Eine Nacht an der Seeküste

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Titel: Eine Nacht an der Seeküste
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 95–96
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Altes Ehepaar plündert Schiffbrüchige und erlebt eine böse Überraschung
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[95] Eine Nacht an der Seeküste. Im Februar 1835 wohnte ich auf dem Gute eines Freundes an der Seeküste von Bayonne einer Entenjagd bei, die glänzend ausfiel, durch ein heftiges Sturm- und Hagelwetter aber noch vor Beendigung gestört wurde. Ich war von meinen Jagdgenossen abgekommen und irrte lange auf der vom Sturm aufgewühlten Sandfläche einher, bis ich endlich, als der Abend hereinbrach, noch zufällig eine Fischerhütte fand, in die ich ohne Weiteres eintrat. Die Bewohner in der Hütte, ein Mann und eine Frau, erhoben sich bei meinem Anblick und frugen nach meinem Begehr. Ich bat, da es zu spät zur Rückkehr auf das Gut meines Freundes war, um ein frugales Abendbrod und ein Plätzchen in der Hütte, wo ich die Nacht ruhen könnte, was mir Beides auch mit großer Bereitwilligkeit gewährt wurde.

Als der erste Hunger mit gekochter Milch und gebackenen Seefischen gestillt war, unterhielt ich mich mit dem nicht mehr jungen Ehepaare über die Fischerei und ihre übrigen Verhältnisse. „Was meinst Du Peter,“ sagte die Frau plötzlich, „sollen wir nicht den Herrn bitten, uns den Brief zu lesen?“

„Wahrhaftig Frau, Du hast Recht,“ erwiederte der Fischer, „geh suche ihn.“

Die Alte erhob den ungeheuern Deckel eines Koffers, der in der Ecke stand, holte einen sorgfältig in Leinewand eingewickelten Brief hervor und reichte mir denselben mit der Bitte, ihn vorzulesen.

Es war ein Brief von ihrem Sohne, welcher als Matrose auf einem Kauffahrer diente. Er schrieb von Guadaloupe aus, daß sein Schiff im Begriff sei, die Anker zu lichten, und daß er, wenn ihn kein Unglück treffe, seine Eltern gegen das Ende des Januar zu sehen hoffe. Die Freude der guten Fischersleute war stumm und zeigte sich nur in einigen großen Thränen, welche die alte Frau ungehindert fließen ließ, während der Mann sie mit seiner schwieligen Hand wegwischte, als ob er sich schäme, sein Gefühl blicken zu lassen. Nachdem wir ein wenig gesprochen hatten, theils über den jungen Matrosen, theils über das Meer, seine Gefahren, den Fischfang und andere Dinge, boten mir die Leute ihr Bett an, welches ich jedoch zurückwies, indem ich erklärte, daß ich mich mit der Bank am Kamin begnügen wolle. Nach einigen Augenblicken wünschten mir die Strandbewohner gute Nacht und legten sich in ihr Bette. Ich legte noch einige Aeste und Reisigstückchen zum Feuer und streckte mich dann unter dem Getöse des Sturmes, welcher in diesem Augenblicke am wildesten zu rasen schien, auf die Bank nieder. Die Bewohner der Seeküste von Bayonne bis Finisterre leben von der Küstenschifffahrt, der Fischerei und dem Schiffbruch. In den Köpfen dieser Leute ist der Glaube fest eingewurzelt, daß jedes gescheiterte Schiff von Gott verflucht ist, und daß man nur dem göttlichen Willen entgegenkommt, wenn man beendet, was das Unwetter begann, indem man sowohl das Schiff als die Reisenden und die Matrosen, welche sich an’s Ufer retteten, ausplündert. Ein Schiffbruch ist das glücklichste Ereigniß für diese armen Menschen, deren Habgier bei solcher Gelegenheit alle Gefühle der Menschlichkeit in ihrer Brust erstickt.

Gegen Mitternacht hörte ich ein Geräusch in der Hütte, welches mich erweckte. Ohne mich zu rühren, öffnete ich die Augen und sah meine Wirthsleute bereits außer dem Bette und völlig angekleidet.

„Geschwind,“ sagte der Mann, „geschwind, Weib, mache Dich fertig. Ich habe ganz deutlich zwei Kanonenschüsse aus der Richtung des weißen Felsens gehört und wir werden ohne Zweifel Beute finden.“

Während dieser Worte hing die Alte zwei Laternen an einem Stabe auf, der über Kreuz an einer über acht Fuß langen Stange befestigt war; der Mann hatte eine eisenbeschlagene Stange, ein Beil mit kurzem Stiel und ein Seil in der Hand und so verließen sie mit lautlosen Schritten die Wohnung.

Begierig, das Ende eines Auftrittes zu sehen, welcher meine Neugierde erregt hatte, erhob ich mich, kleidete mich eilig an und verließ gleichfalls die Hütte, geleitet durch das doppelte Licht der beiden Laternen. Der Weg führte uns gegen das Meer, welches ich – so dicht war die Finsterniß – nicht sehen konnte, mit Entsetzen aber auf das Furchtbarste toben hörte. Plötzlich schienen die Laternen in den Boden zu versinken. Ich beeilte meine Schritte und gelangte zu einem Pfade, welcher von den Dünen herab zum Strande führte. Dort blieben die beiden Leute stehen, und ich konnte nun bei dem schwachen Schimmer der beiden Leuchten die schäumenden Wellen erkennen, welche sich mit Wuth an dem Ufer brachen. Die Mitternachtstunde, die Dunkelheit der Nacht, das düstere Licht [96] der Laternen, welches kaum erlaubte, die handelnden Personen zu erkennen, das grollende Meer, die entfesselten Winde, alles dies kündigte mir ein unerwartetes Schauspiel an, das mein Herz laut schlagen machte. Ich verbarg mich, kaum zwanzig Schritte von meinen Wirthsleuten entfernt, hinter einem Felsenstück, welches mir gestattete, Alles zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden.

Plötzlich wich die Nacht auf einen Augenblick einem blinkenden Lichte, dem ein mächtiger in den Dünen verhallender Donner folgte.

„Hörst Du dieses Mal den Nothschuß, Margarethe?“ fragte der Fischer, und ein Strahl der Laterne, welcher auf sein Gesicht fiel, ließ mich darin mit Entsetzen den Abglanz einer kannibalischen Freude erblicken, welche sich bei der zunehmenden Wuth des Windes und der Wellen zu erhöhen schien.

In einem Augenblick der Ruhe schien es mir, als hörte ich eine Stimme, das Schreien der Verzweiflung und gleich darauf ein Krachen wie von einem vom Blitz gespaltenen tausendjährigen Eichbaume. Das geübtere Ohr des Fischers hatte den Ton mit mehr Sicherheit vernommen und Peter sagte zu seiner Frau: „Sie können nicht mehr lange ausbleiben, richte die Laternen auf.“

Die Alte erhob das Kreuz und steckte die Spitze der Stange in den Sand, so daß die Laternen jetzt hoch und frei schwebten, ein Leuchtthurm um die Schiffbrüchigen in den furchtbaren Hinterhalt zu locken. Eine lange Welle überstürzte das flache Ufer; die Fischer standen bis an das Knie im Wasser, und als dieses zurücklief, ließ es einen Leichnam auf dem Sande. Mit erhobener Axt stürzte Peter auf denselben zu, bückte sich über ihn und fühlte nach dem Herzen. „Todt,“ sagte er, „todt.“

Jetzt ließ sich das regelmäßige Schlagen von Rudern in einiger Entfernung hören. „Teufel,“ rief der Mann, „es scheint, als versuchen sie in einer Schaluppe zu entkommen. Doch sie müssen sehr fein sein, wenn sie den weißen Felsen vermeiden wollen.“

Diese Worte wurden durch einen hundertfältigen Schrei der Verzweiflung unterbrochen. „Zu Hülfe! Zu Hülfe!“ hörte man deutlich rufen, und dann folgte ein schreckliches Schweigen. Die Schaluppe mußte gescheitert sein; das Meer hatte seine Beute verschlungen; Mantelsäcke, Kisten, Breter, Fässer, Bruchstücke von Masten und Rudern überschwemmten das Ufer, und beide Leute waren eifrig beschäftigt, die Gegenstände, welche heranschwammen, aus dem Bereiche der Wellen zu schleppen, denn die Alte hatte ihren meuchelmörderischen Leuchtthurm verlassen. Doch was höre ich? – Ein Schrei – das Stöhnen des Todeskampfes – nein, das ist keine Täuschung; ich höre eine Stimme, welche mit der Kraft der Verzweiflung nach Hülfe ruft, und wenige Schritte vom Ufer erblicke ich einen Kopf und zwei Arme gegen die Wogen ankämpfend.

Auf diesen Schrei eilte Peter mit hochgehobener Stange herbei. Ich glaubte, er wollte diese dem Unglücklichen reichen, um ihn aus den Wellen zu ziehen; aber nein, er ließ sie mit ihrer ganzen Schwere auf ihn niederfallen und stieß ihm dann die eisenbeschlagene Spitze in die Seite. Der letzte Seufzer entfloh dem Erbarmungswürdigen; das Verbrechen war vollbracht, und der Mörder zog den Leichnam an das Ufer.

Bei diesem schrecklichen Anblick war ich erstarrt und regungslos an dem Felsen, welcher mich barg, niedergesunken; doch Ströme von Regen weckten mich wieder aus meiner Betäubung, und als ich wieder zu mir kam und einen letzten Blick auf diese furchtbare Scene warf, sah ich die Kannibalen sich nach und nach fünf Leichnamen nähern und sie untersuchen, ob sie auch wirklich todt seien.

Der letzte war noch warm; es war derjenige, welchen der Fischer ermordet hatte. Die beiden Meuchelmörder beugten sich über ihn, kehrten ihn um und betrachteten sein Angesicht beim Schimmer der Laterne. Kaum fiel ein Lichtstrahl auf die entstellten Züge, als ich einen gräßlichen Schrei hörte und das Weib entseelt auf den Leichnam fallen sah. Die Mutter hatte ihren Sohn erkannt.

Sie wurden neben einander begraben. Peter schleppte noch zwei Jahre von schrecklichen Gewissensbissen gepeinigt, sein Leben hin; endlich hatte Gott Erbarmen mit dem Sohnesmörder. Man fand den Alten todt am Meeresstrande, mit dem Gesicht gegen den weißen Felsen gekehrt.