Ein moderner Charakterspieler

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Autor: Gerhard Ramberg
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Titel: Ein moderner Charakterspieler
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aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 841, 847–848
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[841]

Shylock. Friedrich Mitterwurzer. Narciß.
     Richard III. Buchbinder Kleister.

[847]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein moderner Charakterspieler.

Friedrich Mitterwurzer.
(Mit Bild S. 841.)

Sie können nur abbrüchige Charaktere spielen! So schnarrte Heinrich Laube, der unvergessene Großmeister unserer praktischen Dramaturgie, als Friedrich Mitterwurzer wieder einmal eine Bühnengestalt in kritischer Zergliederung dargestellt hatte, anstatt nach dem Plane des Dichters ein harmonisches Ganzes daraus zu formen.

Abbrüchige Charaktere! Das Wort kennzeichnet seinen Sprecher: hart, ohne Wohlklang, ungelenk, aber so klar, so unzweideutig, daß jeder wissen muß, was damit gemeint sei. Und in der That: der damalige Friedrich Mitterwurzer war wohl auch ein verwandlungsfähiger, abwechslungsreicher, fesselnder Schauspieler – nur jene großen, geschlossenen Wirkungen, die von harmonischen Naturen ausströmen blieben ihm versagt. Aber Laube war ein ebenso geübter als eifriger Forscher nach den Quellen wahrhafter Begabung, immer wieder horchte er nach den Regungen von Mitterwurzers Talent; immer wieder suchte er den unsteten Künstler an sich zu fesseln; immer wieder setzte er große Hoffnungen auf den, der nur „abbrüchige“ Charaktere zu spielen verstand. Laube hoffte eben, daß sich Mitterwurzer selber finden und das geniale Ungestüm seines Wesens durch strenge Selbstzucht besiegen werde.

Ehe dieser Sieg errungen war, gehörten Rollen wie Narciß zu den besten Darbietungen Mitterwurzers. Die innere Zerfallenheit im Charakter des groß angelegten, verlumpteu Narciß fand Berührungspunkte in dem Zwiespalt seines eigenen künstlerischen Wesens. Man betrachte das Bild, das unsern Künstler in der Maske des philosophischen Bummlers zeigt! Welche Weltverachtung drückt sich in den Mienen dieses empfindsamen Cynikers aus, den „nichts mehr begeistern kann“ und dem doch die Sehnsucht nach Begeisterung im Blute liegt. Wie sein Aeußeres ist auch sein Inneres entstellt von den Stürmen des Lebens; schon schleicht der Wahnsinn heran, um seine „Pantherzähne“ in des Verfolgten wirres Hirn zu drücken. Ehe es zur erschütternden Katastrophe kommt, giebt Narciß das Bild eines sprunghaften Geistes, der sich aus wehmütigen Stimmungen gewaltsam herausreißt, um in gesteigerte Lustigkeit zu verfallen. Solch jäher Stimmungswechsel gelang nun von jeher Mitterwurzer am besten. Auch in einzelnen Momenten der Verzückung erreichte er schon immer die äußerste Grenze der überhaupt möglichen Wirkung. Eugen Guglia berichtet in einem dem Künstler gewidmeten Aufsatze, bei Mitterwurzers Narciß sei der Ausbruch innerer Erregung mehrmals so heftig, als müßte eine völlige Zerstörung des Organismus die Folge sein.

Iu dieser Charakteristik des Schauspielers, die sich im „Wiener Almanach“ von 1892 findet und von Mitterwurzer selber, auf mein Befragen als sehr zutreffend bezeichnet wurde, wird der Versuch gemacht, die hervorgehobene Eigentümlichkeit seiner Spielweise physiologisch zu erläutern und zu erklären. Fast in allen größeren Partien Mitterwurzers findet sich danach ein Moment, der die innerste Natur des Künstlers heraustreten läßt, der Zuschauer empfängt dann den Eindruck „einer hochgradigen Nervenerregung, die etwas Dämonisches hat und bisweilen die Grenze des Wahnsinns streift“. Als Symptome dieses Nervenzustandes werden treffend bezeichnet: vor allem ein grelles Funkeln der Augen, ein eigentümliches Dehnen der Körpermuskeln, die Gestalt scheint über ihr gewöhnliches Maß hinauszuwachsen, die Arme geraten in fast krampfhafte Bewegungen, um zuletzt mit starr geschlossenen Fäusten in die senkrechte Lage überzugehen; konvulsivische Schauer durchzittern den Leib; die Worte werden langsam und gedehnt hervorgestoßen oder hervorgepreßt, oft halb erstickt in einem nervösen Lachen. Dies alles dauert bisweilen nur einen Moment, ist aber nie bloße Nachahmung, immer elementare Offenbarung hochgradiger innerer Erregung. Solche Symptome lassen sich in der That bei fast allen großen Rollen Mitterwurzers feststellen; ich habe dieselben auch in seinem Wallenstein beobachtet – in dem Augenblicke, da sich der Hochverräter selbst verraten sieht und alle kühnen Hoffuungen zusammenbrechen. Besonders heftig tritt diese Art Erregung in Mitterwurzers Shylock zutage – nur zumeist „über das Tragische hinaus in die Karikatur getrieben.“

Mitterwurzer selbst bezeichnete mir den Zustand, in den ihn jede bedeutende Rolle versetzt, als den einer gewissen geistigen Trunkenheit, von der sein ganzes Nervenleben erfaßt wird. Sobald Mitterwurzer den Schlüssel zu den geheimsten Tiefen des darzustellenden Charakters gefunden zu haben glaubt, wird seine Seele durch die Beschäftigung mit der betreffenden Rolle in eine erhöhte Stimmung versetzt, wird sein Inneres ganz davon erfüllt. Bei der Darstellung steigert sich dieser Zustand innerer Ergriffenheit im Gipfelpunkt der Rolle bis zur Ekstase. Wird aber das zarte Gewebe innerer Stimmung durch irgend ein zufälliges Ereignis zerstört, so versagt plötzlich die Wirkung und die Zuschauer sagen grollend: „Mitterwurzer ist heute schlecht aufgelegt!“ Der Theaterbesucher, der sich recht herzlich auf eine berühmte Darbietung Mitterwurzers gefreut hat, wird dann um den erhofften Kunstgenuß kommen und mancher begeisterte Anhänger des Künstlers ist auf diese Weise sein erbitterter Gegner geworden. Aber Mitterwurzer läßt solchen Stimmungswechsel nicht als Launenhaftigkeit gelten. Es ist mir – so erklärt er den Vorgang – als verspürte ich in meinen Nerven einen Riß. Oede Nüchternheit tritt an die Stelle der künstlerischen Begeisterung. Nichts vermag die entflohene Stimmung zurückzubringen; der Wille ist machtlos gegenüber der völligen Abspannung aller Nerven.

Solche Enttäuschungen des Publikums sind zwar ein hoher, aber doch nicht zu hoher Preis für die unvergleichlichen Genüsse, die Mitterwurzers große Kunst zu bieten vermag, so lange seine erhöhte Stimmung anhält, so lange jener Riß in den Nerven nicht erfolgt, oder – wie das Publikum sagt – so lange Mitterwurzer „bei Laune“ ist. In dieser erhöhten Stimmung sind die Leistungen unseres Künstlers nur mit der Natur selber vergleichbar. Denn darin liegt seine Größe, daß Mitterwurzer alle Bühnengestalten wahrhaft zu vermenschlichen weiß.

Um dahin zu gelangen, hatte er einen weiten Weg, denn dem Dresdener Kinde war in der Jugend Emil Devrient als bestechendes Vorbild vorangeleuchtet und sein junges, so ganz anders geartetes Talent drohte dadurch ins Deklamatorische und Theatralische zu geraten. „Alles, was ich an vornehmer Haltung, an theatralischer Pose besitze,“ erzählte mir Mitterwurzer, „verdanke ich dem Beispiel Emil Devrients, der die anmutige Würde eines Edelmanns zu verkörpern wußte wie Keiner.“ Aus eigener Kraft lernte er, den darzustellenden Charakter in seiner eigensten Natur zu erfassen und so darzustellen, daß alle seine Handlungen und Aeußerungen menschlich glaubhaft erscheinen. Dabei ist er weder durch sein Talent, noch durch seine äußeren Mittel an ein bestimmtes Fach gebunden; er spielt den Bösewicht wie die lustige Person; den Träumer Hamlet wie den Recken Quitzow; den Helden der Pflicht im „Pfarrer von Kirchfeld“ wie das Opfer des Branntweins in Zolas „L’Assommoir“. Das Erhabene wie das Rohe, das Gemeine wie das Hohe – alles, was menschlich, ist ihm nicht fremd.

Mitterwurzer leugnet nicht, daß er stets nach dem komischen Material forscht, welches, wie er meint, in jeder Rolle enthalten sei. So macht er den Shylock zur komischeu Figur und weiß den düsteren Wallenstein durch humoristische Lichtlein aufzuputzen. Ja, selbft als Richard III. streift Mitterwurzer durch stärkeres Betonen heuchlerischer Frömmigkeit und ähnlicher Züge das Gebiet der Komik, ohne dadurch die großartige Schrecklichkeit des Charakters abzuschwächen. Keines Bildners Meißel kann die Züge des Tyrannen eindrucksvoller formen, als sie sich in der Maske unserer Künstlers zeigen. Neben den tragenden Rollen der klassischen Tragödie und des zeitgenössischen Schauspiels liebt es Mitterwurzer, burleske Schwänke und Possen darzustellen. Auch darin zeigt sich seine Freude am Humor. Wer gestern über ihn geweint, soll heute über ihn lachen. Bei seinem amerikanischen Gastspiel gab er häufig den sächsischen Theaterdirektor Striese in Schönthans „Raub der Sabinerinnen“ und in dem Putlitzschen Einakter „Das Schwert des Damokles“ den Buchbinder Kleister, dem das Wort „Damokles“ nicht einfallen will. Um Mitterwurzers Vielseitigkeit zu illustrieren, führen wir auch die Maske dieser derb komischen Figur im Bilde vor.

[848] Für unseres Künstlers komische Rollen gilt das Gleiche, was über seine tragischen gesagt wurde. Auch hier begegnen wir einer gesteigerten Nerventhätigkeit, welche die Augen funkeln macht und alle Muskeln in Spannung hält. Mitterwurzers tolle Laune als Conrad Bolz in Freytags „Journalisten“, als Hagen in des lieben, alten Benedix’ „Gefängnis“ und in hundert andern Lustspielen wirkt geradezu zündend; niemand vermag sich der mitreißenden Wirkung zu entziehen, solange die gehobene Stimmung vorhält. Ein Riß – und der elektrische Strom zwischen Bühne und Zuschauerraum ist unterbrochen. Man begreift nicht, wie man über dieses Stück, wie man über diesen Darsteller jemals hat lachen können.

Unseres Künstlers Vater, der berühmte Dresdener Sänger Anton Mitterwurzer, war vor seinem Tode geistiger Umnachtung verfallen. Unter den traurigsten Jugendeindrücken begann Friedrichs künstlerische Laufbahn. Seine Mutter studierte vom Krankenbette aus mit dem Anfänger die ersten Rollen. Wenn der Jüngling verzagen wollte, bat ihn die Mutter, auf Gott zu vertrauen. In der That hatte er in den ersten Jahren seines Künstlertums solch Gottvertrauen ganz besonders nötig. Nach Gastspielen in Meißen und Tetschen fand er Stellungen in Liegnitz und Plauen.

Ging es dort noch leidlich, so folgte dann in allen größeren Städten, in Berlin, Breslau und Leipzig, ein Durchfall dem andern. „In Breslau habe ich seither nie rechten Erfolg,“ behauptet Mitterwurzer. Hülsen löste den für Berlin schon abgeschlossenen Vertrag. Nach Dresden, München, Kassel wandte sich der junge Mann vergebens, er fand keine Stellung. Da wagte es Laube noch einmal in Leipzig. Posa und Coriolan neben zahlreichen Lustspiel- und Possenfiguren trugen dem Künstler Erfolge ein, und der Weg zum Wiener Burgtheater war geebnet. Zwar interessierte Mitterwurzer die Wiener lebhaft, aber, was uns heute als edler Wein mundet, war damals noch gährender Most. Bei der Generalprobe von Goethes „Faust“ fragte der höfische Direktor Dingelstedt: „Werden Sie abends den Mephisto ebenso spielen, lieber Mitterwurzer?“ – „Gewiß, Herr Hofrat.“ – „Dann werden Sie durchfallen,“ schmunzelte Baron Dingelstedt. – „Er hat natürlich recht gehabt,“ fügt Mitterwurzer der Erzählung dieser Episode trocken hinzu. Immer freilich konnte er dem spottlustigen Herrn Hofrat nicht Recht geben. Das Verhältnis zwischen beiden wurde so unleidlich, daß Mitterwurzer beim Kaiser Franz Joseph seine Entlassung aus dem Burgtheater als Gnade erbat. Dann wirkte er in Wien am Ringtheater, am Stadttheater, den beiden inzwischen abgebrannten, und weiter am Carltheater insbesondere als Regisseur verdienstlich. Auch in dieser Eigenschaft galt ihm ein Laubesches Leitwort: „Es muß Hindernisse geben auf dem Theater!“ Wie er danach das Bühnenbild stets durch realistische Ausstattung lebendig zu gestalten wußte, so beschleunigte er auch in realistischer Weise das Tempo der Rede und verbannte dadurch die Langeweile aus dem deutschen Lustspiel.

Nach langen, ebenso erfolgreichen, wie für sein Künstlertum gefahrvollen Gastreisen gehört Mitterwurzer heute wiederum dem Burgtheater an. Den Zwiespalt in seinem Wesen hat er zu meistern gelernt, den Gefahren des Virtuosentums ist er entronnen, er steht im Zenit seiner Laufbahn. Es ist ein entschiedenes Verdienst des jetzigen Burgtheaterdirektors Dr. Burckhard, daß er der ersten deutschen Bühne diesen genialen Schauspieler zurückgewonnen hat. Und könnte Altmeister Laube jene Reihe großdurchgeführter Gestalten sehen, die uns Mitterwurzer als „jüngster“ Hofburgschauspieler bewundern läßt, er würde gerne eingestehen, daß sein bedeutendster Schüler heute Besseres spielen kann als – „abbrüchige Charaktere“. Gerhard Ramberg.