Verhoffender Rehbock
[532] Verhoffender Rehbock. (Zu dem Bilde S. 525.) Es war Juli, ein Tag so heiß, so schwül und gewitterschwanger, daß uns nur die Aussicht auf einen guten Bock die erschlaffende Wirkung des Wetters nicht fühlen ließ. An geeigneten Stellen des Waldes stellten mein Freund, ein Forstmann, und ich uns mit dem Rücken gegeneinander an einen Baum, damit wir ringsum alles überblicken konnten, und einer von uns nahm ein Buchenblatt an die Lippen und hauchte auf demselben ein schmelzendes Piu! piu! piu! durch den Forst, den Tou, mit dem das in Liebessehnsucht schmachtende Schmalreh den Bock zu sich heranruft. Wir hatten auch schon Glück gehabt. In einem Buchenstangenorte kam flüchtig auf die für ihn so verhängnisvollen Liebesseufzer ein Gabelbock gesprungen, und aus einem Dickicht, vor dem wir „blatteten“, steckte ein Fuchs sein rotes Spitzbubengesicht, dem durch die Kugel meines Freundes der Appetit anf Rehkitzbraten für immer gestillt ward.
Jetzt standen wir an einer von Fichtenhochwald und Dickung umkränzten, mit langen Schmielen überwachsenen Blöße, und wieder klang das schmachtende Piu! piu! piu! durch die lautlose Stille des Forstes.
Plötzlich regt sich etwas. 150 Schritte von mir, an einer Stelle, wo die schönste Schmuckpflanze des Waldes, der rote Fingerhut, seine langen Blütenähren in dichten Horsten aus den Schmielen streckt, steht ein Stück, fast ganz verborgen in der dichten Pflanzenwucherung; aber der Hals und Kopf und das starke Gehörn mit den „weißgefegten“ Endenspitzen schauen darüber hervor und verraten, daß der kapitale Bursch den Liebesseufzern des Pseudo-Schmalrehs seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt hat. Was bringt doch die Aussicht, auf einen solchen Bock zu Schuß zu kommen, für ein stürmisches Hämmern in die Brust des Jägers und ein Zittern, eine Aufregung in den ganzen Körper, daß es nicht möglich ist, den richtigen Ton auf dem Blatte zu finden! Und jeder falsche Ton „vergrämt“ den mißtrauischen, vorsichtigen Burschen – er wird „verblattet“, wie es die Weidmannssprache nennt – und laut „schmälend“ geht er dann flüchtig ab auf Nimmerwiedersehen. Aber bald ist der Rausch des Jagdfiebers verschwunden, und wieder erklingt der verführerische Lockton, der mit Zaubermacht den Bock heranzieht. Langsam, immer sichernd, tritt der schlaue Geselle vorsichtig näher – nicht geradeswegs, sondern in einer Richtung, als wollte er siebzig Schritt von uns in den Hochwald treten. Jetzt ist er dicht vor den Fichten – langsam hebt sich das Büchsenrohr – aber so vorsichtig es auch geschah, der Bock hat doch etwas bemerkt, er wirft auf und „verhofft“ nach der verdächtigen Stelle hin, bereit, in der nächsten Sekunde mit mächtiger Flucht zwischen den Bäumen zu verschwinden.
Das ist der Augenblick, den der Künstler festgehalten hat. Die Flucht in die Fichten macht der Bock auch noch — — aber mit der Kugel im Herzen. Karl Brandt.