Eine Hütteninspektion mit Hindernissen

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Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: Eine Hütteninspektion mit Hindernissen
Untertitel:
aus: Die Neue Welt, Nr. 5–6, S. 36–44
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1903
Verlag: Goldhausen
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Commons
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Eine Hütteninspektion mit Hindernissen.
Von Rudolf Lavant.

Die freundlichen Leser der Adamello–Besteigung, die ich früher einmal geschildert habe, dürfte es wohl interessiren, zu erfahren, wie es im Hochgebirge aussieht, wenn die Schneefälle und Stürme des Spätherbstes die Berge und Thäler Südtirols in ihr winterliches Gewand gehüllt und die Touristenschwärme verscheucht haben, die in den Sommermonaten die Sarca aufwärts zogen und in dem stattlichen Leipziger Schutzhaus am Mandron die Küche und den Komfort eines städtischen Hôtels fanden. Es ist ein gewaltiger Unterschied zwischen einem langen Julitag unter den lichtgrünen Lärchen, die die Casina Bolognini beschatten, und zwischen einem kurzen Oktobertag nach schwerem Schneefall, und der nervenstählende Spaziergang verwandelt sich in ein den stärksten Mann bis zur Erschöpfung auspumpendes, festen, unbeugsamen Willen und kaltes Blut erforderndes Unternehmen, das sich in allen seinen Einzelheiten der Erinnerung unauslöschlich einprägt.

Sicherlich ist es schwer, Demjenigen, dem es nie vergönnt war, seine Ausdauer und seine Abhärtung gegen Witterungseinflüsse im Hochgebirge auf die Probe zu stellen, einen auch nur annähernden Begriff von der Großartigkeit und Wildheit zu geben, die sich ihm, wenn der Winter sein Regiment angetreten, auf Schritt und Tritt abwehrend und finster in den Weg stellen, und da ich es mir zum obersten Gesetz gemacht habe, lieber zu matt als zu farbig zu schildern und mich vor jeder unwillkürlichen Uebertreibung ängstlich zu hüten, begebe ich mich beinahe der Möglichkeit, meinem Stoff gerecht zu werden. Aber ich will lieber zu diskrete Farben wählen, als mich der Gefahr aussetzen, der Aufschneiderei verdächtig zu werden; Jäger und Touristen lügen ja nach dem allgemeinen Glauben gewohnheitsmäßig und man pflegt ihnen scharf auf die Finger zu sehen. Die Zahl Derer, die eine solche Wintertour hinter sich haben, ist eine sehr kleine, wenn es auch bereits eine kleine begeisterte Gemeinde giebt, die „Wintertouren“ auf ihre Fahne geschrieben hat; mir scheint, gerade dieser Umstand rechtfertigt mein Unternehmen, meine freundlichen Leser einmal im Winter in die Hochgebirgsregion zu führen und ihnen zu erzählen, wie es da oben aussieht, wenn der Hunger die Gemsen hinuntertreibt in die waldigen Hänge, an deren Fuß die Sarca als dünnes Rinnsal aus der Gletscherzunge des Mandronferners hervortritt.

Windgepeitschte Regengüsse am Zitronenufer des Gardasees, am nächsten Tage verdrießlich plätschernder Regenfall in Arco, so daß man keinen Fuß aus dem Hause setzen konnte – das waren böse Aussichten für einen Aufstieg nach dem neuen Leipziger Schutzhause am Mandronferner, denn es war bereits in der zweiten Hälfte des Oktober, und da selbst der Monte Baldo sich schon eine tüchtige Schneehaube aufgestülpt hatte, ließ sich auf schweren Neuschnee im Val di Genova schließen, und wie es in 3000 Meter Meereshöhe aussehen würde, war nicht leicht zu sagen. Dennoch musste der Versuch unternommen, dennoch mußte er, wenn irgend möglich, durchgeführt werden, denn mein Rucksack barg ein großes, komplizirtes Kunstschloß, das neben dem gewöhnlichen Alpenvereinsschloß angebracht werden sollte, um das neue Haus den Winter über besser gegen unerbetenen Besuch zu schützen, der neuerdings leider Mode geworden ist. Außerdem war festzustellen, ob die bei der Einweihung noch vorhanden gewesenen Mängel sämmtlich beseitigt und ob das Heim genügend gegen die Schneestürme des Winters gesichert und verwahrt sei: Grund genug für mich, an die Ausführung meines Vorhabens Kopf und Kragen zu setzen und die Sorgen und Zweifel des Hüttenwarts, wenn irgend möglich, zu zerstreuen.

Mein Reisegefährte, obgleich verhältnismäßig ein Neuling im Hochgebirge und dabei etwas stärker und schwerer, als dies wünschenswert ist, hatte guten Muth, wir ließen uns also am dritten Tage von der Post über Alle Sarghe am Toblinosee und durch das tiefeingerissene Sarcathal nach Tione und weiter durch's Val Rendena nach Pinzolo kutschiren. Schon in Alle Sarghe hatte ein frischer Nordost sich ungestüm über das grauschwarze, schleppende Regengewölk hergemacht und es nach allen Seiten zerblasen; das ließ für den nächsten Tag ein Aufhören der Niederschläge erwarten. Freilich gaben die das Val Rendena begleitenden Gebirgszüge bereits einen Vorgeschmack des zu Erwartenden; die Berge waren bis zum Fuße herab stark angeschneit und die mir so wohlbekannte Gegend hatte einen fremdartig-hochalpinen Anstrich bekommen.

Als unser vorsündfluthlicher Rumpelkasten endlich in der Dämmerung in Pinzolo hielt, öffnete der Führer Liberio Collini, dem ich telegraphirt hatte, den Wagenschlag und führte uns nach Hotel Pinzolo, das wie ausgestorben, finster und stumm dalag. Der alte Onkel des in Arco weilenden Besitzers, der mit seiner Frau das Haus hütete, kam zwar nach einigem Pochen und Rufen zum Vorschein, meinte indessen sehr kleinlaut, die Zimmer könnten wir uns nach Belieben heraussuchen, sie hätten aber kein Fleisch, denn in ganz Pinzolo sei so spät im Jahre höchstens etwas stinkendes Hammelfleisch aufzutreiben. Nun, dieser Fall war von uns vorgesehen; wir brachten von Arco ein tüchtiges Stück guten Rindfleisches mit, das für mehr als eine Mahlzeit reichte, und bald prasselte ein lustiges Holzfeuer und verhalf uns zu ein paar Beefsteaks mit patate fritte (Schmorkartoffeln), wie man sie auf welschem Boden kaum besser bekommen kann.

Dann folgte die Berathung mit Liberio und seinem Bruder Amanzio. Resultat: Es wird gehen, wenn beide Brüder uns begleiten, leicht allerdings nicht und nur mit Schneereifen. Der alte Onkel freilich schüttelte sein Haupt: der Schnee liege zu hoch, wir kämen von Bedole aus nicht mehr durch. Nun, wir hielten uns natürlich an die Brüder Collini, und am nächsten Morgen ging es bei leichtem Frost guten Muthes vorwärts. Die erste kleine Kapelle am Wege veranlaßte unsere Führer, ihre Häupter zu entblößen und eine gute Weile in stummem Gebete zur Madonna zu flehen. „Auch ein Symptom – die Sache ist also kitzlich!“ dachte ich, denn ich war solche Frömmigkeit, die bei einem Nordtiroler etwas Alltägliches ist, an ihnen nicht gewöhnt, obgleich ich schon manches nicht ganz Harmlose mit ihnen ausgeführt hatte. Meinem Reisegefährten gegenüber, der vergnügt darauf losstiefelte und sogar seinen geliebten photographischen Apparat mitschleppte, behielt ich meine Wahrnehmung für mich – wozu ihn vor der Zeit bedenklich oder gar kopfscheu machen?

Das uralte Kirchlein von San Stefano unter seinen mächtigen Edelkastanien, die entlaubte Zweige zum bleigrauen Himmel streckten, der Nardisfall, an den der Aufstieg zur Presanella beginnt, die drei markanten Thalstufen, von denen jede durch einen prächtigen Sturz der Sarca bezeichnet wird, all' diese Einzelbilder vielleicht der schönsten Wanderung, die Südtirol zu bieten hat, zogen an uns vorüber und noch kein Schnee! Freilich, die Ketten und Kämme und Spitzen, die sich immer zahlreicher eine hinter der anderen vorschoben, wie in einer Wandeldekoration, sahen garnicht so gemüthlich aus, wie im Sommer und Frühherbst; es lasteten schwere Schneemassen auf ihnen, und als wir nach dreistündigem [38] Marsch die kleine, von himmelanstrebenden Wänden flankirte und vorn vom Mandronferner geschlossene Hochebene von Bedole erreichten, bekamen wir auch hohen gefrorenen Schnee unter die Füße, und der schlichte Denkstein für den infolge eines Fehltritts in den Wänden verunglückten Professor Mighetti nahm sich in dieser Winterlandschaft doppelt schwermüthig aus. Hier kam uns auch das erste menschliche Wesen zu Gesicht, ein Gemsjäger aus Pinzolo, der dem „Schweiß“ eines angeschossenen starken Bockes nachging und der nicht wenig erstaunt war, auf uns zu stoßen, während wir wußten, daß wir in der Casina Bolognini, der kleinen Schutzhütte der Tridentiner Alpinisten, hinter welcher der von der Sektion Leipzig erbaute Steig zu deren Mandronhaus beginnt, vier Jäger aus Pinzolo antreffen würden. Bei dem massenhaften Schneefall in den Höhen trieb der Hunger die scheuen Gratthiere (die übrigens auch unweit des Mandronhauses nicht selten geschossen wurden, an einer Salzlecke, die menschliche Schlauheit benutzt, um sie anzulocken), die oben schlechterdings keine Nahrung mehr finden, zu keinem Hälmchen mehr gelangen konnten, über den Passo dei camosci (Gemsenpaß) herab in die waldigen Wände, und hier waren sie auf dem Anstand verhältnismäßig leicht zu erlegen. Man hatte in der That bereits vier schöne Gemsen erbeutet und zwei lagen noch irgendwo in einer Schlucht und mußten gesucht werden. Unter der bisherigen Beute, die, aufgebrochen und ausgeweidet, außerhalb der Hütte mit den Krickeln an in die Wand des Blockhauses getriebenen Nägeln hing, befand sich auch ein sehr starker alter, fast schwarzer Bock mit nur einem Krickel; das andere ist ihm jedenfalls beim Kampf mit einem Nebenbuhler abgebrochen, nachdem die beiden Eifersüchtigen sich in blinder Wuth „verkämpft“ hatten.

Die drei anderen Jäger, die wir bei der Bereitung ihres Mittagsmahles (natürlich die unvermeidliche Polenta!) antrafen, begrüßten uns sehr freundlich, kratzten sich aber hinter den Ohren, als wir fragten, ob wir wohl hinauf nach Mandron gelangen würden. Sie meinten, es liege 3 bis 3 ½ Meter hoher Schnee und die Passirung der Brücken über die Schluchten werde sehr schwierig sein, obendrein bei Nacht. Das kam mir spanisch vor; es war knapp Mittag, man erreicht Mandron von Bedole aus in zwei Stunden und wenn wir auch eine Zeit lang die Schneereifen anschnallen mußten, konnte es doch kaum fehlen, dass wir noch vor Einbruch der Dämmerung unter Dach und Fach gelangten und an die Bereitung eines kunstgerechten Glühweins gehen konnten. Vielleicht habe ich auch ein wenig überlegen gelächelt; für was hielten uns denn diese ländlichen Nimrode, daß sie glaubten, wir würden uns von dem bischen Schnee so lange aufhalten lassen oder mit der Technik des Gehens auf Schneereifen nicht zurecht kommen? Aber das Lächeln sollte mir bald vergehen, ebenso wie die Verwunderung über die Laterne, welche unsere Führer aus der Hütte mitnahmen, als wir nach einstündiger Rast aufbrachen.

Schade, daß die unzulängliche Beleuchtung das Photographieren unmöglich machte! Unsere vier Gemsenjäger hätten es sicherlich verdient, verewigt zu werden, wenn auch nur deshalb, weil sie so trefflich geeignet waren, falschen romantischen Ideen für immer den Garaus zu machen. Die Kerle kampirten schon seit drei Tagen in der Hütte; während dieser Zeit hatte sicherlich Keiner von ihnen auch nur eine Fingerspitze in's Wasser getaucht, dafür aber hatte der Qualm des fortwährend unterhaltenen Herdfeuers ihre Gesichter gar gründlich incrustirt, und mit ihren Stoppelbärten und in ihren bis zur Unglaublichkeit geflickten Kleidern sahen sie recht brigantenmäßig aus. Die Gamaschen z.B. bestanden aus einem Stück Packleinwand, daß man mit irgend einem zerschlissenen Seilende umwunden hatte, kurz, diese welschen Waidmänner, obgleich die Harmlosigkeit selber, hatten durchaus nichts Vertrauenswürdiges, waren aber dafür „malerisch“ bis zum Exceß.

Hinter der italienischen Hütte hat man noch eine Weile schönen Lärchenwald; die abgefallenen welken Nadeln bedeckten den Schnee am Boden so dicht, daß er roth erschien. Als aber der Wald aufhörte und wir hinaus ins Freie kamen, ungefähr den Windungen des Mandronsteigs folgend, schüttelte auch Amanzio, der jüngere und verwegenere der beiden Brüder, den Kopf. Ich sondirte ihn, indem ich fand, es gehe besser, als ich gedacht hätte, obgleich wir schon ordentlich zu waten hätten; er aber meinte sehr entschieden, es gehe viel schlechter, als er vorausgesetzt. Wenn man schon hier so tiefen Schnee habe, wie solle es erst oben an der Ronchinaschlucht aussehen! Gehe es so fort, so müßten wir in fünf Minuten die Reifen anlegen und das bedeute zwei Stunden spätere Ankunft auf Mandron. Er habe sich schon so etwas gedacht, darum habe er uns so eindringlich ermahnt, tüchtig zu essen und zwar nicht bloß Erbswurstsuppe, sondern auch Fleisch, damit wir etwas aushalten könnten, aber so schlimm habe er sich die Sache doch nicht vorgestellt. Das waren ja hübsche Aussichten! Gut, daß mein Freund kein Italienisch verstand und also nicht erfuhr, was seines schweren Leichnams harrte!

Was Amanzio vorausgesehen, trat ein; nach wenigen Minuten schon barg er sein Gewehr, um sich’s leichter zu machen, zwischen dem Wurzelgeflecht einer mächtigen abgestorbenen Lärche und wir legten sämmtlich die Reifen an; dieselben verhindern bekanntlich das tiefere Einsinken in den Schnee, weil die Körperlast sich auf eine erheblich breitere Fläche, als die Sohle des Fußes es ist, vertheilt, während die aus einem dünnen Faßreifen und aus Bindfadengeflecht bestehenden runden oder besser ovalen Schneereifen sehr leicht sind. Die Schwierigkeit besteht nur darin, so breitbeinig zu gehen, daß nicht etwa der Reifen des Fußes, den man nachzieht, auf den des ruhenden zu stehen kommt, denn sonst ist dieser, wenn er wieder ausschreiten will, einfach festgehalten. Das Gehen auf Schneereifen ist bald gelernt, es ist außerordentlich praktisch und sogar oft das einzige Mittel, über tiefen, weichen Schnee aufwärts zu gelangen, aber langsam geht die Sache allerdings und ermüdend ist sie auch. Der Vorausgehende hat es noch am besten, die Anderen aber, welche in seine Spur treten sollen, vertiefen dieselbe doch so sehr, daß der Letzte oft große Mühe hat, den Fuß mit dem Reifen wieder aus der Versenkung zu bringen. Es war noch an keine Ronchina zu denken, als bereits die Dunkelheit hereinbrach und die Laterne angezündet werden musste, und da die Nacht sternenlos und trübe war, tappten wir eben Stunden lang mechanisch aufwärts, im Vertrauen darauf, daß die Führer die Richtung behalten und sich nicht am Ende verirren würden. Das war nicht gerade kurzweilig, namentlich dann nicht, als Amanzio, der die Spitze gehabt hatte, einmal wirklich unsicher wurde; er blieb stehen, rief seinen Bruder vor und als dieser sich eine Weile umgesehen hatte, ging es erst ein Stück zurück und dann ein Stück aufwärts, über einen ungemüthlich steilen Hang – dann war alles wieder in Ordnung. [43] Abwechselung kam in die Sache, als wir die Ueberbrückungen der Schluchten erreichten. Diese Ueberbrückungen sind zwar solid, aber recht primitiver Art. Rohe Stämme sind in der Felswand befestigt und von unten gestützt; quer darüber liegen schmalere Stämme und das Ganze ist mit Rasenboden überdeckt, den man mit Erdreich und Wurzeln von der Felsunterlage abgehoben hat. Zur Sicherung nach dem Abgrunde zu dient eine Art Geländer, das aber so schwach ist, daß es nur einen moralischen Werth besitzt. Man muss schon sehr stark mit Schwindel behaftet sein, um eine solche Brücke im Sommer nicht sorglos zu überschreiten; jetzt aber sah die Geschichte wesentlich anders aus. Auf der Brücke lag der Schnee höher als das Geländer und war zu einem scharfen Rücken zusammengeweht; das Geländer zur Linken schied also als Sicherung aus und an der Felswand zur Rechten konnte die Hand keine Stütze, keinen Griff finden, weil dieselbe vollständig verglast, das heißt mit glitzerndem Eis überzogen war. Man musste also beim unsicheren Scheine der Laterne [44] über den Rücken hinwegbalanciren, und besonders gemüthlich war dieses Manöver nicht, auch nicht ungefährlich, wie ich in Parenthese hinzufügen will, denn der leichteste Fehltritt konnte verhängnisvoll werden. Bei Tage war die Geschichte übrigens noch unheimlicher, weil man bei Nacht die Gefahr nur zum Theil zu übersehen vermochte; wie prekär die ganze Passage war, das ist uns erst auf dem Rückwege klar geworden und wir haben uns einer gelinden Gänsehaut nicht ganz erwehren können.

Meine endlich doch einmal zu Rathe gezogene Uhr zeigte die achte Stunde und noch war Alles eine weiße Steilwüste, wenn man so sagen darf – keine Spur von einem Mandronhaus. Sieben volle Stunden waren wir mithin unterwegs – würden wir also unser Ziel überhaupt erreichen und wann? Es war bitter kalt geworden; die Finger in den Handschuhen wurden steif und vermochten kaum noch den Pickel zu halten und der Ernst der Lage drückte sich in dem wortlosen Schweigen aus, in dem wir weiter tappten. Niemand hatte mehr Lust zu einer Frage, denn die Antworten klangen unsicher und waren lakonisch. Endlich – es war wieder eine Stunde vergangen – rief Liberio wie elektrisirt aus: „Ecco il baito dei pastori!“ („Da ist die Hütte der Hirten!“) Das war die aus zusammen- und übereinandergewälzten Felstrümmern und großen Steinen bestehende Wetterschutzhütte der Ziegenhirten, die schwarz aus dem Schnee hervorragte; von ihr aus wird auch den zur Salzlecke kommenden Gemsen aufgelauert. Bald darauf trat die von der Einweihungsfeierlichkeit her noch stehende Ehrenpforte gigantisch-gespenstisch aus der Dunkelheit hervor und gleich danach war das Dach der alten, zur Führerherberge degradirten Hütte und das Obergeschoss des neuen Hauses zu erkennen – wir waren am Ziele!

Oder vielmehr – wir waren noch nicht am Ziele. Zwischen uns und der gastlichen Thür, bis hinauf zu drei Vierteln ihrer Höhe, lag ein riesige Schneemauer und da die Thür, wie das anständige Hüttenthüren so an sich haben, nach auswärts schlug, mußte sie erst freigelegt, das heißt es musste zwischen ihr und der Mauer ein so breiter Gang ausgeschaufelt werden, daß die Thür geöffnet werden konnte. Die dazu erforderlichen Schaufeln waren auch vorhanden, aber sie lagen auf dem Boden der fast vollständig im Schnee vergrabenen alten Hütte, und in diese zu gelangen, war durchaus kein Kinderspiel. Ihre Thür zu öffnen, war unmöglich, denn zwischen dieser und der Felswand lag wieder massenhafter Schnee, es gelang aber Amanzio, eines der in tiefen schießschartenähnlichen Luken angebrachten Fenster von außen aufzustoßen und durch die Schießscharte in's Innere zu kriechen. Nachdem er die innen mit einer dichten Eisschicht überzogene eiserne Thür genügend lange mit dem Pickel bearbeitet hatte, ließ sie sich nach innen öffnen; der nachbrechende Schnee wurde beseitigt und nach einiger Arbeit mit den herabgeholten Schaufeln, die von innen und von außen arbeiteten, war der Eingang so weit freigelegt, daß ich meinen Reisegefährten in die Hütte führen konnte.

Es war die höchste Zeit, denn er war am Ende seiner Kräfte. Zähneklappernd brach er auf dem Matratzenlager zusammen und war vorläufig nicht mehr zu sprechen. Ich häufte so lange wollene Decken auf ihn, bis er wie begraben war; sie hingen in hinlänglicher Anzahl auf einer Leine, um vor den Zähnen der Bergmäuse geschützt zu sein, die man – neben den bekannten lästigen „Braunschweigern“, beziehentlich „Schwarzburgern“ – leider auch in den höchstgelegenen Hütten antrifft. Dann machten sich die Führer, von mir nach besten Kräften unterstützt, rüstig an die Freilegung der Hausthür und ich wenigstens (denn Schneeschippen war eine mir neue Thätigkeit) war in Schweiß gebadet, als wir endlich unseren Stollen zwischen Haus und Schneemauer in genügender Breite hergestellt hatten, um die Thür öffnen zu können. Eine Stunde Arbeit hatten wir glücklich hinter uns, denn der Schnee war hart.

Es ging nun sofort in die Küche und als wir hier durch rücksichtsloses Heizen (Holz ist in solchen Höhen kein billiger Artikel) eine leidliche Temperatur hergestellt hatten, holten wir meinen Reisegefährten, der inzwischen ein förmliches Schwitzbad durchgemacht hatte. Es gab dann Erbssuppe mit Schweinsohren und hierauf einen kräftigen Glühwein; solche Quantitäten, wie wir sie in dieser Nacht verschluckt haben, waren nie zuvor über unsere Lippen geflossen, und ich wundere mich noch heute, daß wir ohne schweren Katzenjammer davongekommen sind. Allerdings zünden die Italiener den Glühwein an und lassen den Sprit in blauer Flamme wegbrennen, bevor sie das würzige Getränk serviren.

Die nöthige Bettschwere hatten wir aber doch, als wir uns in unsere frostigen Zimmer zurückzogen, um hier auf guten Steiner'schen Reformbetten einen langen Schlaf zu thun. Als wir uns früh erhoben, um den unterbrochenen Erwärmungsprozeß durch Fluthen heißen Thees fortzusetzen, tobte und heulte und pfiff ein Schneesturm um unser gastliches Haus und da uns nichts trieb, ich ja auch das Haus vom Keller bis zum Dach zu untersuchen hatte, und das Kunstschloß angebracht werden mußte, beschlossen wir, eine zweite Nacht hier oben zu verbringen. Nach Tische hörte auch das wüste Schneetreiben auf, es konnte photographirt werden, und der zweite Abend ward noch viel behaglicher verlebt, als der erste, da es in der Küche nach und nach ganz gemüthlich warm geworden war. Blos ein Skat hätte noch gefehlt, aber auf diese Kunst verstand sich nur mein Freund. Unser Rückmarsch am nächsten Morgen vollzog sich natürlich erheblich rascher, als der nächtliche Anstieg. Der Sturm hatte die Spuren unserer Schneereifen vollständig verweht, dagegen stießen wir immer wieder auf frische Blutstropfen im Neuschnee und auf die zierlichen Fußspuren flüchtiger Gemsen. Von unten herauf krachte ab und zu ein Schuß und das Echo rollte sekundenlang durch das Sarcathal, von den Wänden zurückgeworfen, bis es endlich in der Ferne erstarb: unsere Jäger waren also wieder an der Arbeit.

Die Passage der Brücken war, wie schon gesagt, bei klarem Tageslicht entschieden heikler als bei Nacht und Nebel; wir haben uns im Stillen gestanden, daß viel Glück dazu gehört habe, ohne Zwischenfall hinüber zu kommen und daß wir ohne die Unfähigkeit, die Gefahr, in der wir uns thatsächlich befanden, zu ermessen, vielleicht nicht so „kniefest“ über die bösen Stellen hinweggeturnt sein würden.

Von unseren Jägern in der Casina Bolognini mit herzlicher Freude begrüßt, besichtigten wir zunächst die zwei Gemsen, die zu ihrer Jagdbeute hinzugekommen waren; außerdem hatten sie noch einen weißen Hasen erlegt, das war aber ein so kleiner und so magerer Bursche, daß er ein schlechtes Entgelt dafür war, daß die beiden Collini es unternahmen, den feistesten Bock nach Pinzolo zu tragen, wo er infolge einer Bestellung aus Reichenberg in Böhmen zur Post gegeben werden sollte. Wenn man einen kräftigen Bock, dessen zusammengebundene Vorderfüße vor der Stirn liegen, während die eigentliche Last auf dem Rücken ruht, eine halbe Stunde weit getragen hat, ist man sich hinlänglich klar darüber, nur eine sehr mittelmäßige Befähigung für das Gewerbe eines Facchino (Lastträgers) zu besitzen.

Ich habe das Mittagessen unserer Wirthe (Polenta mit in Oel geschmorten Gemsherzen, -Lebern, -Nieren usw.) getheilt und es ganz annehmbar gefunden; mein Gefährte rümpfte die Nase und hielt sich an die Konserven, worauf er wieder den geliebten Apparat in Thätigkeit setzte und einige ganz leidliche Bilder gewann, zur größten Freude der Jäger. In solchen ungewohnten Lebenslagen ist die Camera allerdings ein treuer und gefälliger nicht blos, sonder auch ein schätzbarer Freund und mein Blick ruht immer gern auf den Bildern, die wir auf dieser abenteuerlichen Bergfahrt gewonnen haben.

Beim Niedersinken der Dämmerung rückten wir mit unserem Gemsbock wieder in Pinzolo ein. Unsere Führer hatten nicht unterlassen, der hülfreichen Madonna vergine in der kleinen Kapelle für den ihnen gewährten Beistand zu danken und das gefiel mir von ihnen; nicht alle Menschen sind erkenntlich, wenn die Gefahr vorüber ist. Sie haben sich auch von mir ein Zeugniß in ihr Führerbuch schreiben lassen, in Anbetracht der außergewöhnlichen Umstände, die diesmal obgewaltet hatten; einen Gang nach der Mandronhütte läßt sich sonst kein Führer attestiren. Wir hielten, ehe wir uns nach unserem Hôtel verfügten, eine kurze Rast im Collini’schen Hause, um den vino nuovo dolce (Neuen süßen Wein – man hat kein kurzes Wort für „Most“) aus Dix, aber der schon nicht mehr dolce war, zu kosten; man muß sich als Stellvertreter des Hüttenwarts auch darum kümmern, was für ein Tropfen im nächsten Jahre den Besuchern der Hütte vorgesetzt werden soll.

Unser alter Haushüter und seine kochkundige Ehehälfte waren seelenfroh, als sie uns heil und gesund wiederkehren sahen. Als wir am Abend des zweiten Tages nicht zurück waren, hatte sich ihrer eine große Angst bemächtigt und sie waren zum Gendarmeriepostenführer gelaufen, damit derselbe eine Rettungsexpedition organisire. Nun, der Mann war vernünftig genug gewesen, sich nicht von dieser Sorge anstecken zu lassen. Als er hörte, daß die beiden Collini bei uns und daß wir bergmäßig ausgerüstet gewesen seien, hatte er gemeint, daß er noch einen Tag warten wolle; es sei ja nichts naheliegender, als daß wir vorgezogen hätten, einen Tag auf Mandron zu rasten, statt im Schneesturm den Rückmarsch anzutreten. Precär bleiben solche Wintertouren natürlich immer, das lehrt der unglückliche Marsch des Fürsten Borghese über Mandron in's Val Camonica, der ein paar Jahre später einem armen Pinzolo-Führer das Leben gekostet und den zweiten für immer zum Krüppel gemacht hat; unser Amanzio war auch dabei, ist aber glücklich davongekommen.

Wie wir uns andern Tags über Madonna di Campiglio erst durch Regen, dann durch schweren Schnee und nachher nochmals durch Regen nach Dimaro hinuntergeschlängelt haben, auf theilweise schrecklichen Wegen, an deren Stelle inzwischen eine schöne Kunststraße getreten ist, davon ließe sich noch allerlei Merkwürdiges und Lustiges erzählen, ebenso von der Postfahrt über Malé und Cles nach der Eisenbahnstation San Michele, die uns durch einen auf einer Inspektionsreise begriffenen, ebenso liebenswürdigen als gesprächigen und landeskundigen Gendarmerie-Rittmeister aus Trient zu einer höchst interessanten und lehrreichen gemacht ward, aber das gehört streng genommen nicht mehr zu der „Hütten-Inspektion mit Hindernissen“, die ich schildern wollte, damit die Touristen, die in der schönen Sommerzeit das Val di Genova hinaufpilgern, um den prachtvollen Absturz des Mandrongletschers zu bewundern, eine Antwort auf die Frage haben, die sich wohl gelegentlich und verlorenerweise in ihnen regt auf die Frage nämlich: „Wie mag es hier oben wohl im Winter aussehen?“ Und Viele sind es doch sicherlich nicht, die aus eigner Erfahrung eine solche Frage, die doch gewiß auch ihre Berechtigung hat, zu beantworten vermögen. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich zur Nacheiferung anspornen möchte, denn so sehr ich die Wintertouren liebe – Jedermann's Sache sind sie entschieden nicht und werden es nie werden. –