Ein neuer Schachkönig
[687] Ein neuer Schachkönig. Das bedeutendste aller bisherigen internationalen Schachturniere fand im Monat August in Hastings am englischen Südstrande statt: die Augen der Schachfreunde der ganzen Welt waren auf das Turnier gerichtet, wo die berühmtesten Schachkämpen der Gegenwart, Tschigorin, Tarrasch, Steinitz, Lasker, Blackburne u. a., sich im hartnäckigen Kampfe maßen. Fast jeder Schachspieler hatte einen Kandidaten für den ersten Preis in Aussicht genommen, je nach seiner
Ueberzengung von der Bedeutung des berühmten Spielers, dem er die Siegeskrone aufs Haupt zu setzen hoffte. Und da es beim Schachspiel nicht allein auf die Kunst des Spielers ankommt, sondern auch auf das Schlachtenglück, das sich oft recht launisch erweist durch kleine Unfälle, womit es die Kämpfer heimsucht, so war auch hier für Wetten jeder Art die schönste Gelegenheit geboten. Indes gewann keiner der anerkannten Meister den ersten Preis, sondern ein junger, zweiundzwanzigjähriger Nordamerikaner, Pillsbury, aus Boston gebürtig, welcher die ruhmreichsten Veteranen des Schachspiels besiegte. Pillsbury hatte bei dem New Yorker Meisterturnier im letzten Jahre über neun Mitstreiter den Sieg errungen; doch hatte ihm wohl niemand das Horoskop gestellt, daß er in Hastings den ersten Preis davon tragen würde; er scheint als zweiter Morphy das Sternenbanner auf den Feldern des Schachbretts zu Ehren zu bringen. Sehr heiß war der Kampf um die ersten Preise und die Entscheidung schwankte hin und her, je nachdem einer oder der andere der höchststehenden Preiskandidaten von einem der zunächst Nachdrängenden geschlagen wurde. Bald stand Tschigorin an der Spitze, bald Lasker, bald Pillsbury, welcher zuletzt die Oberhand behielt, nachdem Tarrasch Lasker geschlagen hatte. Dieser erhielt den dritten, Tschigorin den zweiten Preis; als vierter Preisträger folgte Tarrasch, der Sieger in den vier letzten großen Turnieren, als fünfter Steinitz, der lange Zeit das Schachscepter der Welt gehalten hatte, bis zwei junge Stürmer und Dränger es ihm entrissen. Bei der Verteilung der Gewinne wie bei der Reihenfolge der Preissieger hat natürlich auch der Zufall seine Hand im Spiele. Sicher aber und vom Zufall unabhängig ist der große Gewinn, den das Schachspiel selbst durch die ausgezeichneten Leistungen der Meister, durch ihre Musterpartien davonträgt. Neue Wendungen der Eröffnung, neue Spielweisen, neue glänzende Kombinationen, besonders im Endspiel, wirken gesetzgeberisch auf die Theorie und anregend auf die Erfindungskraft aller übrigen Schachspieler.†