Eine Doppelnatur
[608] Eine Doppelnatur. Als ich ich Herbst 1827 von Leipzig nach Gotha zurückgekehrt war mit einem bereits gut klingenden Namen als Verfasser von einigen Romanen und Novellen, zu dem mir besonders Adolf Müllner verholfen hatte, trat eines Tages ein langer, schlanker, junger Mann von meinem Alter bei mir ein. „Er kenne Niemand in Gotha, der ihn bei mir einführen könne, so komme er allein, zwar ein namenloser Candidat der Theologie und Führer eines jungen Adeligen, der das gothaische Gymnasium besuche, aber großer Liebhaber der deutschen Poesie und Literatur.“ Er hatte ein merkwürdig verzwicktes Gesicht, eigentlich beschränkte, sogar dumme Züge; wenn er sprach, brauchte er erst einige Zeit, um in Fluß zu kommen. Erst kamen die Worte, darauf die Sätze stoßweise, dann aber sprach er rasch, fließend, anfangs gewöhnlich, dann geistreich. Ich machte ihm meinen Gegenbesuch und fand ihn mit Shakespeare in der Ursprache beschäftigt. Er machte die treffendsten Bemerkungen über Shakespeare, und nun lernte ich ihn nach und nach als einen Mann von enormem Wissen und einer sehr scharfen Beurtheilungsgabe kennen, der sich sehr treffend kritisch aussprach. Er kannte Alles, die ganze antike und moderne poetische Literatur, sein Lieblingsfach war aber die altdeutsche, in deren Dichtern er ebenso bewandert war, wie in Goethe, Voltaire, Shakespeare etc. Ich lernte viel von ihm. Dabei war er sehr bescheiden und prunkte nie mit seinen Kenntnissen; über die jüngere Literatur sprach er entschieden ungünstig, ja gehässig. So wie er aber auf sein Brodfach, die Theologie, kam, sprach er lauter wunderliches Zeug; der strengste lutherische Orthodoxe und Bibelgläubige, meinte er, nur im Glauben an die Bibel könne die Menschheit genesen. Ich lachte ihn oft aus und legte mir mehrmals die Frage vor: Ist dieser Mensch dumm oder genial? Zuletzt kam ich mit mir überein, er sei ein ganz außerordentlicher Mensch, zugleich genial und beschränkt, jenes in Beurtheilung der Dichter, dieses in Betracht der Theologie und Philosophie. Natürlich fühlte ich mich zugleich von ihm angezogen und abgestoßen.
Ich arbeitete damals viel für die Brockhaus’schen Unterhaltungsblätter; er sah Bücher bei mir, die mir Brockhaus zur Beurtheilung geschickt, und bat mich, ihn diesem zu empfehlen, er wolle auch in die Unterhaltungsblätter schreiben. Zu diesem Zweck gab er mir einen vortrefflich geschriebenen Aufsatz, den ich Brockhaus schicken mußte. Darauf ist er, glaub’ ich, auch Mitarbeiter geworden. Unser Umgang dauerte vielleicht ein halbes Jahr. Nachher ging ich nach Stuttgart, und er erhielt eine Rectorstelle am Gymnasium in einer Stadt seines Vaterlandes Kurhessen.
Nachher las ich viel von diesem Manne; er wurde der geistreichste Beurtheiler unserer Nationalliteratur bis auf Goethe, und der beschränkteste Ultra-Orthodoxe der Neuzeit, der eine Literaturgeschichte geschrieben hat, die seinen Namen auf die Nachwelt bringen wird, und der allen Ernstes behauptete, der Teufel habe ihm in Person einen Besuch gemacht (wir Thüringer sagen, er hat den Teufel barfuß laufen sehen). Der Leser weiß nun schon, daß es Vilmar war, der vor Kurzem als Consistorialrath und Professor der Theologie in Marburg gestorben ist.