Eine Herbst-Fahrt in den „Rosengarten“
Hat der geneigte Leser eine Ahnung davon, was ein „Hüttenwart“ ist? Wir kommen um die Beantwortung dieser Frage nicht herum, denn hätte der Schreiber dieser Zeilen nicht im letzten Herbst einen mit dieser Eigenschaft behafteten Herrn in Bozen kennen gelernt, so ist es mehr als fraglich, ob er die Tour, die er zu beschreiben hat, gemacht haben würde. Dergleichen wird von Niemandem zum Vergnügen, sondern höchstens aus Pflichtgefühl geplant und findet dann allerdings auch unternehmende Mitläufer, wenigstens zuweilen.
Der große deutsche und österreichische Alpenverein, der wohl in jeder größeren Stadt Deutschlands und Oesterreichs eine Sektion besitzt, hat eine seiner Hauptaufgaben darin erblickt, in den unwirthlichen Regionen des Hochgebirges bis zu 3000 Meter Meereshöhe hinauf Schutzhäuser zu errichten, welche die Besteigung der Hochgipfel wesentlich erleichtern, das böse Bivouakiren überflüssig machen, dem Wanderer im Hochgebirge bei eintretendem Unwetter einen behaglichen Unterschlupf gewähren und ihn vor jeder Ausbeutung seiner Nothlage durch habgierige Wirthe schützen. So billig wie die Vereine könnte es aber auch der humanste und bescheidenste Wirth nicht machen, ohne in kurzer Zeit bankerott zu werden. Der – sehr mäßige – Preis für Grund und Boden, der – meist sehr hohe – Betrag der Baukosten – die gesammte Ausstattung mit Mobiliar, Kücheneinrichtung usw. – die Kosten für Anlegung und Erhaltung bequemerer Zugangswege zur Hütte – die mitunter sehr erheblichen Reparaturen – Alles bleibt vollständig außer Ansatz, d. h. der Gesammtbetrag wird à fonds perdu hingegeben und die Sektionen sind meist schon zufrieden, wenn die Hütten keine fortlaufenden Zuschüsse erfordern und der Regieaufwand durch die erhobenen Schlafgelder gedeckt wird. Diese Schlafgelder aber sind sehr niedrig; ein gutes Matratzenlager im allgemeinen Schlafraum kostet für Mitglieder alpiner Vereine 30 Kreuzer, für andere Menschenkinder 60 Kreuzer, ein Betrag, der auch drunten in den Thälern trotz der bekannten tiroler Billigkeit nicht reichen würde, obgleich man dort meist weder so sauber, noch so bequem untergebracht ist. Wollte ein Wirth in diesen Höhen ein Unterkunftshaus bauen, so müßte er, weil er doch zunächst sein Kapital zu verzinsen hätte, ganz andere Preise verlangen und er müßte das umsomehr thun, als die Saison nur drei Monate dauert. Vor Mitte Juni schmilzt der Schnee nicht weg und im September hat man bereits wieder mit Schneestürmen zu rechnen; so oft es im Thale regnet, schneit es in den Höhen und weicher, hoher Neuschnee hält die Besucher in den Thälern zurück und setzt den Wirth auf’s Trockene. Hätte der Alpenverein nicht eingegriffen, so würden in diesen Höhen entweder keine Schutzhäuser existiren oder es würde sehr theuer in ihnen sein und man müßte schon „sehr warm angezogen“ sein, um überhaupt Hochtouren in den Alpen unternehmen zu können.
Die meisten Hütten sind neuerdings im Sommer bewirthschaftet, d. h. die Sektion überläßt einem soliden Thalwirth die Bewirthschaftung ohne jede Entschädigung seinerseits, schreibt ihm aber dafür die Preise für Speisen und Getränke vor und hängt in der Hütte den betreffenden Tarif aus, so daß der Tourist gegen jede Uebervortheilung geschützt ist. Während der übrigen Zeit des Jahres sind die Hütten aber ebenfalls zugänglich, d. h. der Schlüssel ist durch die Führer oder den nächsten Wirth erhältlich und man findet in der Hütte Wein, Konserven, Suppentafeln, trockene Gemüse usw. Man macht dann eben seinen eigenen Koch und wirft den Betrag für’s Uebernachten und für das Entnommene mit einer kurzen Bleistiftnotiz in eine an der Wand angebrachte eiserne Kassette, zu der nur der Hüttenwart den Schlüssel hat. Befindet man sich in Begleitung eines Führers, so besorgt dieser das Kochen und hat früh das Aufwaschen, das Ordnen der Lagerstätten, das Ausfegen usw. zu besorgen, wofür er umsonst übernachtet. Hierbei muß sich natürlich die Sektion, namentlich in den überhaupt nicht bewirthschafteten Hütten, ganz und gar auf die Ehrlichkeit der Besucher verlassen, denn es ist ja keinerlei Kontrole möglich, es haben sich aber auch noch nie Uebelstände herausgestellt, eher wird bei Mangel an passendem Kleingeld etwas mehr als zu wenig bezahlt. Der Tourist, der in diese unwirthlichen Gegenden heraufgestiegen ist, lernt inmitten der übergewaltigen Natur den Werth dieser gastlichen Schutzhäuser von Herzen schätzen und er müßte wohl ein Lump in Folio sein, um zum Dank für die genossene Gastfreundschaft der betreffenden Sektion auch noch wissentlich einen Schaden zuzufügen.
[287] Die Einrichtungen sind nicht überall genau die gleichen; da und dort wird ein kleines Eintrittsgeld erhoben, man hat wohl auch für verbrauchtes Brennholz, dessen Herauftransport umständlich und kostspielig ist, etwas zu entrichten, aber im Großen und Ganzen kehren die humanen Bestimmungen überall wieder und machen Tirol, in weit höherem Grade als die Schweiz, wo die Fremdenindustrie in einer schon nicht mehr schönen Blüthe steht, zum Ideal des fußwandernden Touristen, sehr zum Nutzen des kleinen, in so vieler Beziehung weit zurückgebliebenen Landes.
In größeren Sektionen, welche mehrere Hütten besitzen, ruhen die Angelegenheiten der Hütten, die sich schwer im Plenum verhandeln lassen, in den Händen eines besonderen Hüttenausschusses, der für jede Hütte einen Hüttenwart und einen oder mehrere Stellvertreter bestellt, welche dafür zu sorgen haben, daß die Hütte alle Zeit mit allem Erforderlichen (selbst mit Lektüre, Musikinstrumenten, Spielen usw. für etwa Eingeregnete oder Eingeschneite) versehen ist, daß die Wirthschaft ihre Schuldigkeit thut, und die Hütte regelmäßig mit frischem Brot, frischem Fleisch usw. verproviantiert wird.
In der ersten Hälfte des Oktober vorigen Jahres hielt ich mich in Bozen auf, in der Absicht, von dort aus verschiedene Dolomit-Touren zu unternehmen. Das ist etwas spät im Jahre und die Tage sind schon recht kurz, aber Frühling und Herbst sind im Uebrigen die beste Zeit für Südtirol und ich habe schon wochenlange Wanderungen um diese Zeit unternehmen können, ohne auch nur ein Wölkchen am tiefblauen Himmel zu gewahren. Diesmal freilich sah es bedenklich aus. Die Thäler hingen voller Wolken, es regnete unaufhörlich, und man bedurfte keiner besonderen alpinen Erfahrung, um sich zu sagen, daß es oben auf den Bergen ausgiebig schneien werde, und neuer, weicher Schnee ist ein tückischer Kunde, dem schon manches blühende Menschenleben zum Opfer fiel. Durch einen alten, guten Freund, den tapfern Johann Santner von Bozen, das A und O aller Steiger, die etwas im Gebiet des Rosengartens zu unternehmen gedenken (er hat diese wilde, bizarre Welt eigentlich erst erschlossen und so manche der drohendsten Zacken und Thürme dieser Muschelkalk-Riffe überhaupt zuerst bestiegen), war ich in eine Gesellschaft von Herbstfrischlern gerathen, die aus einer Weinkneipe in die andere zog, um so ihr Asthma, ihren Bronchialkatarrh, ihre Nervosität oder ihr Herzleiden zu beseitigen, und ich athmete erleichtert auf, als in dieser Gruppe von Fabrikanten, Bankiers, Verwaltungs- und Kommerzienräthen plötzlich der Hüttenwart der neuen Vajoletthütte der Sektion Leipzig auftauchte, der eher zu mir paßte und dem es um jede Stunde leid war, die er in Bozen verbummeln mußte. Er wollte mit Santner und dessen verheiratheter Tochter (auch eine Kletterin ersten Ranges) die Grasleiten- und Vajoletthütte inspizieren, die Kassen leeren, die Hüttenbücher abholen, und war sehr ärgerlich darüber, daß das heillose Wetter der Erfüllung dieser amtlichen Verpflichtungen vorläufig einen Riegel vorschob. Die Grasleitenhütte gehört ebenfalls der Sektion Leipzig und war im vergangenen Jahr durch einen umfassenden Erweiterungsbau bedeutend vergrößert worden, während man gleichzeitig unterhalb der Türme von Vajolett, einem Schmuckstück der Rosengartengruppe, die neue Vajoletthütte erbaut hatte. Mein neuer Bekannter war also Hüttenwart für die neue Hütte, aber zugleich Stellvertreter für die ältere, und sollte nun beide, die nur zwei Stunden von einander entfernt sind, vor dem Einwintern noch einmal besuchen. Er war also mein Mann und gestattete mir bereitwilligst, mich ihm anschließen zu dürfen, sobald der Regen aufhöre und die Tour möglich werde.
Zum Glück ging schon am Abend des kommenden Tages der Wind nach Norden herum, Santner erklärte, daß der nächste Morgen gutes Wetter bringen werde, und er behielt Recht. Blauer Himmel und Sonnenschein lachten am Morgen durch die Scheiben, und zwischen den Oleandern des Hotel Kreutner auf dem Johannisplatz wurde beim Frühkaffee beschlossen, am Nachmittag nach Blumau zu fahren, hinauf nach Tiers zu steigen, dort zu übernachten und am nächsten Morgen nach den Hütten aufzubrechen, die durch den Grasleitenpaß miteinander in Verbindung stehen.
Unsere bisherigen Kneipgenossen schüttelten die Köpfe, auf denen man den Mondschein in allen seinen Vierteln studieren konnte, und erklärten, daß sie um keinen Preis mitthun würden; es hätte sie aber auch Niemand dazu aufgefordert, denn was sollten wir mit solchen abgetakelten Lebemännern und ihren Entbehrungsbäuchen da oben im wilden Hochgebirge? Bis Tiers hätten wir sie vielleicht gebracht, nach Grasleiten schwerlich und nach Vajolett gewiß nicht – wir hätten sie denn tragen müssen, und für ein solches Vergnügen dankten wir natürlich. Zudem fehlte ihnen jede alpine Ausrüstung, und auch mit derselben hätten wir sie nicht brauchen können; schließlich hätte Einen von ihnen der Schlag gerührt, und wenn wir auch an der Verantwortung dafür leicht getragen hätten – wer setzt sich denn einer solchen Gefahr aus?
Unsere kleine Expedition, zu der sich fast in der letzten Minute noch ein andere Leipziger Herr gesellte, bestand aus sehr vertrauenswürdigen Elementen. Von Santner und seiner Tochter zu schweigen, die so ziemlich Alles durchgemacht haben, was man überhaupt in den Bergen erleben kann, und die mit allen Gefahren der Hochalpen und speziell der Dolomiten vertraut sind, waren wir alle abgehärtete, zähe und elastische Bursche, wenn auch längst nicht mehr zu den Jungen zählend, und wie sich später ergab, hatte Jeder wenigstens schon einmal in den Bergen in unmittelbarster Lebens- oder Todesgefahr geschwebt, war also verwendbar und zuverlässig. Selbst im Rosengarten war ich schon mehrmals gewesen, sogar im November, wo die Touren allerdings aufhören, ein Spaß zu sein.
Dicht hinter Blumau öffnet sich das Tierser Thal und die Tierser Ache stürzt sich schäumend und tosend in den Eisak, der der Etsch zueilt. Das enge, wilde Thal zieht sich stetig steil in die Höhe, aber es wandert sich gut auf dem neuen Sträßchen, das auf dem linken Ufer der Ache angelegt ist, während das alte, kaum mehr als ein Karrensteg, sich am rechten Ufer gehalten hatte. Wer den Weg an einem heißen Sommertage machen muß und obendrein bepackt ist, der hat gehörig zu schwitzen; an einem kühlen Oktoberabend macht sich das weit besser. Für Neulinge mögen die da und dort am Wege angebrachten „Marterln“, auf denen ein naiver Dorfkünstler dargestellt hat, wie Jemand abstürzt, in die angeschwollene Ache geräth, vom Blitz erschlagen oder von seinen eigenen scheu gewordenen Pferden zu Tode geschleift oder von einem stürzenden Baum erschlagen wird, etwas Unheimliches haben; der tiefe Ernst des rauhen Thales, zu dem der muntere, leichtsinnige Weinstock des sonnigen Etschthales schwer stimmen würde, wird aber durch ein solches gemaltes memento mori energisch hervorgehoben und ich möchte sie ungern missen. Ohne in dem Gasthaus, wo alles Fuhrwerk Wegzoll zu entrichten hat, „zuzukehren“, setzten wir unseren Weg fort, und als die Nacht sich auf die Häuschen und Hütten von Tiers herabsenkte, klirrten unsere Eispickel auf den paar Stufen, die zur „Rose“ emporführen, und die gute, dicke Frau Tschager kam den verspäteten Gästen schmunzelnd entgegen und ließ sich erzählen, daß wir am nächsten Tage zur Grasleitenhütte und dann über die Vajoletthütte nach Perra im Fassathal wollten beziehungsweise müßten.
„Ja mein!“ hieß es, „werden’s denn aber durch den Schnee kommen? Heut früh sein zwei junge Leut aus München, Studentle oder so was, hinauf, trotz alles Abredens, und haben nit einmal ’n Schlüssel zur Hütten verlangt, weil sie bis Abend in Fassa sein wollten. Proviant haben’s gnua mitg’nomma, aber wenn das nur gut ausgeht! I hab’ immer g’meint, daß sie umkehren und auf d’ Nacht wieder hier sein würden, aber’s hat sich noch nix spüren lassen und jetzt ist’s schon zu spät und sie fänden nimmer wieder heraus.“
Nun, wir beruhigten die brave Frau; die jungen Leute würden schon durchgekommen sein und säßen nun wohl bereits beim Rizzi in Perra und ließen sich die Forellen munden. So wohl wurde es uns nicht einmal; wir konnten ganz zufrieden sein, daß am selben Tage ein „Schöpsle“ geschlachtet worden war, so daß es wenigstens Fleisch gab.
Die „Rose“ ist, obgleich seit dem Bestehen der Grasleitenhütte Schritt für Schritt vergrößert und - wenn auch zaghaft - den Ansprüchen der Neuzeit angepaßt, immer noch eins von den echten, guten, alten tiroler Gasthäusern, in denen die Rechnung früh auf der Schiefertafel gemacht wird, und die noch recht lange so bleiben mögen. Hotels mit befrackten Kellnern, denen die Simpelfransen in die Stirn hängen, sind beinahe eine Beleidigung der wilden, ernsten, großartigen Natur, die sie umgiebt, und es soll ein derbes, handfestes Dirndl sein, das mir meine genagelten Bergschuhe tüchtig einfettet, damit ich nothfalls auch einmal durch einen Bergbach waten kann, ohne nasse Strümpfe zu bekommen – nicht ein verdrossener oder katzbuckelnder Hausknecht.
Sprungfedermatratzen sind natürlich ein unbekannter Luxus, auch fühlt sich die Bettwäsche naßkalt an, aber in solchen Höhen ist das nicht anders, da doch gelüftet werden muß, und es wird, wenigstens bis zum Eintritt des Winters, tüchtig gelüftet; die Leute sind weder luftscheu noch empfindlich und bei 10° R ist es ihnen schon ganz behaglich.
Nun, am Abend unserer Ankunft war tüchtig geheizt worden, und die Atmosphäre in dem niedrigen Zimmer ließ Manches zu wünschen übrig. Die Tiroler rauchen infolge des Tabakmonopols ein polizeiwidriges Kraut, und es ist mir immer äußerst bezeichnend erschienen, daß sie ihre Pfeifen Stinktiegel nennen. Natürlich waren auch verschiedene Führer da, darunter der Löwenhansl, ursprünglich ein Fleischer seines Zeichens, ein bärenstarker Mensch, der aber die Führerei auch aufzustecken gedenkt, da selbst seine Riesennatur den Strapazen auf die Dauer nicht gewachsen ist. Er hat sich inzwischen zum Maurermeister entwickelt, die Grasleitenhütte umgebaut, den Neubau der Vajoletthütte besorgt und den Bau einer Kölner Hütte am Tschagerjoch übernommen, wozu übrigens auch ein kernfester Mensch gehört, denn der Bauplatz der Vajoletthütte mußte zu Pfingsten aus dem Schnee geschaufelt werden, und das Uebernachten erfolgte in einer Art Höhle unter einem überhängenden Felsen, da nicht erst Baracken gebaut werden konnten und man nicht allabendlich hinunter nach Perra laufen mochte und früh wieder herauf.
Da sich der Hüttenwart in unserer Gesellschaft befand, der seine im August eingeweihte Hütte noch gar nicht kannte, obgleich er sie von Leipzig aus mit allem Nöthigen hatte versorgen lassen, so erschien es selbstverständlich, daß Hansl uns am nächsten Morgen begleitete. Der Aufbruch sollte ganz früh erfolgen und es war in der That noch ganz grau, als wir unser Frühstück einnahmen, das aus Kaffee, Tee oder Milch bestand; daheim kann man mich mit Milch jagen, in den Bergen ist sie mir ein Bedürfniß, gerade so wie fettes Fleisch, Speck usw.
Als unsere kleine Expedition sich in Bewegung setzte, waren die Aussichten auf einen schönen Tag sehr gering. Es hatte in der Nacht gefroren, war aber wolkig und trübe und man mußte mit der Möglichkeit eines Schneesturms rechnen; wir hatten allen Grund uns zu beeilen, d. h. keine überflüssigen Pausen einzuschieben, denn das zulässige Marschtempo ist ein für alle Mal gegeben – man kann nicht von demselben abweichen, ohne sich im Anfang zu übernehmen und nachher umzuklappen, so daß man für eine starke Erschöpfung nur einen Zeitverlust eintauscht, also doppelten Verlust erleidet.
Hinter Tiers, unweit der kleinen Cyprianskapelle, gabelt sich das Thal, um als „Purgametsch“ rechts nach dem Karrerseepaß und als „Tschamin“ geradeaus zu ziehen. Man kommt an dem Weißlahnbad vorüber, früher einem ganz primitiven „Bauernbadl“, wie sie in Tirol so häufig sind, jetzt einer modernen Sommerfrische, die auch hohen Ansprüchen genügen kann, und dann umfängt uns das Schweigen der Wald- und Bergeinsamkeit, nur unterbrochen von dem Rauschen der Ache, deren Bett mit riesigen Felstrümmern und entwurzelten Bäumen angefüllt ist. Bis zur Grasleitenhütte erinnert nichts mehr an das Treiben der Menschen, als da und dort ein kleiner Heustadl oder eine offene Ochsenhütte. Der Weg [288] steigt scharf bergan; die Stirn bedeckt sich sehr bald trotz der Morgenkühle mit perlenden Schweißtropfen, und das Herz beginnt heftig zu arbeiten. Zur Rechten hat man prächtigen Wald, zur Linken, jenseits der Ache, die prallen Steilwände des gewaltigen Schlernmassivs, und die gigantische Wildheit dieser Felsszenerie fängt an, uns die Worte vom Munde zu nehmen und uns mit dem Gefühl der Ohnmacht und der Nichtigkeit zu erfüllen, auch wenn wir den Weg schon öfter gemacht haben. Auf der moosigen Bodendecke zeigten sich bereits Schneeflecken; des Schnees ward rasch mehr, und als wir in der Ochsenhütte am rechten „Leger“, wo die Kühe im Sommer ihre Mittagsrast und ihre Nachtruhe halten, ein frugales Frühstück hielten, befanden wir uns bereits inmitten einer vollständigen Winterlandschaft.
Unweit des Bärenlochs, einer Stätte grauenhafter Verwüstung, denn hier bricht die Ache aus den Flanken des Schlernmassivs hervor und hat gewaltige Felstrümmer in chaotischem Durcheinander herabgewälzt, trafen wir zwei junge Leute, die sich als die Münchner Touristen entpuppten. Sie wollten uns zunächst den guten Rath geben, umzukehren, denn hinter der Grasleitenhütte könne man nicht weiter, sie hätten es versucht, seien aber gleich bei den ersten Schritten bis zum Hals im Schnee versunken und zögen es vor, nach Tiers und Blumau zurückzukehren. Nun wurde der Leipziger Hüttenwart neugierig und wollte wissen, wo und wie sie die Nacht zugebracht hätten, und als er ihnen auf den Kopf zusagte, dann müßten sie ja die Hütte mit Gewalt erbrochen haben, beichteten sie ziemlich de- und wehmüthig, daß ihnen allerdings nichts weiter übrig geblieben sei, daß sie aber bereits einen Brief an den Hüttenwart in der Tasche hätten, durch den sie sich zum Ersatz des angerichteten Schadens verpflichteten. Dem Stellvertreter des Herrn in Leipzig ihre Nothlage auseinandersetzen zu können, war ihnen sichtlich lieb, und sie erschöpften sich in Entschuldigungen. Sie kannten wohl die Voralpen bei München, hatten aber von der Großartigkeit und Wildheit der Dolomitlandschaft keinen Begriff gehabt, als sie die Tour antraten, die im Herbst ein ganz anderes Gesicht annimmt als im Sommer, auf den natürlich alle Angaben der Reisehandbücher zugeschnitten sind. Vom Bärenloch an waren sie in tiefen Schnee gerathen und nur langsam vorwärts gekommen, so daß es bereits dunkelte, als sie die Hütte erreichten, in der unbestimmten Hoffnung, dort eine andere Partie anzutreffen. Natürlich hatte die Hütte todteinsam in der verschneiten Steinwüste gelegen, und da sie nicht weiter konnten und es zur Umkehr zu spät war, hatten sie sich in ihrer Angst daran gemacht, die Hütte zu erbrechen, um unter Dach und Fach zu kommen. Hätten sie im Freien bivouakirt, so liefen sie Gefahr, elend zu erfrieren; man konnte ihnen also keinen Vorwurf machen, höchstens den, daß sie sich erst gründlich hätten orientieren sollen, ehe sie die innere Thür aufbrachen. Die äußere Thür ist nämlich nie verschlossen und führt in einen Vorraum mit einem Herd, der auch mit Holz versehen ist und von dem eine Leiter nach dem Heuboden führt; diese Einrichtung ist zu dem Zweck getroffen, Hirten, Jägern usw., die in der Nähe der Hütte von Nebel oder von einem Unwetter überfallen werden, eine Zuflucht zu bieten. Da sie Proviant bei sich führten, wären sie also in dem offenen Vorraum ganz gut geborgen gewesen und hätten nicht nöthig gehabt, mit ihren Pickeln die ganze Thür derart zu zerarbeiten, daß ein Zimmermann einen vollen Tag zu thun hatte, sie wieder in Stand zu setzen. Nun, das Unglück war eben geschehen, und da die Leute für jeden Schaden aufkamen, konnte man sie ja ziehen lassen.
Dazu nämlich, wieder umzukehren und mit uns und unter wegkundiger Führung die Tour doch noch durchzuführen, waren sie trotz unseres Zuredens nicht zu bewegen. Vergebens wiesen wir auf die junge Frau hin, die mit uns sei und von der sie sich doch nicht würden beschämen lassen; sie meinten, die Dame sehe ihnen gerade so aus, als ob sie dergleichen schon manchmal durchgeführt habe, sie aber seien Neulinge und müßten den ersten Eindruck, den sie vom wirklichen Hochgebirge bekommen hätten, erst verdauen und verwinden. Kurz, ihr gesunkener Muth und ihr geduckter Unternehmungsgeist waren nicht wieder aufzurichten und der Versucher hatte keine Macht über sie. Wir ließen sie also ziehen und sie eilten so hastig davon, daß es fast aussah, als seien sie froh, einer zweiten Gefahr mit heiler Haut entronnen zu sein. Der Fall ist übrigens typisch; die meisten Unfälle im Hochgebirge, über welche die Zeitungen so viel Lärm schlagen, ohne zu bedenken, daß beim Reiten, Fahren, Baden, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Radfahren usw. absolut nicht blos, sondern auch prozentualiter weit mehr Menschen ihr Leben einbüßen, als auf Bergtouren, sind auf Unvorsichtigkeit, Eigensinn, Mangel an Erfahrung, führerloses Gehen usw. zurückzuführen und wären meist vermeidbar gewesen. Was für uns nur ein komisches Qui pro quo war, über das wir im Laufe des Tages noch oft gelacht haben, konnte sich sehr leicht zu einer Tragödie auswachsen, wenn die jungen Leute hartnäckiger waren und auf einem der Pässe, die nach Campitello und Perra führten, von der Nacht oder von einem der Schneestürme überrascht wurden, die im Herbst so häufig sind, von der Lawinengefahr ganz abgesehen, die bei Neuschnee immer in der Luft hängt und der auch ein mir gut bekannter Tierser Führer an der sonst nicht gerade schwierigen Marmolada zum Opfer gefallen ist.
[294] Es war eine saure Schneetreterei, die jenseits des Bärenlochs ihren Anfang nahm und bis zur Hütte fortdauerte. Man fiel fast bei jedem Schritt bis zum Knie in den weichen Schnee, und wenn es dabei auch noch aufwärts geht, so ist das nur ein „sogenannter“ Genuß, der noch dadurch erhöht wird, dass man nach und nach, trotz der eingefetteten, festen Nagelschuhe, nasse Füße bekommt. So scharf kann man die Schuhe nicht zuschnüren, dass nicht allmählig etwas Schnee zwischen Strumpf und Oberleder geräth, den die Körperwärme schmilzt, und nach und nach quatscht es bei jedem Schritt auf die unbehaglichste Weise. Rührt der Schnee von einem ruhigen, gleichmäßigen Fall her, so geht es immer noch, bei uns aber handelte es sich um tüchtige Wehen und einmal trat man auf verschneites Alpenrosen- oder Bergföhrengestrüpp, also nicht tief, und im nächsten Moment in’s fast Bodenlose, was doppelt ermüdend ist. Natürlich kann nur im Gänsemarsch gegangen werden; Jeder benützt immer wieder die Stapfe, die der Anführer getreten hat, aber Jeder vertieft sie natürlich auch, so daß der Letzte, namentlich, wenn er kein Windhund ist und keine langen Beine hat, oft nicht weiß, wie er das eingesunkene Bein wieder heraus an die Oberfläche bringen soll. Das giebt ganz lustige Situationen, und da der erfahrene Bergsteiger in vielfacher Hinsicht abgebrüht ist, so lacht er noch herzlich, wo der Neuling bereits anfängt Blut zu schwitzen und den Einfall zu verwünschen, der ihn in diese Stein- und Schneewüste geführt hat. Immerhin waren wir Alle froh, als wir die Hütte erreicht hatten und das Herdfeuer knisterte, an dem wir uns eine Erbswurstsuppe bereiteten. Keine Konserve ist in den Schutzhütten so beliebt, als diese, auch bei den Führern; denen italienischer Nationalität ist sie meiner Erfahrung nach meist [295] lieber als Fleisch, jedenfalls lieber als ihre fade Polenta.
An eine lange Rast war auch hier nicht zu denken; Santner und der Löwenhansl trieben zum Aufbruch, denn es lag wie Schneesturm in der Luft, und von einem solchen wollten sich dieselben im Grasleitenkessel und während des Anstiegs zur Jochhöhe auf keinen Fall überfallen lassen. Ob wir freilich so weit kommen würden, erschien sehr bald äußerst fraglich, denn gleich hinter der Hütte hatte es dermaßen geweht und der weiche Schnee lag so massenhaft, daß Santner, der mit dem Pickel sondirend, vorausging, wiederholt bis an die Schultern einsank. Seine Tochter und der zweite Leipziger Herr waren geneigt, umzukehren und das aussichtslose Unternehmen aufzugeben, der Hüttenwart aber blieb unbeugsam. Santner und Hansl hatten guten Muth, und da ich mich ebenfalls schwer zum Umkehren entschließe, so wurde der Vorwärtsmarsch fortgesetzt, langsam zwar, aber unaufhaltsam. Als wir uns glücklich bis zum Grasleitenkessel durchgekämpft hatten, was allerdings ein saures Stück Arbeit war, besserten sich die Schneeverhältnisse bedeutend, aber dafür trieb der Sturm von links her Nebel- und Wolkenfetzen in den Kessel und spornte unsere Führer zu möglichster Eile, denn damit rückte die Gefahr, in einen Schneesturm zu gerathen, in bedrohlichste Nähe, wenn uns auch der sonst so gefährliche Nebel nichts anhaben konnte; hat man erst den Anstieg zum Paß erreicht, so kann man sich nicht mehr verirren. Der Paß wird hüben und drüben von himmelhohen Wänden flankirt und zwischen ihnen muß man eben bleiben, man mag wollen oder nicht. Dafür ist der Anstieg so steil und so langwierig, daß er manchen Schweißtropfen kostete, und hatten wir erst das Aufhören des Schnees freudig begrüßt, so wünschten wir uns denselben bald zurück, denn das Aufsteigen über gefrorenes Geröll, das dennoch unter dem Fuß nachgiebt, ist auch kein Kinderspiel. Man muß, um einen festen Halt zu bekommen, den vorschreitenden Fuß quer stellen; versäumt man das, so rutscht man wieder zurück. Und das Aufsteigen will kein Ende nehmen; man hat einen mächtigen Felsblock dicht unterhalb der Paßhöhe, der gewissermaßen das Ziel der Anstrengungen bildet, fort und fort vor Augen und meint zuletzt, man müsse in einer knappen Viertelstunde oben sein, aber aus diesem Viertelstündchen entwickelt sich eine scharfe Stunde. Ich war bei dem langen, hageren Leipziger Herrn, der für Umkehren gestimmt hatte, zurückgeblieben, weil er am langsamsten vorwärts kam und am unsichersten war, und weil es möglich schien, daß er der Unterstützung bedurfte. Dieser Fall trat freilich nicht ein und der Herr hielt sich ganz tapfer, doch blieben wir immer weiter zurück und Hansl mahnte, von seinem Mantel umflattert, unausgesetzt zur Eile und schrie uns durch den heulenden Sturm, der sich zwischen den Felswänden verfangen hatte, seine Direktiven zu. Als er von der Paßhöhe aus gewahrte, daß er sich um uns nicht mehr zu bekümmern brauchte, überschritt er dieselbe und eilte der Santner’schen Gruppe nach, und er war schon nicht mehr sichtbar, als wir endlich tief aufathmend auf der Paßhöhe standen, und hatte uns nur seine Fußspuren als Wegweiser zurück gelassen. Jenseits des Passes, das ganze Vajolettthal hinunter, lag nämlich wieder tiefer Schnee – vom Paß hatte es ihn über die Steile hinunter in den Grasleitenkessel geweht. Nun, das Schwerste war überstanden, selbst ein Schneesturm hätte uns nun nichts mehr anhaben können und unten in der Hütte erwartete uns ein behaglich warmes Zimmer und ein dampfender Tee. So gingen wir denn seelenruhig wieder an’s Schneetreten und erweiterten, in die Stapfen unserer Vorgänger fallend, dieselben zu wahren Elephantenspuren, die sich schön blau von der weißen Fläche abhoben. Im Vertrauen auf meine verhältnißmäßige Leichtigkeit lief ich wohl auch einmal, meine Last nach Kräften verringernd, zehn, zwölf Schritte neben den Spuren über den an der Oberfläche gefrorenen Schnee um plötzlich beim dreizehnten ganz unerwartet tief einzubrechen; dann hatte ich wieder dem Gefährten aus einer besonders tiefen Grube herauszuhelfen, kurz, es fehlte nicht an allerlei Abwechselung. Das ganze Bild war freilich düster, trübe, nebelhaft und verschleiert, denn der Himmel war grau und wolkig und die im Sonnenschein eines klaren Herbsttages entzückend bizarre und großartige Szenerie erschien eintönig und melancholisch. Zudem fehlte alle Fernsicht und die kleinen Menschlein, die sich zwischen den Felskolossen wie Ameisen abwärts abarbeiteten, empfanden auch nicht minutenlang die Versuchung, in einen jubelnden Juchzer auszubrechen und das Echo wachzurufen. Von alle den fabelhaften Farbenwundern, die ein herbstlicher Sonnenuntergang in dieser grandiosen Gebirgswelt auf der Palette hat, bekommen wir nichts zu sehen; nur erzählen konnte ich meinem Gefährten, wie man mit offenem Munde dasteht, wenn das riesige Schneefeld der eißgepanzerten Marmolada, wie von Himbeerröthe übergossen, plötzlich in’s Gesichtsfeld tritt.
„Chi va piano, va sano!” (Wer langsam geht, geht sicher!) pflegen die italienischen Führer zu sagen, und fügen wohl hinzu: „e lontano!“ (und weit!). Auch für uns kam der Moment, in dem die Vajoletthütte vor unseren schneegeblendeten Augen auftauchte, und aus dem Schornstein stieg blauer Holzrauch in die dicke, neblige Abendluft. Santner’s Tochter, obwohl gehörig durchnäßt, hatte hausfraulich ihres Amtes gewaltet; in dem vertäfelten Gastzimmer war es bereits behaglich warm und der Herr Hüttenwart streichelte mit frostblauen Fingern den Ofen, der so prächtig funktionierte. Die Frage der Beheizung hochgelegener Schutzhäuser ist eine der allerheikelsten; ist sie befriedigend gelöst, so hat der Hüttenwart gewonnen, und entsagt auch der Küchenherd allen Streikanwandlungen und gestattet der Ofen, nicht bloß zu kochen, sondern auch zu braten, so bedeutet das Sieg auf der ganzen Linie. Allen anderen Uebelständen läßt sich abhelfen; ein Herd aber, der unermüdlich im Qualmen ist, dessen Platte jedoch so kalt bleibt, daß ein Frosch es zur Noth fünf Minuten auf ihr aushalten könnte, ist ein Kreuz für den Bewirthschafter und ein noch größeres für den unglücklichen Hüttenwart, der das unentbehrliche Möbel mit schweren Kosten erworben hat, womöglich als ein non plus ultra seiner Art, damit es, unter neuen beträchtlichen Transportkosten an Ort und Stelle gebracht, hartnäckig seinen Dienst versagte und der Anstrengungen aller zu Hülfe gerufenen Sachverständigen, Heizkünstler, Töpfer, Schornsteinfeger usw. gleichmüthig spotte. Ja, hätte man gute Steinkohlen für einen solchen Uebelthäter, aber es soll sich ja mit dem zähen Geäst der Legföhre heizen lassen, mit dem grünen sowohl wie mit dem dürren, auch dann, wenn der Sturm der Hochregionen heulend über die Hütte dahinbraust, als wolle er sie in ungestümem Anprall hinab in die Tiefe schleudern.
Die Hütte, die uns gastlichen Schutz bot und – ungeheure Mengen heißen, duftigen Thees, ist eine von den kleinen und bietet im äußersten Falle fünfzehn Touristen eine Lagerstatt; es sind nämlich sieben Betten und acht Matratzenlager vorhanden. Sie hat 4000 fl ö. W. gekostet, die Einrichtung ca. 1100 fl, und man kann wohl sagen, daß alle auf dem Gebiete des Hüttenbaues gemachten Erfahrungen hier mit sächsischer Gründlichkeit verwerthet worden sind. Die Lage zu Füßen der imposanten, furchtbar steilen Vajolettthürme, an die sich nur Dolomitkletterer ersten Ranges wagen dürfen, ist prachtvoll und die Besteiger der leichteren Rosengartenspitze kürzen den Weg bis zum Einstieg in die Felsen beträchtlich ab, wenn sie in der Vajoletthütte, statt in der Grasleitenhütte übernachten. Das hat seinen Werth, denn je frischer und ausgeruhter der Steiger ist, wenn seine eigentliche Arbeit beginnt, desto leichter wird er den Unfällen entgehen, die aus Ermüdung, aus dem Versagen der oft überschätzten Kräfte entstehen. Auch Verletzungen durch Steinfall werden desto sicherer vermieden, in je früher Morgenstunde das Klettern in den Rinnen beginnt; wenn die Sonne höher kommt und das Eis des Nachtfrostes wegleckt, kommen die vorher festgefrorenen Steine in’s Rutschen, die kleinen bringen die größeren, viele kleine auch einen ganz großen in Bewegung, und urplötzlich prasselt eine Steinsalve durch die schmale Rinne herunter, der man nur durch einen glücklichen Zufall zu entgehen vermag. Für viele von den Touristen, die das Rosengartengebiet, die Perle Südtyrols, queren, indem sie die in drei Tagen bequem zu Fuß abzuwickelnde Rundtour Eggenthal – Karrerseepaß – Grasleiten – Blumau oder umgekehrt machen, wird die Hütte freilich nur die Bedeutung einer Einkehr- und Erfrischungsstation haben; wer die Tour allerdings in zwei Tagen machen will, der kommt von beiden Seiten wohl nur bis zur Vajoletthütte, für ihn ist sie daher auch als Uebernachtungsplatz von Wichtigkeit; Viele ziehen ja schon aus Neugierde die Schutzhütte dem nächsten Thalwirthshause vor; sie wollen auch einmal in einem alpinen Schutzhaus geschlafen haben, um daheim davon erzählen zu können.
Wäre es nach mir und den Leipziger Herren gegangen, so hätten wir unseren Stab an diesem Tage nicht weiter gesetzt, sondern in der peinlich sauberen, freundlichen und ordentlichen Hütte übernachtet. Aber Santner und Hansl trauten dem Wetter noch immer nicht und meinten, das Sicherste sei, noch an diesem Abend Perra im Fassathal zu gewinnen, wenn auch das letzte Stück des Weges mit der Laterne werde gemacht werden müssen. So fügte man sich denn ihrer vorauszusetzenden besseren Einsicht und abwärts ging es nach den zahlreichen, verstreuten Sojalhütten, wo im Sommer viel Vieh weidet, und in den Schatten der Dämmerung aus dem Bereich der Felsen hinab auf die erste Thalstufe und in’s Bereich der Kultur. Santner leuchtete mit einer weißen Papierlaterne voran und im Gänsemarsch folgten wir ihm blindlings und urtheilslos auf allerlei abschneidenden Nichtwegen, über rauschende Bäche, durch finsteren Wald und an steilen Lehnen hinunter, nur das kleine Fleckchen erleuchteten Bodens vor uns im Auge, um keinen Fehltritt zu thun, der im Gebirge noch weit empfindlicher sich zu rächen pflegt, als im Flachland. Auch an vereinzelten Häusern, aus denen freundlicher Lichtschimmer uns grüßte oder eine halbverwunderte Stimme einen Abendgruß uns zurief, sind wir so vorübergekommen, um dann wieder in tiefe Finsterniß und auf ganz schmale, steile Pfade zu gerathen – kurz, man war von dem fortwährenden Wechsel und dem stumpfsinnigen Hinterdreintappen hinter der auf und ab pendelnden Papierlaterne förmlich wirr im Kopfe, als plötzlich eine breite Lichtfluth uns entgegenschlug und wir vor dem Gasthause des Antonio Rizzi in Perra standen. Es war zwischen sieben und acht Uhr Abends, und da wir um sechs Uhr früh aufgebrochen waren, so hatten wir, trotz nur ganz kurzer Rasten, zu einer Tour, die sich unter günstigen Verhältnissen in sechs Stunden durchführen läßt, reichlich das Doppelte gebraucht; in kürzerer Zeit wäre sie aber trotz aller Anstrengung kaum zu bewältigen gewesen, denn der Schnee verurtheilte uns zu einem Tempo, das garnicht in den Gewohnheiten und im Temperament der Betheiligten lag.
Man war nicht wenig erstaunt, so spät im Jahre und so spät am Tage noch eine so zahlreiche Gesellschaft aus dem Rosengarten einrücken zu sehen, und lustig anzusehen war es, wie man von allen Seiten warme Strümpfe und warme Hausschuhe herbeibrachte, damit wir unsere durchnäßten und förmlich durchweichten Bergschuhe von den Füßen brachten, die nun, um das Einschrumpfen zu verhüten, sorgfältig mit Heu ausgestopft und so an den warmen Küchenherd gebracht wurden. Dem Hüttenwart, den sie zum ersten Male in ihrem Leben erblickte, wollte des Wirthes zierliches Töchterlein Marietta, das im Sommer mit einer Magd die Bewirthschaftung der Hütte besorgt, eine besondere Ehre erweisen und brachte ihm ein Paar ihrer eigenen Pantöffelchen, die sich freilich als für ein Paar deutsche Infanteristenfüße viel zu klein erwiesen und sich neben den massiven Bergschuhen des Geehrten wie Puppenschuhwerk ausnahmen.
Santner und Hansl behielten mit ihrer Wetterprognose nur zu Recht. Schon während wir beim Abendessen saßen, stöberte und regnete es wild durcheinander, und so blieb es die ganze Nacht, so daß wir früh den Anblick einer vollständigen Winterlandschaft hatten. Es gehörte keine besonders lebhafte [296] Phantasie dazu, sich zu vergegenwärtigen, wie es oben in den Bergen aussehen würde, und hätten wir unseren Übergang einen Tag später zu machen gesucht, so würde der Versuch höchst wahrscheinlich gründlich gescheitert sein.
Daß diese verfrühte Winterlandschaft sich erst jenseits des Karrerseepasses nach und nach verlieren würde, lag auf der Hand, und so nahmen wir denn das Anerbieten unseres Wirthes an, uns nach Welschnofen zu fahren, wo das Gröbste hinter uns lag; wir wären sonst bis auf die Haut durchnäßt nach Bozen gekommen. Es wurde immer winterlicher, je näher wir der Höhe des Karrerseepasses kamen, und als wir dieselbe erreicht hatten und im Rosengartenhof einkehrten, fehlten zur Weihnachtsszenerie nur noch die Schlitten.
Der Rosengartenhof verdankt gleich dem unweit entstandenen großen Karrerseepaß-Hotel sein Dasein der neuen Kunststraße, die von Welschnofen im Anschluß an die Eggenthalstraße über den Karrerseepaß nach dem Fassa- oder Falzthal[WS 1] führt. Früher stand nur ein kleines bescheidenes Wirthshäuschen, die „Alpenrose“, hier, in dem ich vor Jahren, spät im November, der Gast der Straßenbau-Ingenieure war, die in diesem Wirthshäusel ihr Baubureau aufgeschlagen hatten. Jetzt mögen die bescheideneren Touristen dem Rosengartenhof zufallen – das Karrerseepaß-Hotel ist nur für Kommerzienräthe, Engländer usw., die in eigenem Geschirr angerollt kommen, und die bestaubten Fußwanderer würden sich auch unter all den Protzen sicher sehr unbehaglich fühlen. Ich habe kaum einen Blick auf das Hotel geworfen, das in der allernächsten Nachbarschaft des stillen, grünen, melancholischen kleinen Sees, in dem die fahlen Zacken und Zinnen der Latemargruppe sich spiegeln, sehr wenig am Platze ist und ein fremdes, störendes Element in die hochpoetische Landschaft bringt, und die Menschenklasse, die in diesen modernen, „feinen“ Riesen-Karavanserais der reisetollen Kulturwelt sich breit macht, ist mir so zuwider, daß ich wohl sagen kann: „Selbst in den Bergen athme ich erst dann leicht und frei, wenn ich die Region der Hotels unter mir habe und emporgeklommen bin in die Region der einfachen, aber sauberen und schmucken „Hütten“. So geht es gewiß noch Tausenden von Denen, die man vorschnell als „waghalsige Bergfexe“ abthut; sie müssen eben hoch hinauf in die wilden und unzugänglichen Regionen der Bergwelt, um sich als Menschen zu fühlen und der Natur klopfenden Herzens in die dunklen, geheimnisvollen Augen zu schauen. Gewiß ist das Bergsteigen für Viele auch nur eine Modesache und sie wollen nur mitreden und – mitrenommiren und dem biederen Philister eine Gänsehaut verursachen können, aber man möge das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nicht vergessen, daß unter den Kletterern auch die echten Naturfreunde sind, die tapferen, lauteren, freiheitsdurstigen Herzen, die dort oben den Naturzustand suchen und die aufjauchzen im Kampfe mit den ungebändigten, übermächtigen Gewalten, die immer sein werden, wie sie von Anbeginn gewesen.
In Welschnofen hielten wir Mittagsrast und verabschiedeten unser Fuhrwerk, um thalab gen Kardaun an die Südbahn zu ziehen. Ich kannte den Weg durch’s Eggenthal mit seinen zahlreichen Kunstbauten, Sprengungen usw. nur von einem Nachtmarsch, den ich einst beim Schein der Spanfackel mit Santner ausgeführt; gegen die schauerliche, erhabene Wildheit jenes Nachtmarsches, bei dem jedes Stückchen Weg tiefer hinein in den Schlund der Hölle Dantes zu führen schien, fiel natürlich dieser Marsch im ehrlichen Tageslicht empfindlich ab und ich habe es wieder tief empfunden, wie poetisch die Nacht, wie prosaisch der Tag sein kann. Es war eigentlich schade, denn für Den, welcher nicht bei Nacht und bei irrem Fackellicht diese Straße gezogen ist, hat sie auch bei Tage des Wilden und Phantastischen gerade genug und darf für ein Schaustück des südtiroler Landes gelten, wie denn überhaupt die sämmtlichen Eingänge in die Dolomiten außerordentlich reizvoll sind: Vilnöß–St. Peter, Weidbruck–St. Ulrich, Blumau–Tiers und Kardaun–Welschnofen wetteifern miteinander, und jeder dieser Wege hat Vorzüge vor allen anderen.
In Kardaun ward noch einmal gerastet; im Oktober zur Zeit der Weinlese, wo jedes Dorf nach Most duftet und jedes Fuhrwerk, dem man begegnet, ein Stückfaß geladen hat, befindet sich Alt und Jung in einer feucht-fröhlichen Stimmung, und diese Stimmung steckt auch den Nüchternsten an und nimmt ihm den Muth, die Frage der Kellnerin: „Noch ein Viertele?“ mit einem rauen: „Nein!“ zu beantworten. Sie zechen Alle, Männlein wie Weiblein, und sind mit einem leichten Räuschchen doppelt genießbar, weil doppelt menschlich. Unseren Freund Santner büßten wir hier ein; er blieb kleben und hat später sogar noch mitgetanzt; wir Anderen marschirten in goldigem Abendlicht hinein nach Bozen, nicht ganz frei von einem bescheidenen Stolze darauf, sicherlich die Letzten gewesen zu sein, die in diesem Herbst den Grasleitenpaß überschritten und in den beiden Leipziger Hütten gerastet hatten. –
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Fassaoder Falzthal