Ein treuer Freund der Freiheit und der Gartenlaube

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Titel: Ein treuer Freund der Freiheit und der Gartenlaube
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aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 420–423
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: über J. D. H. Temme
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Ein treuer Freund der Freiheit und der Gartenlaube.
Es giebt noch Richter in Berlin.

Wer das alte Dictum kennt, welches wir als Motto an die Spitze dieser Charakterschilderung stellen, wird nicht ohne ein bitteres Lächeln des Windmüllers von Sans-Souci und seines Zwistes mit Friedrich dem Großen gedenken. Vor einem Jahrhundert, wo überall in Europa der Wille des Herrschers höchstes Gesetz war und speciell in Deutschland eintausend zweihundert kleine Tyrannen die Macht über Leben und Eigenthum ihrer Unterthanen ausübten, damals lebte im preußischen Volke noch jenes sprüchwörtlich gewordene kindliche Vertrauen in die Heiligkeit und Unwandelbarkeit des Rechts. Mit vielen andern mehr oder weniger kostbaren Gütern ist ihm wohl heutzutage die Kindlichkeit jenes Vertrauens entwichen und wie so mancher fromme Glaube auch der an die Gerechtigkeit merklich erschüttert worden.

Dürfen wir stolz hierauf sein? Sind wir jetzt etwa Männer deshalb, weil wir gelernt haben, unser Vertrauen vorsichtig abzuwägen?

Seitdem wir täglich erfahren und es im preußischen Abgeordnetenhaus öffentlich constatirt worden ist, daß Richter durch Richter zum Märtyrerthum ihrer politischen Gesinnung verurtheilt werden; seitdem im preußischen Justizministerium der Grundsatz gilt, daß der Jurist ein treuer Anhänger des herrschenden Systems sein müsse, und jeder Andersdenkende als ein Feind betrachtet und als solcher verfolgt wird – seitdem muß wohl der unbefangene Bürger die Befürchtung hegen, daß auch das Recht, das wie das Licht der Sonne jedem Sterblichen in gleichem Maße leuchten soll, zur Dienerin der kleinen, aber starken Partei erniedrigt werde und daß an Stelle der leidenschaftslosen Ruhe, in politischen Processen mindestens, die Leidenschaftlichkeit und der Parteihaß beim Urtheil mitreden.

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J. D. H. Temme.

Die Bestrafung von Justizbeamten wegen öffentlicher Aeußerung oder Geltendmachung ihrer politischen Ueberzeugungen ist seit der Vertagung des vorletzten Landtags stehender Artikel in den preußischen Zeitungen geworden. Während der Eine mit einem Verweise davonkommt, trifft den Andern Versetzung mit oder ohne Gehaltsverminderung, den Dritten eine Geldstrafe, den Vierten Absetzung etc. Die Mannigfaltigkeit der Strafmaße wird zwar immer überraschender, doch die Zahl der Opfer des Systems auch täglich größer, und hierin anerkennen wir einen wichtigen Fortschritt, insofern man allen unabhängigen Justizbeamten, wenn auch nicht in gleichem Maße, gerecht zu werden versucht.

Schreiender war das System in seinen Anfängen, als man noch einen Einzigen aus der großen Anzahl Gleichbetheiligter sich herausholte und ihn mit der ganzen Wucht langgenährten Hasses niederwarf. Ein solcher war der preußische Abgeordnete und ehemalige Oberlandesgerichts-Director Temme, dessen Leben wir den Lesern der „Gartenlaube“ erzählen wollen, denen er ja durch so manchen novellistischen Beitrag ein alter, lieber Bekannter ist.

Wem Vorrechte der Geburt oder erbliche Anlagen von vornherein seine besondere Stellung in der Gesellschaft angewiesen, der hat keinen Anspruch darauf, ein außerordentliches Gewicht auf seine lange Ahnenreihe von Regenten, von Musikern, Schauspielern oder Malern zu legen. Die Erscheinung solcher Successionen ist zu alltäglich. Sie erfolgen fast unabhängig von dem Willen der betreffenden Personen, die gewissermaßen einem unabweisbaren Schicksalsspruch gehorchen. Doch hat es eine höhere Bedeutung, wenn von Jahrhundert zu Jahrhundert in bürgerlichen Familien Generationen von Aerzten, Predigern, Naturforschern, Pädagogen, Richtern aufeinander folgen. In diesem Falle wird der Beruf des Vaters vom Sohne als eine geheiligte Würde bevorzugt, welche mit der Würde und Ehre der Familie in innigstem Zusammenhange steht und ihr ein so stolzes Bewußtsein verleiht, wie nur je eine Reihe königlicher Ahnen es vermöchte.

Jodocus Temme stammt aus einer alten westphälischen Familie, welche der rothen Erde schon eine große Anzahl angesehener Juristen gestellt hat. Am 22. October 1799 wurde er zu Lette in der Grafschaft Rheda geboren. Sein Vater, Amtmann des Klosters Clarholz, in Gemeinschaft mit seinem Onkel, einem gelehrten katholischen Geistlichen, ertheilte ihm einen so vortrefflichen Privatunterricht, daß Temme schon im Jahre 1813 in die Prima des Gymnasiums zu Paderborn eintreten und im Herbste 1814 die Universität besuchen konnte. Er studirte in Münster und Göttingen und wurde 1817, im Alter von achtzehn Jahren, Auscultator bei dem Oberlandesgericht zu Paderborn und um Ostern 1819 Referendar. Im Jahre 1821 wurde er zum Assessor bei dem fürstlich Bentheim’schen Land- und Stadtgericht zu Limburg [422] bestellt, folgte aber bald dem Prinzen von Bentheim-Tecklenburg bis zum Jahre 1824 als Erzieher auf die Universitäten Heidelberg, Bonn und Marburg. Um sich einen ausgedehnteren Wirkungskreis zu verschaffen, bestand Temme 1832 die dritte juridische Prüfung und wurde alsdann als Assessor an das damalige Hofgericht von Arnsberg versetzt.

Von hier aus beginnt sein Beamten-Wanderleben, das ihn, den verschiedenen Stufen der richterlichen Hierarchie folgend, in alle Provinzen des preussischen Staates führte, bis er bald nach der Märzrevolution von seinem Posten als Director des Land- und Stadtgerichts zu Tilsit als Staatsanwalt an das Criminalgericht zu Berlin berufen wurde.

In demselben ereignißvollen Jahre 1848 wurde Temme im Kreise Ragnit zum Abgeordneten in die National-Versammlung erwählt, und hiermit tritt er in seine politische Laufbahn. Es ist bekannt, wie ernsthaft er seine Ausgabe als Volksvertreter nahm, mit welcher Entschiedenheit er die Sache der Demokratie gegenüber der Junker- und Hofpartei wie dem kleinen Häuflein der ewig vertrauensvollen Altliberalen vertrat. Das Ministerium Auerswald-Hansemann hatte mit seinem Amtsantritt die Verpflichtung übernommen, Temme und einige andere mißliebige Abgeordnete, welche hohe Richterposten bekleideten, aus ihren Aemtern zu entfernen. Während Temme Staatsanwalt am Criminalgericht zu Berlin war, wurden von der Reactionspartei an seine amtliche Thätigkeit Anforderungen gestellt, welchen er unmöglich entsprechen konnte. Man brauchte gefügigere Werkzeuge, und darum wurde er im Juli trotz seines Protestes zum Director an das Oberlandesgericht zu Münster befördert. Doch kaum hatte er sein neues Amt vier Wochen lang verwaltet, als er wieder in Ragnit zum Abgeordneten gewählt wurde und in Folge dessen sofort nach Berlin zurückkehrte, wo er bekanntlich den thätigsten Antheil an den Sitzungen der Nationalversammlung nahm, bis sie am 5. December aufgelöst wurde.

„Daß wir in Preußen nicht mehr im constitutionellen Staate leben,“ hatte er auf der Tribüne gesagt, „ist wohl kein Geheimniß mehr. Man weiß es in Preußen, man weiß es in Deutschland. Wir haben einen kurzen constitutionellen Traum geträumt; das ist das Ganze. Der Traum ist vorüber, der crasseste Absolutismus ist wieder da.“

Die Reaction warf ihre Larve ab, die Epoche der Verfolgungen und der Demokratenhetze war gekommen. Mehrere preußische Justizcollegien begannen den Reigen mit der Denunciation derjenigen ihrer Mitglieder, welche in der Kammer für die Volkssache gesprochen und gestimmt hatten. Man erinnert sich der Schritte, welche damals die Oberlandesgerichte zu Ratibor und Bromberg in Betreff ihrer Präsidenten Kirchmann und Gierke gethan, des Briefes, welchen der Obertribunalspräsident Mühler an Waldeck gerichtet, um ihn zum Rücktritt zu bewegen. Auch das Oberlandesgericht zu Münster hatte sich in einer Immediateingabe an den König gewendet, mit der Bitte, „sich außer aller amtlichen Beziehung zu dem Director Temme gesetzt zu sehen“.

Diese Eingabe wurde vom Justizminister Rintelen dem auf seinen Posten nach Münster zurückgekehrten Volksvertreter „zur Entschließung“ mitgetheilt. Man wollte ihn veranlassen, freiwillig aus dem Amte zu treten. Als Antwort erklärte Temme in der Sitzung des Collegiums, er sei der Meinung, daß Männer, die Kraft und Muth in sich fühlen, dem Unrechte überall entgegenzutreten, in der gegenwärtigen Zeit doppelt und dreifach die Verpflichtung hätten, auf ihrem Posten auszuharren.

Und nun geschah das Außerordentliche, daß das Oberlandesgericht zu Münster, dasselbe, welches in einer Eingabe an den König als Ankläger gegen seinen Director aufgetreten war, sich auch die Rolle des Richters über ihn zutheilte und, gestützt auf seine Theilnahme an dem bekannten Steuerverweigerungsbeschluß der Nationalversammlung, eine Untersuchung wegen Hochverraths gegen ihn eröffnete. Temme wurde verhaftet und in eine Zelle des Zuchthauses gesperrt, die unmittelbar vorher von fünf darin detinirten gemeinen Verbrechern hatte geräumt werden müssen. Das Oberlandesgericht zu Münster hatte für seinen Director kein anderes Arrestlocal zu seiner Verfügung. Als dies Factum im Parlamente zu Frankfurt zur Sprache kam, war Herr von Vincke kühn genug es als unwahr zu erklären. Der edle Freiherr hat sich leider für zu vornehm gehalten, eine Behauptung zu widerrufen, von deren Falschheit er sich seither sicher überzeugt hat.

Ohne Angabe irgend eines gesetzlichen Grundes und dem Wortlaut des Art. 86 der Verfassung zuwider, beschloß zugleich dasselbe Gericht, einen Tag nach der Verhaftung des Angeklagten, dessen Suspension vom Amte, welche Maßregel das Justizministerium später mit Entziehung der Hälfte des Gehalts begleitete. Temme protestirte. Er berief sich auf die unbestreitbare Incompetenz des Gerichts, welches durch seine Immediateingabe an den König im Voraus seine Parteinahme gegen ihn bekundet habe und nach den Gesetzen unfähig sei, sein Richter zu sein. Er berief sich zugleich auf die Unverletzlichkeit der Abgeordneten, die jede gerichtliche Untersuchung wegen der von ihnen in dieser Eigenschaft vorgenommenen Handlungen verbiete. Der Justizministcr verweigerte die Entlassung aus dem Kerker, doch ging er auf das Perhorrescenzgesuch des Angeklagten ein und übertrug die Untersuchung dem Oberlandesgericht zu Paderborn. Dieses erklärte sich, wie vorauszusehen war, für incompetent und schickte dem Minister die Acten zurück. Der Minister sendet sie ein zweites Mal nach Paderborn und erhält sie ein zweites Mal zurück. Temme bleibt indessen im Zuchthans und kann keinen Richter erhalten! Alle Beschwerden sind nutzlos. Dabei war er unter den 220 Abgeordneten zur Nationalversammlung, die mit ihm den Steuerverweigerungs-Beschluß gefaßt, von denen sogar mehrere im Münsterschen Gerichtsbezirk wohnten, der Einzige, der so behandelt wurde. Kein Anderer außer ihm war nur zur Voruntersuchung, geschweige zur Haft gezogen worden.

Am 8. Januar 1849 wurde indessen Temme vom Kreise Neuß zum Abgeordneten nach Frankfurt gewählt, trotzdem aber erst am 28. Januar aus dem Gefängniß entlassen. Die Untersuchung wurde nun dem Kammergericht zu Berlin übertragen. Eine Entscheidung auf Niederschlagung des Processes und Aufhebung der Amtssuspension erfolgte jedoch erst, als Temme von Neuem im Kerker saß, angeklagt wegen Theilnahme am Stuttgarter Rumpf-Parlament. Nachdem letzteres durch Waffengewalt aufgelöst worden, war Temme zu seiner Familie nach Berlin zurückgekehrt. Auf seine Anfrage beim Minister Simons wurde ihm von diesem das Temme bereits unterwegs bekannt gewordene Gerücht seiner bevorstehenden zweiten Verhaftung bestätigt und er aufgefordert, sogleich nach Münster zurückzukehren. Temme wollte nicht, wie man es wahrscheinlich gehofft, seinem Processe aus dem Wege gehen. Ungeachtet der traurigsten Verhältnisse, in denen er sich von den Seinigen trennen mußte, begab er sich nach Münster und wurde wiederum im Zuchthaus untergebracht.

Es versteht sich von selbst, daß er wie beim ersten Processe und aus denselben Gründen gegen das Oberlandesgericht zu Münster Recusation einlegte und sich zugleich wiederum auf seine Unverletzlichkeit als Abgeordneter stützte. Seine Einwendungen blieben diesmal vollständig unbeachtet. Nachdem er schon ein halbes Jahr im Gefängniß gewesen und die Untersuchung noch gerade so stand wie am ersten Tage seiner Verhaftung, gab er endlich den dringenden Bitten seiner Frau und aller seiner Freunde nach und beschwerte sich beim Justizminister Simons über die Verzögerung seiner Sache. Eine Antwort wurde ihm nicht zu Theil. Dagegen wurde er vierzehn Tage darauf, nach Verlauf von beinahe fünf Monaten seit dem letzten Verhöre, wieder einmal vernommen. Man behielt ihn nun noch volle drei Monate im Gefängniß, ehe man seinen Proceß zur Entscheidung brachte.

Mußte er sich in seiner einsamen Zelle nicht von aller Welt verlassen wähnen? Doch er war es nicht ganz. Das Volk, das ihn schon einmal aus dem Zuchthause befreit hatte, sollte jetzt wenigstens zur Beschleunigung seiner Befreiung mitwirken. In der That war Temme schon kurze Zeit nach seiner Verhaftung im Kreise Koesfeld zum Abgeordneten in die erste Kammer gewählt worden. Allein dadurch wurde diesmal seine Freilassung nicht bewirkt. Nachdem Waldeck, Jacobi, Grün und mehrere andere politische Angeklagte von den Geschworenen freigesprochen waren, drängte die gesammte Reaction auf Errichtung eines Staatsgerichtshofs für politische Verbrecher hin. Der Gedanke lag nahe, daß Temme zu einem der ersten Opfer dieses Gerichtes ausersehen sei. Die ganze Provinz Westphalen gerieth in eine Bewegung, die sich nicht blos den demokratischen, sondern in gleicher Weise den conservativen Kreisen mittheilte. Von allen Seiten vereinigte man sich zu Adressen für eine Beschleunigung der Untersuchung. In Folge dieser Kundgebungen fand man sich endlich bewogen, den Termin zur öffentlichen Verhandlung vor den Geschwornen [423] auf den 6. April 1850 anzusetzen. Temme wurde freigesprochen und endlich seiner Haft entlassen.

Leider war er damit noch nicht am Ziel der gegen ihn verhängten Verfolgungen angelangt. Das vermeintliche Verbrechen der Betheiligung am Stuttgarter Parlament mußte nun, in Verbindung mit des Verfolgten Beschwerdeschriften an den Justizminister gegen das Münstersche Gericht, zu einer Disciplinaruntersuchung gegen ihn dienen. Man machte ihm zugleich den Vorwurf, seine Amtspflichten verletzt zu haben, weil er während seiner Suspension sich zur Ertheilung von Rechtsgutachten angeboten. Man zog einen bei Waldeck gefundenen Brief herbei, der schon im früheren Processe figurirt hatte; kurz, man wollte nun einmal den mißliebigen Staatsdiener aus dem Amte entfernen, und man fand die Mittel dazu.

Die auf den Fall bezüglichen Gesetze reichten freilich nicht hin, doch es existirte eine Verordnung vom 10. Juli 1849. Wie das Obertribunal selbst erklärte, waren sämmtliche Handlungen des Angeklagten vor der Publication dieser Verordnung vorgefallen; dennoch verurtheilte ihn dasselbe Gericht auf Grund jener Verordnung zur Dienstentlassung und dem vollen Verlust seiner Pension und lieferte damit ein Beispiel der Rückanwendung eines späteren Strafgesetzes auf einen frühern Fall, das in den Annalen der gesammten europäischen Rechtspflege bis dahin unerhört war und auch seitdem einzig und allein geblieben ist. Ja, dasselbe Obertribunal zu Berlin erkannte wenige Monate später in einem gleichliegenden Falle gegen den Oberlandesgerichts-Assessor Martiny, daß, da die sämmtlichen diesem Angeschuldigten zur Last gelegten Handlungen vor der Publication des Disciplinargesetzes vorgefallen seien, dieses nicht zur Anwendung kommen könne und Martiny außer Verfolgung zu setzen sei. Die Entscheidung wurde freilich auf Veranlassung des damaligen Justizministers lange geheim gehalten, und Martiny selbst erfuhr erst nach einigen Jahren jenen rechtlichen Grund des Fallenlassenn der Anklage wider ihn von Seite der Staatsanwaltschaft. Das verdammende Urtheil gegen Temme ließ man bestehen. Von diesem Urtheil des höchsten Gerichtshofs zu Berlin datirt jene Epoche der preußischen Rechtspflege, die überall ebenso sehr mit Erstaunen wie mit Schmerz erfüllt.

Dreiunddreißig Jahre hatte Teinme seine Kräfte dem Dienste des Staates gewidmet. Er war vor allen Justizbeamten Preußens dadurch ausgezeichnet worden, daß man ihn beinahe regelmäßig von zwei zu zwei Jahren in schwierige Aemter beförderte, die jedesmal, wie der Justizminister Mühler selbst bemerkte, besondere Rechtskenntniß, Energie, Fleiß und Eifer erforderten. Zu einer Zeit und in einer Lage, wo er auf Pension Anspruch machen konnte, wurde er wegen seiner Liebe zum Volke, wegen seiner unbeugsamen Gesinnung der gesetzlichen Ansprüche auf einen Ruhegehalt beraubt.

Er übernahm die Redaction der Oderzeitung. Man wußte ihm jedoch durch polizeiliche Haussuchungen etc. seinen Aufenthalt in Breslau so sehr zu verleiden, daß er mit Freuden eine Professur an der Universität in Zürich annahm, welche ihm die republikanischen Schweizerbehörden bereitwilligst anboten. Im Jahr 1863 bekanntlich von Neuem in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, legte er ein Jahr später sein Mandat freiwillig nieder.

Schon frühe hatte Temme sich literarischer Thätigkeit gewidmet. Seine juridischen Schriften sind sehr zahlreich und haben ihm den Ruf eines bedeutenden Rechtsgelehrten erworben. Allgemein bekannter ist Temme durch seine Romane und Criminalgeschichten, die ihn in die Zahl unserer gelesensten und geschätztesten Erzähler einreihen. Vor mehr als dreißig Jahren erschienen seine ersten Novellen und sein erster größerer Roman „die Kinder der Sünde“ unter dem angenommenen Namen H. Stahl. Mit seinem wirklichen Namen trat Temme erst 1831 in die Oeffentlichkeit als Verfasser der westphälischen Sagen und Geschichten. An dieselben schießt sich eine Sammlung Volkssagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens, welche er gemeinschaftlich mit T. von Tettau[WS 1] 1837 herausgab. Ihr folgten 1839 die Volkssagen der Altmark und endlich 1840 die Volkssagen von Pommern und Rügen. So wußte dieser echt deutsche unermüdliche Arbeiter auch auf seinen Beamtenwanderungen durch alle Provinzen des preußischen Staates überall duftige Sträuße unvergänglicher Volkspoesie zu sammeln. Bedeutender wird seine schriftstellerische Thätigkeit mit seiner Uebersiedlung in die Schweiz, namentlich seit er durch die „Gartenlaube“ dem größten deutschen Leserkreise bekannt und lieb geworden ist. Von hier aus eroberte er sich trotz aller Ungunst äußerer Verhältnisse und der Camaraderie in den literarischen Kreisen seiner Heimath einen festen Platz unter den deutschen Erzählern.

„Tous les genres sont bons, hors le genre ennuyeux“ (alle Arten sind gut, nur nicht das langweilige), ist ein bekannter Ausspruch Voltaire’s. Wenn man von Temme sagen kann, daß er niemals langweilig ist, so ist dies ein um so größeres Lob, als leider nur wenige deutsche Novellisten es verdienen. Temme besitzt eine reiche, wir dürfen sagen unerschöpfliche Phantasie. Von der allgemeinen Krankheit unserer deutschen Romanschriftsteller, Mangel an Erfindungsgabe, hatte er nie Etwas zu befürchten. Sein wechselvolles Leben, sein langjähriges Amt als Criminalrichter, brachten ihn in tägliche Berührung mit allen Kreisen der Gesellschaft. Er hatte wohl das Laster in seinen entsetzlichsten Erscheinungen beobachten müssen, aber das „Steinige! Steinige!“ der Pharisäer war ihm stets verhaßt geblieben. Sein Gemüth hatte ihn vielmehr immer dazu geführt, die ersten Irrwege des Verbrechers aufzusuchen, die leitenden Fäden seines Geschickes zu verfolgen, den finstern Schleier wegzuheben, der uns wehrte. in der schrecklichen Gestalt des Missethäters die ursprüngliche gottähnliche Menschengestalt zu erkennen. Sein tiefes Mitleid begleitet den Gefallenen bis zum Moment der Sühne.

Wir sind lange genug mit den romantisch-verschwommenen Gebilden einer geträumten Welt genährt worden und wissen es der gegenwärtigen Literatur Dank, daß sie es wiederum versucht, uns die wirkliche Welt in idealem Bilde vorzuführen. Eine heftige realistische Reaction macht sich unter den heutigen Schriftstellern geltend. Es ist dies eine gesunde Erscheinung, die wohl da und dort das rechte Maß verliert, aber hoffentlich zu einer Erneuerung der großen Tage deutscher Dichtkunst führen wird.

Die Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre bildete ein Volk von Träumern, das den Augenblick verpaßte, den die Geschichte ihm einmal geboten. Diejenige der Gegenwart soll Männer bilden und deshalb muß sie realistisch sein, das Leben unserer Generation mit seinem allseitigen Ringen und Streben, seinen Genüssen und seinem Jammer in allen Gesellschaftsschichten ergreifend und nachwirkend schildern. Mit manchem andern deutschen Schriftsteller hat Temme diese Aufgabe begriffen und redlich verfolgt. Schnell fortschreitende und dabei spannende Handlung ist freilich die charakteristischste Seite seiner Erzählungen, doch diese Handlung ist nicht nur eine äußerliche, willkürlich ersonnene; sie entwickelt sich durchgängig aus lebendigen, vor unsern Augen wirkenden Charakteren, bei denen der Dichter es an dem unentbehrlichen Salz der Contraste nicht fehlen läßt. Seine Scenerie ist außerordentlich mannigfaltig, wie die Welt, welche er schildert. Er bewegt sich nicht etwa vorzugsweise in den abstoßenden Schlupfwinkeln des Verbrechens, in Gefängnißräumen und Gerichtssälen; auch im schimmernden Paradesaal des Geburts- und Börsenadels wie im nüchternen Wohnzimmer des Handwerksmanns, im duftigen Boudoir einer Weltdame wie in der ärmlichen Dachstube einer Nähterin ist er zu Hause, und wenn er schonungslos der Heuchelei ihre Larve abreißt, der prangenden Niederträchtigkeit ihre bunten Lappen zerfetzt, stets führt er uns doch mit Vorliebe in den Kreis bürgerlicher Thätigkeit, wo unberührt vom Getriebe wilder Leidenschaften ein genügsames Glück sich aufbaut durch regen Fleiß und fromme Menschenliebe.

Temme hat sich einen ihm eigenthümlichen Styl geschaffen, er ist ein Feind langer Perioden. Die kurzen, knappen Sätze (manchmal etwas gar zu knapp) verleihen seiner Darstellung eine Lebendigkeit, welche in den Novellen und kleineren Erzählungen, die ihrer Natur nach jedes unnütze Beiwerk ausschließen, die Wirkung außerordentlich erhöht, seinen größeren Romanen dagegen Eintrag thut. Hier gelüstete uns manchmal, uns an einem stillen, schattigen Plätzchen auszuruhen und traulich ein Wörtchen mit dem Dichter zu plaudern. Doch der reißt uns unaufhaltsam fort mit dem Strome seiner Erzählung und läßt uns nicht eher los, als bis wir am Ende sind.

Möge es Temme vergönnt sein, noch recht viele Bilder menschlicher Wirrsale und Kämpfe dichterisch darzustellen. Das Volk wird seine Erzählungen stets dankbar aufnehmen, denn es fühlt dabei, daß hier Einer spricht, der mit ihm gelitten und gestritten hat.



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