf den nahen Dörfern und dann auch zu Andernach selbst wurde geläutet, wie der Thürmer mir sagte, zu der Frühmesse, in welcher auch der Segen ausgetheilt werde. In den Straßen der Stadt, in die man hinab sah, wurde es lebendig und vor dem Rheinthore wurden Tische aufgestellt und große und kleine Buden aufgerichtet. – Als der Thürmer sah, daß ich mit meinen Blicken, die Mauern der kleinen Stadt verfolgte, paßte er den Augenblick ab, in welchem ich das gegenüberstehende Stadtthor erreicht haben mochte, und hier nahm er den Faden der unterbrochenen Directorialreden wieder auf. „Sehen Sie, mein Herr, sprach er, das Thor da nach Süden ist das Römerthor; denn Sie wissen wohl, daß die Stadt eine römische Festung und Poststation war, dazumal soll die Stadt mehr als noch einmal so groß gewesen seyn. Darum ließ auch der heilige Kaiser Valentinianus die schöne große Kirche mit ihren vier Thürmen bauen. Es hat aber den Römern Nichts geholfen, daß sie noch in ihren alten Tagen fromm geworden sind; denn bald darnach kamen die Franken und vertrieben sie von hier und vom ganzen Rhein. Und da haben sich die Austrasischen Könige neben dem Römerthor einen Palast gebaut, wovon noch jetzt die äußern Mauern zu sehen sind. Auch soll zu Rolands Zeiten der leichtgläubige Graf Siegfried von Maienfeld hier gewohnt haben, der seinem abgefeimten Schloßverwalter Golo mehr geglaubt, als seiner edeln Frauen, der schönen Genovefa von Brabant. Schade sey es, so meinte der Herr Director, daß dem boshaften Verwalter eines der schönsten deutschen Lieder in den Mund gelegt worden sey, welches so anfange:

Dicht von Felsen eingeschlossen,
Wo die stillen Bächlein gehn,
Wo die dunkeln Weiden sprossen,
Wünsch’ ich bald mein Grab zu sehn.
Dort im kühlen abgelegnen Thal
Such ich Ruh für meines Herzens Qual!

Dort über jenen Hügeln nach Sonnenuntergang hin, drei Stunden von hier steht noch die Kapelle, wo die Hindin mit dem Kruzifix auf dem Kopfe den Grafen an die Höhle führte, in der die fromme Genovefa mit ihrem Söhnlein seit sieben schmerzenreichen Jahren von Wurzeln und Beeren lebte, und sich und ihr Kind mit ihrem langen Haupthaar vor der Kälte beschützte. Da ging dem Grafen gleichsam das Schwerdt durch die Seele, mit dem er sein vermeintlich untreues Gemahl und ihr Söhnlein in der Wildniß hatte tödten lassen wollen, und die gewiß jämmerlich umgekommen wären, wenn nicht unter dem groben Kittel des Knechtes oft ein menschlicher Herz schlüge, als unter dem Talar und dem Purpur ihrer Herren. Und Siegfried sank nieder in tiefer Zerknirschung, und wäre noch lieber in die Tiefen der Erde versunken. Er umfaßte die Kniee der Verstoßenen, benetzte sie mit heißen Thränen und stand nicht eher wieder auf, bis sein edles Gemahl ihm verziehen und ihm versprochen hatte, wieder bei ihm zu wohnen. Der untreue Hausmeister Golo aber wurde dort oben vom Krahnenberg herab in den Rhein gestürzt, und noch thut alle Jahre am Tage des Verrathes das Wasser an jener Stelle einen schweren Wall, als wenn ein breites Thier auf dem Flußboden sich umwendete. Den Grafen bedauerte man; aber die schöne und tugendsame Genovefa wurde noch in ihrem Leben als eine Heilige verehrt; an ihrem Grabe genasen viele Kranke und ihre Legende gab mancher verkannten Unschuld Trost, gab dem Leichtsinne und dem Mißtrauen Warnung, und richtete manches fast zerdrückte Herz wieder auf.


8.

Aber zu unsern Füßen, längs der Stadtmauer am Rheine hin, schwoll der Markt und das Gedränge wurde lärmend. Bedeckte und unbedeckte Nachen kamen von Oben herab, von Unten herauf und von den gegenüberliegenden Ortschaften. Käufer und Verkäufer, Christen und Juden, Stadt und Landjungfern bunt durcheinander; Kinder mit Trommeln und Pfeifen, und Spanferkel, die noch für den Mittag gebraten werden sollten, und glänzend vor Allen die Stadtpolizei und einige Invaliden in ihrer vollen Uniform. Ich weidete mich an der reichbelebten Gegend; aber der Thürmer entriß mich bald wieder der stillen Beschaulichkeit, um mir noch alles Uebrige mitzutheilen, was ihm fast schwer auf dem Herzen lag; denn noch viele Denkmale und Gedenkzeichen in der Gegend hatte er mir zu zeigen und zu erklären, ehe er von den altfränkischen Kaisern bei dem neufranzösischen angekommen, und sein Amt erledigt ansehen konnte. Zunächst erzählte er mir nun, wie sich der Erzbischoff Friedrich von Köln mit Kaiser Heinrich V. um Andernach gezankt, in einer Schlacht (1114) bei der Stadt ihn geschlagen und sie ihm abgenommen habe. Von diesem streitbaren geistlichen Herrn sey die Stadt mit Mauern und Bollwerken befestigt und wahrscheinlich auch mit dem stattlichen Thurme geschmückt worden, auf welchem wir standen. Die Bürger, fuhr er fort, hätten zwar gar zu gerne unmittelbar unter dem Kaiser gestanden; weil man damals auch schon am liebsten recht viel Freiheit und dabei einen recht mächtigen Schutz dafür haben mochte. Sie mußten aber ihr Gelüste theuer bezahlen. Denn als sie dem Kaiser Otto IV. gegen den Gegenkaiser Philipp beistanden, schickte dieser seine Lothringischen Soldaten über sie, die wie wilde Tiger wütheten. Sogar das Kloster St. Thomas, das da rechts nahe bei der Stadt liegt, – da, wo Sie jetzt die neuen Häuser mit einer Windmühle sehen – selbst das wurde nicht verschont. Eine der Nonnen fingen sie auf, bestrichen ihren nackten Leib mit Honig, wälzten sie in einem Haufen Bettfedern herum, setzten sie dann so befiedert rückwärts auf ein Pferd, und führten sie, überall von Hohngelächter begleitet, durch das Lager. Kaiser Philipp ließ zwar, als er bald hernach hierher kam, die Anstifter dieser Unthat in siedendem Wasser ertränken; er selbst aber, als die Andernacher sich noch gegen ihn wehrten, hieß die Stadt erstürmen, plündern und verbrennen. – So habe ich es zum mindesten den Herrn Director mehr als einmal erzählen hören. Und dabei hat er versichert, es müsse wahr seyn; denn es stehe auch in den trefflichen rheinischen Geschichten, die ein berühmter Frankfurter Senator, Namens Vogt, unlängst herausgegeben. – Aber noch öfter habe ich von meiner Großmutter sagen hören, daß bei jener Plünderung von St. Thomas das Kriegsvolk alle unterirdischen Gewölbe scharf durchsucht habe, um Schätze zu finden. Da hätten sie im letzten Bogengange eine Stelle an der Wand bemerkt, so groß wie eine Thüre, wo die Mauern aus andern Steinen gebaut, als rings umher. Das sey ihnen verdächtig vorgekommen; sie hätten mit einem Balken dawidergestoßen, und als die Steine zusammengetrümmert, und sie mit Fackeln in den eröffneten Raum hineingeleuchtet, sey eine Nonnengestalt vor ihnen in Staub zusammengesunken. Bei näherer Untersuchung hätten sie erfahren, daß hier vor mehreren Jahren eine Nonne, die ihr Gelübde gebrochen habe, lebendig eingemauert worden sey! – Meine Großmutter behauptete dabei, das sey noch in vielen Klöstern der Brauch. Mich schauerte immer, so oft ich es wieder hörte, und ich glaube, es hat dazu beigetragen, mich vom geistlichen Stande abzuwenden. Hatte doch der Apostel Paulus, selbst nach seiner Bekehrung, noch so viel mit sich zu kämpfen, daß er bitter klagte, wie das Gesetz in seinen Gliedern ihn in der Sünde Gesetz gefangen nehme; wie kann da ein anderer armer Christenmensch mit gutem Gewissen ein Gelübde darauf ablegen, daß er immer siegen wolle und werde? Der Mensch ist ja kein Gott, und er soll überhaupt nicht schwören weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl; noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel, noch bei dem eigenen Haupte; denn das ist immer in des Schöpfers Hand.“ –

Ich freute mich über das richtige Urtheil meines alten Thürmers, und reichte ihm meine Grogflasche, damit er sich ein wenig erfrische, und da er schon einmal mit mir getrunken hatte, so machte er jetzt keine Weitläuftigkeiten, sondern trank. Dann aber erzählte er mir noch Vieles von dem Hammersteiner Schloß, das vor uns lag und von Reineck, dessen Spitze aus dem gegenüberstehenden grünen Berge hervorragte; von der heiligen Kreuzkirche bei Leutesdorf und dem Teufelshaus bei Irrlich; von dem Grabmal des französischen General Hoche zu Weißenthurm, das, wie das Reich und die Freiheit, für die der junge Held gefochten, nicht ausgebaut worden, – und von dem fernen Ehrenbreitstein, der, mit allen andern neugebauten Rheinfestungen, doch nur der Deckel auf dem Brunnen ist, nachdem das Kalb hineingefallen. Ich breitete indessen mein Zeichengeräthe aus, und als ein Sitz aus einigen Steinen zusammengetragen, der Sonnenschirm ausgebreitet und aufgestellt, das Bleistift gespitzt und das Skizzenbuch aufgeschlagen war, beurlaubte ich den Thürmer, und bat ihn nur noch, gegen Abend mich hier abzuholen, zuvor aber meinen Wirth nochmals daran zu erinnern, daß er mir mein Mittagessen hierher schicken möge. –


9.

Da saß ich nun hoch über dem menschlichen Gewühle, wie ein Gott auf seinem Felsenthrone, und die mildeste Herbstluft umspielte mich und weckte so manche längst entschlummerte Frühlingshoffnung in meiner Brust. Die Sonne strahlte so innig und liebreich nieder, – wie eine Mutter, wenn ihr Sohn in die kalte Fremde geht, in den Abschiedsstunden ihn mit immer heißeren Küssen überschüttet, und in allen Schiebern und Schränkchen noch etwas zu finden weiß, was sie dem lieben Sohne mit auf die Reise geben kann. – Es wurde mir gar leicht in dieser schönen Welt. Das Herz schloß sich auf, wie ein Blumengarten, und die Gedanken bekamen Flügel, und flogen wie Schmetterlinge auf den Blumen umher. – Und wie viele phantastische Bilder hatte der Thürmer an meiner Seele vorübergeführt. Welch reiche Welt lag vor meinen Augen ausgebreitet, – wie zauberisch war die Zukunft, die aus solchem Lebensbaume hervortrieb! – Auch die Hand schien beflügelt; denn in wenigen Stunden schlängelte sich der Rhein schon auf meiner Tafel hin, die Berge hoben ihr gekröntes Haupt stolz zum Himmel und die Rauchsäulen von den Dörfern verloren sich in die blaue Luft. – Da schlug die Glocke Eins, und siehe, das Thurmpförtlein öffnete sich, und ein zartes Mägdlein mit einem Korbe am Arme trat hervor und mit schüchternem Erröthen fragte sie mich, ob ich wohl der Herr sey, der aus der Lilie, – so hieß mein Gasthaus, – das Mittagsessen bestellt habe. Dabei senkten sich die langen schwarzen Augenlieder, und der zartgeschlossene Mund schien eine Rosenknospe zu seyn, die in der schirmenden Grünung noch von keinem Sonnenstrahle war berührt worden. Ein himmelblaues Mieder umfing züchtig den jungfräulichen Busen und die reichen blonden Haarflechten waren am Hinterkopfe durch ein Mützchen von Goldstoff gezogen, in Kränze gewunden, und mit einer silbernen Nadel befestigt, während über den dunkeln Augenbrauen zu beiden Seiten leichte blonde Löckchen herabfielen. Und das liebliche Mädchen erröthete noch mehr, als ich, von ihrem Anblick überrascht, einige Augenblicke mit der Antwort zögerte. Da faßte ich mich, bat sie, mir auf der nahe liegenden großen Steinplatte mein Mittagsmahl zurecht zu stellen, und, um ihr Zeit zu lassen, sich von ihrer Verlegenheit zu erholen, zeichnete ich noch eine Weile fort. Dann legte ich Alles langsam bei Seite, stand auf und ging hin zu meiner anmuthreichen Wirthin. Wohl, damit ich sie nicht für eine Aufwärterin aus dem Wirthshause halten möge, sagte sie mir nun, ihr Vater (der Thürmer) habe sie zur Lilie geschickt, um das Essen für mich zu bestellen; da die Wirthsleute aber und ihre Kellner alle Hände voll mit den Marktgästen zu thun hatten, sey sie von ihnen gebeten worden, mir das Essen zu überbringen. Ich bezeugte ihr meine Freude über diesen Zufall und bat sie das Mahl mit mir zu theilen. Allein sie dankte mit der Versicherung, daß sie schon vor einer Stunde ihr Mittagsbrod verzehrt habe, und, weil sie selbst immer meinte, sie dürfe nicht essen, wenn die neben ihr Sitzenden nicht auch etwas mitgenössen, so ging sie auf die andere Seite des Thurmes und sah hinunter auf den Markt.


10.

Ich hatte kaum zu essen angefangen, als ganz aus der Nähe des Thurmes Harfenklänge zu mir herauftönten. Ich fragte das Mädchen, wer da spielte. Es ist der alte Harfner von Coblenz, antwortete sie. Er scheint erfahren zu haben, daß ein fremder Herr hier oben ist, denn er schaut immer herauf. – Und nicht lange hatte das Vorspiel gedauert, als er ein wundersam ergreifendes Lied zu singen anfing. Ich konnte nur einzelne Worte davon vernehmen; aber das Mädchen sagte gleich, das ist das Lied von den zwei Verlobten; – und als das Lied zu Ende war, wiederholte sie es mir von Wort zu Wort, und ich schrieb mir es in mein Tagebuch auf, und meine gefühlvollen und sittsamen Landsmänninnen werden mir nicht zürnen, wenn ich ihnen die fremde Blume, statt eines Vergißmeinnichtes, darbiete. Der Harfner hatte schön gesungen; aber das Mägdlein hatte noch lieblicher wiederholt.


Liebesprobe.[2]

Es sah eine Linde in’s tiefe Thal,
War unten breit und oben schmal,
Worunter zwei Verlobte saßen,
Vor Lieb ihr Leid vergaßen.

„Fein’s Liebchen wir müssen von einander;
Ich muß noch sieben Jahre wandern.“
„Mußt du noch sieben Jahre wandern,“
Heurath ich doch keinen andern.“

Und als die sieben Jahr umme war’n
Sie meint, ihr fein’s Liebchen käme bald;
Sie ging wohl in den Garten,
Ihr fein’s Liebchen zu erwarten.

Sie ging wohl in das grüne Holz,
Da kam ein Reuter geritten stolz;
„Gott grüße dich Mägdlein feine,
Was machst du so alleine?

„Ist dir dein Vater oder Mutter gram,
Oder hast du heimlich einen Mann?“ –
„Mein Vater oder Mutter sind mir nicht gram,
Ich hab auch heimlich keinen Mann.

Gestern war’s drei Wochen über sieben Jahr,
Da mein fein’s Liebchen ausgewandert war.“ –
„Gestern bin ich geritten durch eine Stadt,
Da dein fein’s Liebchen hat Hochzeit gehabt.

Was thust du ihm denn wünschen an,
Daß er seine Treu nicht gehalten hat?“
„Ich wünsch’ ihm so viel gute Zeit,
So viel wie Sand am Meere breit.

Ich wünsch ihm all’ das Beste,
So viel der Baum hat Aeste.
Ich wünsch ihm so viel Glücke fein,
So viel wie Stern am Himmel seyn.“ –

Was zog er von dem Finger sein?
Ein’n Ring von reinem Gold gar fein.
Er warf den Ring in ihren Schooß,
Sie weinte, daß der Ring gar floß.

Was zog er aus seiner Taschen?
Ein Tuch schneeweiß gewaschen.
Trockne ab, trockne ab dein’ Aeugelein,
Du sollst hinfort mein eigen seyn.

Ich wollte dich nur versuchen,
Ob du würd’st schwören oder fluchen;
Hätt’st du einen Schwur oder Fluch gethan,
Von Stund an wär ich geritten davon.“

 *     *     *

So hatte das schöne Mägdlein mir das Liedchen vorgesagt, und sie war noch nicht damit zu Ende, als ich schon den Thurm und den Harfner und ganz England vergessen hatte, und selbst der stolze Reuter zu seyn vermeinte, – den Ring, der der Trauring meiner guten Mutter gewesen, vom Finger zog, und ihn dem Mädchen ansteckte. Kam es vielleicht auch dem schönen Kind so vor, als habe es schon sieben Jahre auf mich gewartet, oder war es zu sehr überrascht, – es zog seine Hand nicht zurück. Und als ich sie gefaßt, schlug sie die großen schwarzen Augenlieder auf, und schaute mir unaussprechlich in das Auge – und hindurch und hinab bis in den tiefsten Grund meines Herzens. Und das Herz kam dem ihrigen entgegen, und sie schlossen einen Bund, – rein, wie das Licht der Sonne, in welchem sie sich begegneten, und innig, wie das Gold das Erde sich mit dem Blau des Aethers sich zu lebendigem Hoffnungsgrün vereinigt. Es war der Himmelfahrtstag, – doch nein, – es war nur ein Silberblick des Lebens. Der Harfner fing wieder an zu spielen, – und wir erwachten aus dem Himmel der freien Liebe in die irdische, vielfach beschränkte Gegenwart. Das Mägdlein zog seine Hand, die in der meinigen geruht hatte, zurück, und sah halb ernst, halb wehmütig auf den Ring an seiner Hand nieder, und sprach mit halber Stimme zu mir: „Ach Herr, Sie wußten ja nicht, was Sie thaten! Ich bin ja nur des armen Thürmers Töchterlein, und Sie sind ein so vornehmer Herr! – Sehen Sie da drüben auf jener Anhöhe, über dem Fahr, da steht noch jetzt die Linde, von der das Lied gesungen hat, und gar oft schon habe ich darunter gesessen, wenn sie blüht und die Bienen darin summen. Aber daneben steht eine alte Kirche, man nennt sie die Feldkirche, und ein Gottesacker läuft um die Kirche, und es steht manch’ Sträuchlein Rosmarin bei den bemoosten Kreuzen. Da habe ich manchmal bei mir selbst gedacht, es werde gewiß einmal ein gar großes Glück, wie die Linde voll Blüthen, über mir aufgehen; aber der Rosmarin wachse mir dann gleich in die gefalteten Hände hinein! – Und mit hinreißender Schwermuth schaute sie nach der Kirche hinüber, die aus einem Walde von Fruchtbäumen hervorragte. Ich wollte dem Mägdlein sagen, der Rosmarin sey ja auch ein Schmuck der Bräute, – als das Pförtlein aufging und der Thürmer mir einen Rebenzweig brachte, an welchem die schönsten schwarzen Trauben hingen. Ich stand auf; aber das Mägdlein nahm das Tischgeräthe in ihr Körbchen, und kaum vernahm ich das Lebewohl, das sie mir leise im Weggehen sagte.


11.

Ich dankte dem Thürmer nur kurz für die freundliche Gabe, und, um nicht weiter sprechen zu müssen, wozu das Herz mir zu schwer war, und in der Hoffnung, daß er etwas erzählen und dadurch mir Zeit geben werde, mich zu sammeln, fragte ich ihn, was das für ein zierliches Städtchen sey, zu welchem von Irrlich rheinaufwärts eine so stattliche Pappelallee hinführe? – Das ist Neuwied, antwortete er; – der Herr Director nennt es immer Klein-Philadelphia; nicht nur weil es eben so regelmäßig gebaut ist, sondern auch weil so vielerlei Christen und andere Gottes-Gläubige sich dort angesiedelt haben und auch eine Brüdergemeinde dort wohnt, und sie alle sich ganz brüderlich mit einander vertragen. Jeder geht da ruhig seinen Weg und verrichtet sein Geschäft, und denkt, daß, wenn man nur seinem Nebenmenschen nicht wehe thut, man von allem Uebrigen nur Demjenigen Rechenschaft schuldig sey, welcher alle Gaben verleiht, und allein beurtheilen kann, wie treu man das Verliehene benutzt habe. Da hat mir auch eben heute Mittag der Küster der protestantischen Kirche von Neuwied, der mich alljährlich an diesem Tage besucht, eine Geschichte erzählt, die er aus dem Munde seines Pfarrers gehört hat, und die gewiß auch Ihnen recht gefallen wird. Der vorige Pfarrer war ein sehr menschenfreundlicher Mann, und hatte nie einen Augenblick sich bedacht, wenn es galt, einem Nothleidenden Hülfe zu leisten. Aber es war ihm frühe eingeschärft worden, und er hatte es aus demüthiger Ehrerbietung für seine Lehrer als wahr angenommen, daß die ungetauften Kinder nicht selig werden könnten, – obgleich jedesmal, wenn sein Verstand ihm die aus Ehrfurcht zu glauben gebot, sein liebreiches Herz im Stillen widersprach. Als er nun zum Sterben kam, und von Allem, was ihn umgab, Nichts mehr wahrzunehmen schien, da hörte der Geistliche, der an seinem Bette saß, daß er öfter nach einander die Worte leise vor sich hin sprach: „Sie werden, – sie werden nicht ...“ – Der Geistliche hielt es für das Irrreden eines Verscheidenden, als der Sterbende plötzlich sich aufrichtete, die Augen weit öffnete, seines Freundes Hand ergriff, und, ihm freudig in’s Auge schauend, mit fester und heiterer Stimme zu ihm sagte: Sie werden dennoch selig. Und nun sank er wieder zurück und sein Geist war auf den Flügeln seiner nun licht- und leichtgewordenen liebenden Seele entflohen![3] Aber die Zurückgebliebenen, die da wußten, was den wackern Mann so lange im Stillen beängstet und beunruhigt hatte, – sie verstanden, was jene Worte sagen sollten, und dachten, der Himmel sey nicht so weit von der Erde, daß er nicht einem Verscheidenden bis auf sein Sterbebett entgegen kommen könne, wie auch die aufgehende Sonne den Morgenstern und ihren eigenen Lichtglanz voransende, um der Erde den kommenden Tag zu verkündigen.


12.

Mir aber schien es, als sey meine Sonne schon untergegangen, und wirklich nahte der Abend. Nachen, mit Menschen und Körben überladen, drückten, kaum noch eine Handbreit aus dem Wasser ragend, vom Ufer, und fuhren lustig dahin; auf der Landstraße hoben sich Staubwolken, und man wußte nicht, galoppirten die Bauernpferde, weil ihre Herren jauchzten, oder jauchzten diese, weil die Pferde so ausgelassen mit ihnen dahin rannten. Indessen packten die Männer auf dem Markte zusammen und die Mägdlein konnten schon zu vier oder fünf in einer Reihe Arm in Arm zwischen den Buden hindurch lustwandeln am Rheinufer hinauf und hinab. – Und die Sonne neigte sich, und dichte Schwärme von kleinen Fliegen schwirrten und summten in den warmen Abschiedsstrahlen. Aber von den schmalen Thurmfenstern des Feldkirchleins blitzte die scheidende Sonne mir in’s Auge, und mit tiefer Wehmuth gedachte ich der Linde, unter der das Mägdlein gesessen, und des Liedes, und derjenigen, von der ich es zuerst gehört hatte. Da hörte ich jemand die Treppe herauf kommen; ich zitterte und hoffte und fürchtete, es sey des Thürmers Töchterlein. – Es war ihre Mutter. – Ich aber sah nur den Blumenstrauß, den sie in der Hand trug; denn mein Herz flüsterte mir zu, wer ihn gepflückt habe und wer ihn sende. Die gute Frau trat mir näher und sprach freundlich zu mir: „mein Gretchen wünscht, daß Sie die Blumen zum Andenken an uns mitnehmen möchten; – Sie hätten, sagte sie, eine so große Freude an der Gegend gezeigt, daß Sie vielleicht auch gerne einige Blumen, die hier wild wachsen, mitnehmen würden. Die Marienröschen mit dem wohlriechenden Laub und den wenigen Dörnern, die vielleicht nicht in England wachsen, habe sie bei der Linde zu Feldkirchen gepflückt; die Vergißmeinnicht aber und die reizenden Violen sind aus unserem Garten am Mühlbache. Sie müssen aber ja nicht übel nehmen, daß ich Ihnen so gemeine Blumen bringe; wir geben’s, so gut wir’s haben.“ Kaum konnte ich einige Worte des Dankes sagen, so eng wurde es mir um’s Herz. Ich nahm den Straus, und that, als ob ich an den Blumen riechen wollte; – in der That aber küßte ich sie mit Inbrunst. – Schon war die Sonne gesunken, und eine laue Abendluft kam von Osten, – wie mir schien, – von der Feldkircher Linde – herüber. Ich sehnte mich nach Einsamkeit. Mit herzlichem Dank für alles Freundliche, was mir von den guten Leuten zu Theil geworden, nahm ich Abschied, und erst, als wir auf die dunkle Treppe gekommen waren, drückte ich dem Thürmer eine Erkenntlichkeit für seine Bemühung in die Hand; oben am Tage hätte ich mich geschämt, dem Vater des lieben Gretchens gemeines Geld zu reichen. Ich bat noch die Mutter, ihrer holdseligen Tochter zu sagen: die Blumen, mit denen sie mich beschenkt, habe ich tief in mein Herz gepflanzt, und sie würden mich bis in das Engelland hin begleiten! – Wir schieden, und ich eilte hinaus vor’s Thor, am Rheine hinauf; bis gegen das Feldkirchlein über. Ich war ganz allein, und der Rhein war spiegelglatt, und ein hellrosenrother Glanz umleuchtete die Gegend, wo die Sonne untergegangen war. Wundersam bewegt drückte ich den Blumenstrauß an meine Lippen, und immer noch leuchteten die tiefdunkeln Augen in mein Herz herein. Da brach das Schilfband, womit der Strauß umwunden war, die Blumen fielen auseinander, und siehe! um das mittelste Marienröschen war ein kleiner Papierstreifen gewunden, durch meinen Ring zusammengehalten. Es ging mir wie ein Schnitt durch’s Herz. Zitternd zog ich den Ring ab, entrollte das Papier und las:

Ein schöner Augenblick gab mir das Zeichen ew’ger Treue;
Der Augenblick nehm’ hin, was er zu schnell vielleicht verliehn!
Was ewig ist, es bleibt auch ohne solche Zeichen;
Und ob auch nie der stolze Ritter wiederkehrt,
Ich wünsch ihm dennoch all’ das Beste,
So viel der größte Baum hat Aeste;
Ich wünsch ihm so viel gute Zeit,
So viel wie Sand am Meere breit;
Ich wünsch’ ihm so viel Glücke fein,
So viel wie Stern’ am Himmel seyn! –

So las ich, und schloß die Augen. – Aber alle Sterne brannten, und auf den Dörfern und in der Stadt lag Alles schon in tiefem Schlummer, als ich in meine Wohnung zurückkehrte. –


  1. So beten Morgens die anglikanischen Christen. S. das Common Prayer-book der vereinigten Kirche von England und Irland.
  2. Fliegendes Blatt, aufbewahrt in „des Knaben Wunderhorn I, 61. und in der schönen Sammlung „Deutsche Lieder für Jung und Alt. (Berlin 1818, in der Realschulbuchh.) S. 7., wo auch die Volksmelodie dazu sich angegeben findet. –
  3. Der Verfasser kann die Wahrheit dieser Geschichte verbürgen. Ob sie übrigens zu Neuwied oder anderswo sich zugetragen, thut Nichts zur Sache.