Ein Tag auf dem Vesuv
Der anbrechende Morgen fand uns vor dem „Hôtel du Soleil“ in Pompeji schon auf den Beinen. Es galt eine Vesuvbesteigung, und vor der Thür stampften und wieherten bereits die kleinen dickköpfigen Bergpferde. Unser Costüm hatte sich den Verhältnissen einer solchen Excursion angepaßt. Nach Salonbegriffen hätten wir gerade nicht behaupten können, wir sähen „bezaubernd“, wohl aber sahen wir wie „verzaubert“ aus. Als es hieß „aufsitzen!“, schlug es gerade fünf Uhr. Der Himmel wölbte sich durchsichtig blau über uns; die Sonne vergoldete schon Alles mit ihren Strahlen, und [842] der Vesuv, unser Reiseziel, sandte einen leichten weißen Qualm gen Neapel.
Wir brannten uns, hoch zu Roß, eine Cigarre an, und vorwärts ging es, in den frischen Morgen hinein. Anfangs die Chaussee nach Torre del Annunziata innehaltend, schwenkten wir bald nach Bosco tre Case ab. Hier, in einem kleinen ärmlichen Dorfe, wurde abgesessen und ein kurzer Halt gemacht. Mit einem „Rechts schwenkt, Marsch!“ marschirte unsere Gesellschaft mit den beiden zu Fuß dahertrabenden Führern vor einer Weinkneipe auf. Wir tranken etwas Rothwein, der, obgleich uns von den Führern angepriesen, doch recht verdächtig nach Essig schmeckte, dann wurde wieder aufgesessen und der Weg fortgesetzt. Als wir das Dorf verlassen hatten, begann der bis dahin ebene Weg zu steigen. Die Pferde sanken in die hier schon Alles bedeckende lose, schwarze und grobkörnige Vesuv-Asche bis über die Fesseln ein und blieben schon nicht mehr zusammen. Einzelne derselben wurden müde; die immer seltener werdende Vegetation hörte ganz auf, und das Terrain stieg bedeutend. Nach langem Mühen erreichten wir gegen acht Uhr den Fuß des eigentlichen Aschkegels, die sogenannte Station.
Weiter konnten wir nicht reiten; die letzte Strecke bis zum Krater mußte erklommen werden. Wir saßen ab; die Pferde wurden mit den Halfterriemen an Lavablöcke befestigt, und ein von der Sonne meerschaumartig angerauchter Junge, der mit zehn oder zwölf Neapolitanern hier Posto gefaßt hatte, wurde zu ihrer Bewachung gedungen. Ich benutzte diesen Moment der Ruhe, um von dem jäh vor uns aufsteigenden Wege eine Skizze aufzunehmen, die diesem Aufsatze beigegeben worden ist. Einige der hier campirenden Leute boten sich uns zur Unterstützung beim Bergsteigen an, und drei der Herren nahmen das Anerbieten an. Wir übrigen drei versuchten unser Glück ohne Hülfe. Den Führer voran, ging es im Gänsemarsche vorwärts. Da ich indeß in den Alpen und später in den Abruzzen zu oft erfahren hatte, wie man beim Bergsteigen mit seiner Kraft haushalten muß, so war ich bald der Letzte der Gesellschaft. Der Aschkegel steigt in einem Winkel von fünfunddreißig bis vierzig Grad. Die bodenlose Asche, die uns bis über die Knöchel versinken und bei einer Steigung von drei Schritten zwei Schritt wieder zurückrutschen ließ, strengte unsere Kraft bis zum Aeußersten an, aber tapfer stiegen wir höher und höher. Die Asche unter unseren Füßen wurde glühend heiß, und die südliche Sonne über uns brannte versengend auf unsere Scheitel; schon waren die vordersten Herren oben am Krater, nur der Vorletzte, der Maler S. aus G. mit seinem Führer, und ich hatten uns einen Augenblick hingesetzt, um zur letzten Anstrengung neue Kraft zu sammeln. Nach ungefähr fünf Minuten brachen wir wieder auf und hatten höchstens nur noch drei Minuten bis zum Kraterrand zu steigen. Der ganze Boden über uns und neben uns dampfte. Der Schwefelqualm benahm uns fast den Athem und zeigte uns, wie porös die Masse war, auf der wir uns befanden.
Wir wurden immer stärker angehaucht – da plötzlich stolperte mein Vordermann, ließ den ihm vom Führer gereichten Riemen los und stürzte ohnmächtig zurück. Da ich dicht hinter ihm war, fiel er auf mich, und ich wäre unfehlbar von ihm hinuntergerissen worden, wenn ich ihn nicht gehalten hätte. Ich legte den Bewußtlosen mit Hülfe des Führers auf den Boden und schickte Letzteren zu einem der Herren, welcher für derartige Fälle etwas Branntwein mitgenommen hatte. Nachdem ich das Gewünschte erhalten, flößte ich dem Ohnmächtigen davon ein und benetzte ihm Stirn und Schläfe damit, doch ohne Erfolg. Der Führer versicherte mir, es kämen dergleichen Zufälle hier öfter vor. Die Ursache derselben sei sowohl in der großen Anstrengung, wie auch in dem ungewohnten Einathmen der Schwefeldämpfe zu suchen.
Inzwischen kamen die übrigen Herren zurück; wir beschlossen, einen Führer nach der Station zu schicken, um vier seiner Landsleute mit einem sogenannten Tragsessel, einer ganz roh gezimmerten Sänfte, in der sich oft Damen herauftragen lassen, zu holen. Während dieser Zeit bestieg ich mit einem anderen Führer den Rand des Kraters. Ich wunderte mich sehr, nicht, wie ich geglaubt, in eine unermeßliche Tiefe, sondern in einen an den Kanten unterhöhlten Kessel zu sehen, dessen Boden von Stein, hier und da von Klippen, zerrissenen Lavablöcken und Aschenhaufen angefüllt war. Einzelne Risse und größere Spalten auf dem Grunde des Kessels, aus denen ein dichter grauer und weißer Qualm stieg, zeigten, daß hier noch die Verbindung mit der Tiefe nicht aufgehört habe. Der Abgrund hatte eine graue, oft in’s Gelbliche spielende Farbe. Ein längeres Verweilen war indessen nicht möglich, da der Wind sich drehte und uns den ganzen Schwefelqualm in’s Gesicht blies, so daß wir zu unseren Taschentüchern greifen und, dieselben an die Nase pressend, schleunigst den Rückzug antreten mußten, um nicht zu ersticken.
Noch hatte der Ohnmächtige kein Lebenszeichen von sich gegeben. Seine Gesichtsfarbe war fahl, das halb geöffnete Auge glanzlos. Die Leute mit der Sänfte waren inzwischen angekommen und hoben den Armen auf den Sessel. Langsam ging es den Aschkegel hinunter. Am Fuße desselben angekommen, sandten wir sofort einen reitenden Boten nach Bosco tre Case zum Arzt. Wir bestiegen unsere Pferde, und den Ohnmächtigen mit uns führend, kamen wir tiefer und tiefer – schon zeigte sich hier und da etwas Vegetation, einige verkrüppelte Feigenbäume, etwas Graswuchs, einige Cacteen. Es mochte zwölf Uhr sein, da sahen wir den lang erwarteten Arzt uns entgegenkommen. Wir hielten an; die Sänfte wurde abgesetzt; der Doctor nahm seine Instrumente hervor, und die Untersuchung begann. Athemlos umstanden wir den Arzt. Sein Gesicht wurde immer bedenklicher; er auscultirte noch Lunge und Herz, und der Schluß war: „morte“. „Tod, augenblicklicher Tod durch Herzschlag“, war die weitere Erklärung, die wir erhielten. Zu gleicher Zeit wurde uns aber auch vom Arzte bekannt gemacht, daß die Leiche nicht eher weiter transportirt werden dürfe, bis wir die Erlaubniß dazu vom Boscoer Gericht hätten. Zu diesem Zwecke ritten zwei Herren mit dem Doctor nach Bosco, während wir Andern als Wache zurückblieben. Wir warteten hier von zwölf bis drei Uhr in der glühendsten Sonnenhitze; endlich tauchten ganz unten am Berge Menschen auf, zwei Gensd’armen und vier Mann mit einer Bahre, begleitet von einer durch Neugierde angelockten Menge.
Denn wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht von dem Unglücksfalle im Dorfe verbreitet, und Jeder wollte den Todten sehen. Derselbe wurde nun von den herangekommenen Gensd’armen auf die mitgebrachte Bahre gelegt; was er bei sich trug, Briefe, Papiere und Geld, wurde ihm abgenommen, um dem Gericht übergeben zu werden.
Die Mannschaften, welche die Bahre gebracht hatten, nahmen dieselbe jetzt auf die Schultern, und so ging es dem eine Stunde entfernten Bosco zu. Als wir den Eingang des Dorfes passirten, wurden wir von fast sämmtlichen Einwohnern empfangen. Es waren Männer, Weiber, Kinder, zerlumpte, halbnackte Gestalten, in allen Lebensaltern; sie Alle begleiteten uns bis zum Leichenhause; indeß war es nicht mehr Neugierde oder Mitleid, was sie uns zu folgen bewog, sondern um den Anzug des Leichnams war es ihnen zu thun; diesen wollten sie haben und stießen und schlugen sich in Folge dessen auf der Straße, so daß wir Mühe hatten, mit den Pferden durchzukommen. Selbstverständlich erhielten sie den Anzug nicht, und die Prügelei war vergebens.
Im Leichenhause erwarteten uns die anderen Herren. Wir wurden jetzt auf das Gericht beschieden. So ergriffen und matt wir in Folge des erschütternden Unglücksfalles und der Anstrengung auch waren, konnte unseren müden Sinnen die Nonchalance doch nicht entgehen, mit der die Gerichtssitzung begann. In einem einfenstrigen Raume saßen am offenen Fenster Ortsrichter und Secretär, wir auf Stühlen und Bänken, wie wir gerade Platz fanden. Der Herr Präses rauchte seine Cigarre; wir folgten seinem Beispiele. Die Vernehmung über den Todesfall wurde theils in italienischer, theils in französischer Sprache geführt, die Schriftstücke aufgesetzt, unterschrieben und untersiegelt, und wir waren entlassen.
Wiederum bestiegen wir unsere Pferde und trafen gegen neun Uhr in Pompeji ein. Aber auch hier hatte man von dem Unglücksfalle schon vernommen, und Beamte vom Gericht aus Castellamare, die telegraphisch benachrichtigt worden waren, hatten sich beeilt, die Hinterlassenschaft des Verstorbenen zu protokolliren und zu versiegeln.
Müde und matt an Körper und Geist, setzten wir uns zu Tisch, vor Hunger, Durst und Hitze halb todt; denn seit fünf Uhr Morgens hatten wir nichts genossen, und jetzt war es [843] beinahe zehn Uhr Abends. Nach Tisch stand mir noch eine schwere Aufgabe bevor. Die anderen Herren hatten mich ersucht, die Eltern des Verstorbenen von dem Unglücksfalle zu benachrichtigen, da ich der unmittelbare Zeuge desselben gewesen – aber wie sollte und konnte ich den beklagenswerthen Eltern eine so entsetzliche Nachricht mit Schonung und doch der Wahrheit getreu mittheilen? Zehnmal begann ich, zehnmal zerriß ich das angefangene Schreiben: es mußte indeß zu Ende gebracht werden, da den Armen der furchtbare Schmerz doch nicht zu ersparen war. Am Tage nach dem Unglücksfalle sollte die Section der Leiche und tags darauf die Beerdigung stattfinden. Während der Section traf ein naher Bekannter des Verstorbenen, aus Neapel kommend, in Pompeji ein, der von uns über das Ereigniß benachrichtigt worden war.
Er wollte nun das Arrangement des Begräbnisses übernehmen und fuhr noch an demselben Tage nach Neapel zurück, um mit dem deutschen Consul das Weitere zu besprechen und vielleicht eine Translocirung der Leiche nach dem Protestantenkirchhofe Neapels zu erwirken. Leider gelang ihm Letzteres nicht, wie ich erst in Neapel, wohin ich mich am nächsten Tage zu begeben gezwungen war, erfuhr. Mochte Anstrengung und Aufregung mich zu mächtig ergriffen, mochte das Klima sein Theil dazu beigetragen haben, genug, ich fühlte mich in der Nacht nach dem traurigen Tage so krank, daß ich, um einen Arzt zu consultiren, nach Neapel zurückfuhr. Ich hatte mir das in jener Gegend von Zeit zu Zeit herrschende Sumpffieber, welches unter dem Namen „Malaria“ bekannt und gefürchtet ist, zugezogen. Luftveränderung und richtige Behandlung ließen das Fieber bald verschwinden, und ich konnte, obgleich noch schwach, meine Reise nach Rom antreten.
Als ich Neapel verließ, war es Nacht, in Italien die günstigste Zeit zum Reisen. Das Sternenzelt spannte sich klar über uns, der Vesuv setzte sich mit dem dahinterliegenden Monte Somma tiefschwarz in scharfen Contouren am Firmament ab, und der glühend angehauchte Rauch stieg kerzengerade empor. So hatte dieser Koloß wieder ein Menschenleben gefordert. Nicht genug, daß er Pompeji, Herculanum und Stabiae begrub, nicht genug, daß er Hunderte, Tausende von Menschenleben in alter und neuer Zeit verschlang – noch immer verlangt er seinen Tribut und hat noch nicht das letzte Opfer gefordert.
- ↑ Zeitungsnachrichten zufolge verkünden die physikalischen Instrumente des Professors Palmieri (Gartenlaube 1873, Nr. 48) einen neuen Ausbruch des Vesuvs. Die obige Schilderung einer Besteigung dieses vulkanischen Bergkegels dürfte daher gerade jetzt von allgemeinem Interesse sein, und dies um so mehr, als sie authentische Mittheilungen aus der Feder eines Augenzeugen über die jüngsthin in allen Blättern so lebhaft besprochene Verunglückung des jungen Malers S. auf dem Vesuv enthält. D. Red.