Ein Wunderkind (Die Gartenlaube 1895/31)
[532] Ein Wunderkind. (Zu dem Bilde S. 529.) Arme Kleine! Am frischen schönen Morgen, wo glücklichere Kinder im Garten spielen, muß sie den Geigenkasten und die Notenmappe schleppen, muß in dem heißen Zimmer ihres Lehrers drei Treppen hoch üben, was die kleinen Finger vermögen, und warum alles dieses? Um zu beweisen, was niemand bezweifelt: daß man ein musikalisches Kind durch vorzeitiges schonungsloses Drillen zum Konzertspielen abrichten kann. Hätte der Himmel diesem Kinde mit den tiefen Augen und dem frühen Leidenszug um das kleine Mündchen eine gute, vernünftige Mutter verliehen, statt der eiteln und gedankenlosen, welche so aufmunternd lächelnd neben dem Töchterchen herschreitet, so stünde ihm wohl eine glücklichere Jugend und ein künftiges besseres Los bevor, als das „Wunderkind“ sie finden wird, trotz aller frühen Kränze und lobender Zeitungsartikel! … Der Künstler, welcher uns dieses beherzigenswerte Zeitbild vorführt, hat mit feiner Empfindung die beiden Zuschauer charakterisiert, die sich über den seltsamen Anblick ihre Gedanken machen: den alten Geiger, der das Geschäft kennt und voll mitleidigen Bedauerns die ahnungslose Kleine vorübergehen sieht, und die frische junge Magd, die ihren Korb mit starken Armen trägt und von der gesunden Arbeit weg halb staunend, halb belustigt das arme kleine Wundertierchen betrachtet. Dies Bild spricht Wahrheit, so frei erfunden es auch sein mag, möge es viele und aufmerksame Betrachter finden! Bn.