Ein psychologisches Museum
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Ein „psychologisches Museum“.
Seit mehreren Jahren ist auf die Anregung hin und unter der Leitung des italienischen Forschers Paolo Mantegazza, der ja auch in Deutschland durch seine zahlreichen Schriften in weiteren Kreisen bekannt geworden ist, in Florenz ein „psychologisches Museum“ in der Entstehung begriffen. Dasselbe soll, neben der reichen ethnographischen und anthropologischen Sammlung, welche die Stadt der Medicäer ebenfalls dem genannten Forscher verdankt, gleichsam eine methodisch geordnete Uebersicht über alle nur möglichen Zeugnisse der menschlichen Gefühle und Leidenschaften geben, und es bildet damit seinem Grundgedanken nach einen neuen Ausdruck des in unserer Zeit immer vielgestaltiger auftretenden Museums- und Sammlungseifers.
Mantegazza ging, als er vor einer Reihe von Jahren vor der Italienischen Anthropologischen Gesellschaft zum ersten Male den Gedanken einer derartigen Museumsgründung entwickelte, von dem gewiß ganz richtigen Grundsatz aus, daß die bisher bestehenden ethnographischen Sammlungen lediglich die geistige und kulturelle Entwicklung der einzelnen Völker ins Auge fassen und untereinander zur Vergleichung bringen, daß aber die verschiedenartigen Entwicklungslinien und Entwicklungsgrenzen der einzelnen Individuen selten
zu einer planmäßigen, augenfälligen Darstellung gelangen. Es handelt sich, will man eine solcheerreichen, im wesentlichen darum, die menschlichen Bedürfnisse, Gewohnheiten, Gefühle und Leidenschaften und besonders die Ausartungen derselben durch Gegenstände zu beleuchten und außerdem durch Beispiele die verschiedenen „Suchten“ und „Manien“ zu belegen, zu denen eine einseitig gepflegte Liebhaberei oder auch die allgemeine Mode einzelne Individuen führen kann.
Eine solche übersichtliche Darlegung würde, wie leicht zu begreifen, eigentlich nur auf eine andere Anordnung der in den ethnographischen und anthropologischen Sammlungen niedergelegten Bestände hinauslaufen. Und in der That will Mantegazza eigentlich auch nichts anderes anempfehlen, als für bestimmte Gegenstände eine veränderte Art der Aufstellung. Jedoch schon die Methode bedeutet in der Wissenschaft viel, und sicher würden alle Gegenstände einer ethnographischen Sammlung, wenn sie zum Versuch einmal nach psychologischen Grundsätzen anstatt nach ethnologischen aufgestellt würden, ganz anders zu uns sprechen als vorher.
Man nehme beispielsweise an, ein Museum ginge davon ab, uns in einer besonderen Abtheilung alle auf die Einwohner Australiens bezüglichen Gegenstände zu zeigen, darunter auch alle die, welche ihre Art zu essen und zu schlafen veranschaulichen, es stellte uns vielmehr dar, wie die Art zu essen und zu schlafen sich bei den verschiedensten Völkern gestaltet, so würde damit unser Augenmerk sofort auf das aller menschlichen Entwicklung Gemeinsame hingelenkt werden. Und die Gegensätze zu diesem Gemeinsamen, die Ausartungen, müßten folgerichtigerweise ebenso nicht nur unter einem ethnologischen, sondern auch unter einem individuellen Gesichtspunkt betrachtet werden. Jedoch war es nicht etwa Mantegazzas Absicht, die Schätze seines ganzen reichen ethnographischen Museums einer solchen veränderten Anordnung zu unterziehen; er würdigt sehr wohl die Vortheile, welche die ältere Aufstellung hat. Nur meint er, daß das eine das andere nicht gänzlich ausschließe, und daß es viele Gegenstände gebe, welche sich in die üblichen Fächer nicht bequem einfügen lassen, sondern insofern über ihnen stehen, als sie Zeugniß von ganz allgemeinen, nicht die Völker, sondern nur die Individuen unterscheidenden Gebräuchen, Gewohnheiten, Gefühlen und Leidenschaften ablege. Jede allgemeine Aeußerung des menschlichen Fühlens und Denkens, die Liebe und der Haß, der Stolz, die Rachsucht, das religiöse Gefühl in seinen verschiedenen Ausartungen, die Eitelkeit, wie sie sich in den Ausschreitungen der Mode kund thut, die Grausamkeit, die z. B. in den mittelalterlichen Folterungen zu Tage tritt, die Sammelsucht und Sammelwuth etc., psychologische Erscheinungen, die überall in mehr oder weniger veränderter Gestalt zum Ausdruck kommen, müßten in dem idealen psychologischen Museum, wie es sich Mantegazza denkt, ihre besondere Darstellung finden.
Auf Einzelheiten eingehend, entwirft Mantegazza die Grundzüge eines solche Museums dahin, daß z. B. die Abtheilung für den Stolz die Abzeichen der Herrscherwürde, der Kasten und sozialen Unterschiede, die Orden etc., die Abtheilung für das religiöse Gefühl die Gegenstände der verschiedenen Kulte, die Götzenbilder, die Amulette etc., die Abtheilung für die Eitelkeit alle Mittel und Werkzeuge, um den menschlichen Körper zu verschönern, beziehungsweise zu entstellen, umfassen müßte. Der Stoff für diese einzelnen Abtheilungen würde sich natürlich schon reichlich hier und da aufgespeichert finden und es käme wirklich oft nur auf den richtigen, durchdachten Plan in der Aufstellung an, um auch in anderen Orten psychologische Museen von vielleicht größerem Umfang und größerer Bedeutung, als es vorläufig das Florentiner ist, erstehen zu lassen.
Dieses letztere, gänzlich die Schöpfung des Professors Mantegazza und eines freigebigen Privatmannes, des Kommendatore Borg de Balzan, steht noch sehr in den Anfängen; nur drei nicht allzugeräumige Zimmer sind in den schönen, einst einem fürstlichen Haushalt dienenden Räumen des anthropologischen Museums (hinter der Kirche Santissima Annunziata) zunächst dafür bereitgestellt und mit den nöthigen Schränken versehen wordeu, und diese Schränke sind erst zum geringsten Theile angefüllt. Aber diese Anfänge sind immerhin bedeutsam genug, um den Gedanken Mantegazzas klar hervortreten zu lassen und vielleicht auch an anderen Orten den Anstoß zu ähnliche, mit größeren Mitteln und reicherem Material zu unternehmenden Sammlungen zu geben. Wir finden unter anderem schon treffliche Ansätze zu einer nach den Berufsarten der Urheber [657] geordneten großen Autographensammlung, sowie zu einer Karikaturenzusammenstellung, ferner viele das Nationalgefühl veranschaulichende Gegenstände, darunter auch die erste italienische Trikolore, eine Zusammenstellung weiblicher Moden verschiedenster Zeiten und der Tätowierungsarten der verschiedensten Völker, manche die Blutrache, die mittelalterliche gerichtliche Grausamkeit und das Femwesen betreffende Stücke und besonders eine schon ziemlich umfassende auf das religiöse Bedürfniß und den Aberglauben sich beziehende Sammlung von Amuletten, von geschichtlich oder kunstgewerblich interessanten Rosenkränzen, Zaubersprüchen und Zauberbüchern, Schutzmitteln gegen Kriegsgefahren oder gegen den bösen Blick und ähnlichen Dingen.
Zu dieser letzteren bis jetzt vollständigsten Abtheilung des Florentiner psychologischen Museums, aber zugleich auch in die der Eitelkeit gewidmete Klasse gehört eine höchst merkwürdige Zusammenstellung von Mustern für religiöse Tätowierungem wie sie heute noch in Loreto ausgeführt werden und in jener Gegend Italiens allgemein üblich sind; und es dürfte vielleicht den deutschen Lesern willkommen sein, bei dieser Gelegenheit etwas über eine an heidnische Gebräuche oder an die Sitten wilder Völkerschaften erinnernde Gepflogenheit zu erfahren, die zu Ehren der christlichen Madonna und ihres heiligen Hauses in Loreto noch im neunzehnten Jahrhundert in voller Blüthe steht.
In der antiken Landschaft Picenum, die von den Abruzzen, von Umbrien, vom Tronto und vom Adriatischen Meere eingeschlossen wird und heute einen Theil der italienischen Marken bildet, ist unter der bäuerlichen, aus umbrischen und etruskischen Elementen gemischten Bevölkerung ganz allgemein die Sitte der Tätowierung verbreitet, und zwar einer religiösen Tätowierung, die sich sonst wohl in keinem anderen gesitteten Lande mehr findet. Der Reisende begegnet kaum einem Bauern, auf dessen zur Arbeit entblößtem Vorderarm nicht wenigstens ein Kreuz oder die Symbole der Passion oder auch ein religiöses Motto in blauer Punktierung zu sehen wäre. Eine geistvolle neuere Schriststellerin, die über das Volksleben in den italienischen Marken ein treffliches Buch geschrieben hat, Frau Caterina Pigorini-Beri, ist nicht nur dem Ursprung dieses halb barbarischen Gebrauches nachgegangen, sondern hat auch einige Hunderte der Clichés, mit denen die Zeichnung für die Tätowierung auf die Haut aufgedruckt, und einige der Grabstichel, mit denen alsdann die Punktierung vollzogen wird, sammeln können. Es ist dieselbe Sammlung, welche jetzt im Psychologischen Museum in Florenz zu sehen ist und von der wir hier einige Proben vorführen.
Diese Tätowierungen werden fast stets bei Gelegenheit der häufigen Wallfahrten nach Loreto vorgenommen und meist von den Sakristanen, Kirchendienern, Totengräbern und sonstigen, mit der berühmten Kirche im Zusammenhang stehenben Personen ausgeführt, die eben jene seit Jahrhunderten im Gebrauch befindlichen Clichés besitzen. Das Verfahren ist sehr einfach: das in Holz geschnittene, leicht gefärbte Muster wird auf die straff angezogene Haut aufgedrückt, und die Umrißlinien der Zeichnung werden alsdann mit der „Feder“, einem mit drei Stahlnadeln versehenen Grabstichel (siehe Fig. 14), punktiert; in die blutenden Stiche wird schließlich eine blaue Tlnte eingerieben, die sich unauslöschlich in der Haut festsetzt. Die Behandlung ist natürlich schmerzhaft, jedoch sind meist schon nach 24 Stunden die kleinen Wunden wieder zugeheilt.
Diese Tätowierungen von Loreto sind äußerst mannigfacher Art und umfassen außer den rein religiösen Symbolen auch profane Liebeszeichen, so besonders zwei aneinander gekettete Herzen (Fig. 1) oder das von einem Pfeile durchbohrte Herz. Die Friedenstaube in verschiedener Form (Fig. 2) und der Hoffnungsanker (Fig. 3) oder der Glücksstern (Fig. 4) leiten auf die Engelsdarstellungen (Fig. 5) und auf die eigentlichen religiösen Muster über. Von diesen ist es besonders der heilige Franziskus mit den Stigmatisierungen und dem Rosenkranz (Fig. 8) oder die heilige Klara mit Palme und Büchse (Fig. 7), die am häufigsten wiederkehren, daneben stehen die Attribute des Franziskanerordens, die Wahrzeichen der Passion, diese in besonders reicher Darstellung (Fig. 6), und das Kreuz Christi. Aber auch die Abzeichen der Gesellschaft Jesu fehlen nicht; ebenso finden sich die Madonna des heiligen Hauses von Loreto (Fig. 9) und das wunderthätige Kruzifix von Sirolo (Fig. 10), eines anderen berühmten Wallfahrtsortes jener Gegend. Weitere Muster sind die Madonna di Genazzano, die sogenannte Madonna del Buon Consiglio, die Madonna del Carmine, der Erzengel Michael, der den Drachen tötet (Fig. 11) und das memento mori der Franziskaner (Fig. 12).
Es ist wohl kaum anzunehmen, daß diese Tätowierungen heidnischen Ursprung haben; im
Gegentheil scheint ihre Grundlage durchaus mystischer Art zu sein und mit einer kirchlichen
Einrichtung zusammenzuhängen. Es ist nämlich wahrscheinlich, daß sie eine Nachahmung der
Stigmatisierungen des heiligen Franziskus sind, dessen Wirksamkeit in jenen Gegenden besonders fühlbar war und der dort die ältere und neben Loreto bedeutendste Kultusstätte, das Kloster von Sirolo, gründete. Vielleicht waren die Tätowierungen, die jetzt bisweilen in verschiedenen Mustern beide Vorderarme vollständig bedecken, zunächst Abzeichen der Cavalieri Lauretani oder der Angehörigen des privilegierten Collegio Illirico, denen Papst Sixtus V. die Vertheidigung des heiligen Hauses von Loreto gegen die Einfälle der Türken und Korsaren übertragen hatte, und wurden erst später von der Landbevölkerung, aber immer als ein Zeichen kirchlichen Ritterthums, weniger als ein Talisman, angenommen. Hierauf deutet das besonders häufig wiederkehrende Muster (Fig. 13) hin,
welches das von Sixtus V. geschaffene Wappen von Loreto (eine Madonna zwischen zwei mit Früchten behangenen Zweigen eines Birnbaums) in roher Darstellung wiederholt. Auf jeden Fall
verdiente eine Zusammenstellung dieser Muster wohl in einem psychologischen Museum als
Beleg für die auch in modernster Zeit fast heidnische Formen annehmende religiöse Inbrunst
niedergelegt zu werden. O. B.