Ein seltenes Schicksal
[379] Ein seltenes Schicksal. Nach einem Verse des lateinischen Grammatikers Terentius Maurus (… habent sua fata libelli) haben Bücher ihre Schicksale; daß das geflügelte Wort auf Menschen seine volle Anwendung findet, braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß es aber auch für – Bäume gilt, ist jedenfalls eine Thatsache, welche der Erwähnung werth ist. Als Nero Claudius Drusus im letzten Jahrzehnt vor Christo die römischen Feldzeichen nach Westdeutschland trug, wurde, wie geschichtlich feststeht, eine große Heerstraßenbrücke bei Mainz über den Rhein gebaut, um die Hauptfeste castrum Moguntiacum mit dem am jenseitigen Ufer liegenden Castellum Trajani zu verbinden. Die Wogen der Weltgeschichte und die Fluthen des Vater Rhein haben jenes Bauwerk längst untergehen lassen, keine hohe Säule zeugte von verschwundener Pracht, ja man wußte nicht einmal genau die Stelle, wo es gestanden.
Zur größten Freude der Geschichtsforscher und Archäologen fand man indeß bei Gelegenheit eines Brückenbaues vor einiger Zeit die tief im Bett des Stromes versenkten Ueberreste des alten Römerwerkes auf, [380] sie bestanden in einer großen Zahl Eichenpfähle von acht Meter Länge und fünfzig Centimeter Dicke, deren Kern trotz der neunzehn Jahrhunderte sehr gut erhalten war, nur wenige Centimeter sogenannter Erdverkohlung brauchten entfernt zu werden, und der einst von den Legionen des Drusus gefällte deutsche Eichenstamm präsentirte sich in seiner ganzen Kraft und Schönheit. Begreiflicher Weise bemächtigte sich sofort die Industrie des historischen Holzes, einige hundert Centner kamen in die Ateliers des Hofpianosortefabrikanten Biese in Berlin, um hier entsprechende Verwendung zu finden. Das seltene Material erwies sich als außerordentlich geeignet, und es wurden aus demselben Mitte April vier Instrumente (Pianinos) fertig gestellt, deren Wohlklang jedes musikalische Ohr entzückt. Haben jene Eichbäume, die einst von den römischen Aexten erzitterten, unter deren Zweigen unsere heidnischen Altvordern ihre Opfer brachten und welche nun berufen sind, der edelsten der modernen Künste zu dienen, nicht ihre Schicksale“?