Zum Inhalt springen

Eine Gartenlaubenreflexion

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: W. Marr
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Eine Gartenlaubenreflexion
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 426
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[426] Eine Gartenlaubenreflexion. Die Pfingstfeiertage und die darauf folgende Woche hatte ich auf einem Gute in Mecklenburg zugebracht. Das Gut liegt drei Stunden von der Hamburg-Berliner Eisenbahn entfernt und eine Stunde von der nächsten Chaussee. Meine kurze Villeggiatur durfte daher auf das Prädicat „ländlich“ gerechten Anspruch machen, und da ich es zur Bedingung gestellt hatte, daß alle „Umstände“ meinetwegen wegfielen, so konnte ich auch ungestört in der Gartenlaube sitzen und in alten Jahrgängen der „Gartenlaube“ blättern, die man hier sorgfältig gesammelt und mit einem durabeln Einbande versehen hatte. Eine solche Ehre widerfährt den politischen Zeitungen nie oder selten. Der politische Journalist schreibt in letzter Instanz – Maculatur für den Käseladen. Sein geistiges Schaffen ist Reflex, seine Wirksamkeit eine Ephemeride. Es mag ein wahres Wort sein: „Der Schriftsteller geht in dem Journalisten zu Grunde“, obschon es wie ein Paradoxon klingt. Selbst für einen modernen „Junius“ ist die Concurrenz zu groß geworden.

Ich blätterte hin und her und stieß auf manchen Namen, der jetzt auch auf Grabsteinen zu lesen ist. Ein wehmüthiges Gefühl! Die „Gartenlaube“ kam mir vor wie ein gedruckter Kirchhof, die Aufsätze der Verstorbenen erschienen mir wie ein Vermächtniß für die Leser, und ich glaube sogar, meine Augen sind etwas feucht geworden, als ich unter den jetzt Todten auch meinen alten Schulfreund Gerstäcker gedruckt reden sah.

Weg mit den trüben Gedanken!

Unter den vielen Aufsätzen, welche ich noch einmal durchflog, waren von einem andern Autor auch Reminiscenzen aus dem vorigen Jahrhundert. Sie behandelten ein Geschäft, welches von einer Anzahl deutscher Fürsten getrieben wurde. Der Artikel war Menschenfleisch, und der Leser wird bereits errathen haben, daß von dem Verkauf deutscher Landeskinder an England die Rede ist, um die junge Freiheit in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu unterdrücken. Die beregten Artikel befinden sich besonders in dem Jahrgange 1864 der „Gartenlaube“ und dürfen der Wiederlectüre sehr empfohlen werden, nicht damit wir in eine billige Entrüstung über eine Barbarei der Vergangenheit ausbrechen, o nein! sondern damit wir sehen, daß die Factoren nur gewechselt haben und die modernen „Landgrafen von Hessen“ etc. nur anders geformt als Kaufleute, Rheder und Expedienten auf den Comptoirsesseln sitzen.

„Stehe auf, daß ich mich hinsetze!“ klang es mir in die nachrevolutionären Ohren. Der alte „Werber“ heißt heute „Agent“; die „gewaltsame Pressung“ ist der „Ueberredung“ gewichen, die „Zunge“ vertritt die „Faust“, und der „Vertrauensmißbrauch“ trommelt „Cam’rad komm!“ Auch die alten deutschen Fürsten verstanden es, von goldenen Bergen jenseits des Oceans zu reden und ihren Menschenschacher mit dem Nimbus einer gewissen Philanthropie zu umgeben. Was aber damals Beute und Plünderung locken mußte, das sind heute Versprechungen von Landbesitz nach freier oder billiger Ueberfahrt. Nach den Begriffen des vorigen Jahrhunderts verbot keine Verfassung dem „Landesvater“, seine Unterthanen in der Form von „Soldaten“, „Hülfstruppen“ zu verkaufen. Die straflosen Verbrechen der Gegenwart nehmen die Maske des „freien Verkehrs“ vor, und derselbe Rheder, der durch „Kulifrachten“ oder durch „Auswanderer“ reich wird, die er in die Sümpfe und Urwälder Brasiliens locken läßt, spielt ganz ungenirt den sittlich Entrüsteten, wenn von dem Menschenhandel der deutschen Fürsten des vorigen Jahrhunderts die Rede ist.

Und dennoch – wenn man nämlich stark genug zu einer eiskalten Reflexion ist – wie philanthropisch war jener Menschenhandel durch die Verhältnisse jenseits des Oceans gegen den modernen!

Die schmählich verkauften Landeskinder kamen vor Allem auf einen Kriegsschauplatz, dessen Klima ein temperirtes genannt werden durfte. Sie kämpften gegen Menschen, nicht gegen eine furchtbare Sumpf- und Urwaldsnatur der Tropen. Sie konnten desertiren, ihren Peinigern entrinnen und wurden von der jungen Union als Bürger, die man nicht mit leeren Versprechungen abspeist, empfangen. Und bekanntlich desertirten die deutschen Landeskinder gar nicht übel zur Zeit des nordamerikanischen Freiheitskrieges. Der Grund und Boden, das Klima, die Sitten und Gebräuche von Nordamerika waren den verkauften Deutschen nicht absolut fremd und feindlich. Die Nichtswürdigkeit des Verkaufsactes konnte durch persönliche Willens- und Thatkraft abgeschwächt werden in ihren Folgen.

Die Scene hat sich heute verwandelt. Die Schauspieler sind anders costümirt und sprechen einen andern als den Corporalsjargon. Mit einer Naivetät ohne Gleichen geschehen von den deutschen Seeplätzen aus die modernen Transporte der verlockten Menschen. Die Werbetrommler schneiden humane Grimassen, und mit einer ebenso unglaublichen Naivetät rauchen die „Bundescommissäre“, welche an den Seeplätzen „zum Schutze der Auswanderer“ spazieren gehen und Diners besuchen, ihre Cigarre dazu.

Es sind – „lauter Freiwillige!“ wie der Kammerdiener in „Kabale und Liebe“ sagt. „Freiwillig“ überantworteten sie sich der ausmergelnden Schiffskost; „freiwillig“ gehen sie wie die Fliegen auf den Leim, und vielleicht toastirt der „Bundescommissär“ an der Tafel des Rheders „auf die Größe und Einheit des deutschen Vaterlandes“ dazu. Es lebt sich gut, es ißt und trinkt sich gut in den deutschen Seeplätzen, und ein gutes Diner stimmt das menschliche Gemüth weich und nachsichtig.

Ja, wenn wir mit Brasilien im Kriege lebten! Aber die deutschen Landeskinder werden ja nicht todtgeschossen; Fieber und Ungeziefer sind keine Kugeln, und es sind ja – „lauter Freiwillige“; die Strafgesetzbücher sind lückenhaft in Bezug auf den Selbstmord und auf die Verleitung zum Selbstmord. Auf dem Wege zu diesem findet der Deutsche weniger Schwierigkeiten und Weitläufigkeiten, als wenn er sich verheirathen will.

Ein Radicalmittel giebt es gegen die bürgerlichen Geschäftsnachfolger der deutschen Fürsten des vorigen Jahrhunderts nicht, außer daß man allüberall die sogenannten Auswanderungsagenturen strengstens verbieten müßte, wodurch der Act der Auswanderung zu einer völlig freien Selbstbestimmung würde.

Doch ich überschreite die Grenze der Aufgabe, welche sich dieser Artikel gesteckt hat: die Parallele zwischen Sonst und Jetzt. Früher der rauhe, gerade landesväterliche Despotismus; heute die glattrasirte Physiognomie des „ehrbaren Kaufmanns“. Früher die Menschenwaare sans phrase; heute mit der Etiquette der lügenhaften Vorspiegelungen. Die Provision ist – Dank der Concurrenz – heute geringer geworden. Früher hieß es, die englische Armee zu stärken; heute gilt es, Fracht für die Schiffe zu erhalten, und die strafgesetzlichen Bestimmungen über Vertrauensmißbrauch machen respectvoll Halt vor jedem Hausknecht, der zum großen Rheder geworden ist. Die straflosen Verbrechen des vorigen Jahrhunderts sind für die Fürsten unmöglich geworden; sie sind das Privilegium, welches subtiler ausgeübt wird von ihren Nachfolgern der Comptoirs. Die Form ist eine andere; das Wesen ist geblieben. Die deutschen Regierungen aber haben leider noch nicht so viel geographische Kenntnisse, um zu wissen, daß jedes Tropenland, welches niedriger als circa drei- bis viertausend Fuß über dem Meeresspiegel liegt, für den europäischen Landmann ein unmöglicher Boden ist. Nicht Tiger und Schlangen, nicht wilde menschenfressende Indianer, womit die Touristenphantasie die Tropenregionen zu illustriren pflegt, ah bah! das sind Märchen und Uebertreibungen. Die sogenannten „kleinen Leiden des menschlichen Lebens“, gegen welche uns Nichts schützt, die aber millionenfach in Gestalt von Ungeziefer, tödtlichen Sumpfgasen etc. unser harren, das sind die unbesieglichen Feinde der Einwanderer.

Was ist nun schlimmer: der „deutsche Landesvater“ des vorigen Jahrhunderts, der seine Unterthanen verkaufte, um gegen civilisirte Menschen zu kämpfen, oder die Handvoll gewissenloser Schiffsrheder, die, um „Frachten zu machen“, mit Hülfe von Auswanderungsexpedienten und Agenten die Menschen in den Tod hineinlügen? Jedes Kind in den deutschen Seestädten kennt diese „Biedermänner“, die als „ehrbare Kaufleute“ einherstolziren, allein das „lückenhafte Strafgesetz“ setzt die straflosen Verbrecher in den Stand, mit der prosaischen Injurienklage die Stimme der empörten Moral mundtodt zu machen, und mancher deutsche „Landesvater“ des vorigen Jahrhunderts, wenn er wieder auferstände, würde sich wundern, wie man in ihm den „Splitter“ verdammt, während man die „Balken“ mit Händen greifen könnte, wenn man nur wollte. –

W. Marr.