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Eine alte Streitfrage

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Textdaten
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Autor: Heinrich Bauer
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Titel: Eine alte Streitfrage
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 883
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[883]
Eine alte Streitfrage.
Wann beginnt ein neues Jahrhundert?

„ ist so klar wie das Einmaleins!“ oder „darüber kann man so wenig streiten wie über den Satz, daß zweimal zwei vier ist!“ – solche und ähnliche Redewendungen werden wohl gebraucht, wenn bei einem Wortstreite der eine Theil zu verstehen geben will, daß seines Erachtens den von ihm angeführten Beweisen nicht mehr widerredet werden könne. Und diese Redewendungen, ob nun im einzelnen Falle mit Recht oder Unrecht angewandt, beweisen alle einen großen Respekt vor der Mathematik, vor den über jeden Zweifel erhabenen Gesetzen des Einmaleins, und man sollte daher glauben, daß über Dinge, welche dem zwingenden Machtspruche dieses Selbstherrschers unterliegen, ein Meinungsstreit überhaupt ausgeschlossen sei.

Aber weit gefehlt. Nichts, sollte man denken, sei einfacher als die Zeitrechnung, ob sie nun die Erschaffung der Welt, die Gründung der Stadt Rom, die Geburt Christi oder die Flucht Mohammeds von Mekka nach Medina – also immer ein fest bestimmtes, wenn auch vielleicht willkürliches Datum – zum Ausgangspunkte nimmt. Gerade auf diesem Gebiete jedoch herrscht die größte Unklarheit, und es entstehen Streitfragen, die, bei ihrer verhältnißmäßigen Bedeutungslosigkeit, eine oft geradezu lächerliche Hitze annehmen.

Bei Licht betrachtet ist die Sache freilich nicht gar so wunderbar. Der ins Ohr fallende Laut und die Logik des Einmaleins wollen sich für manchen oft gar nicht zusammenreimen. So selbstverständlich es ist, daß die Jahre 1483 oder 1546 im 15. bez. 16. Jahrhundert liegen, so wenig will das dem einen oder dem andern unmittelbar einleuchten; er hört bei der ersten Zahl die Jahrhundertziffer 14, bei der zweiten 15 und ist daher geneigt, die erste Jahreszahl dem 14., die zweite dem 15. Jahrhundert zuzurechnen. Ist ja doch auch der Sprachgebrauch in dieser Hinsicht ein unsicherer: die Italiener bezeichnen heute noch die Gelehrten und Künstler des 16. Jahrhunderts als die großen Geister des „Cinquecento“ (cinquecento – fünfhundert, die Tausendzahl ist weggelassen).

Aber sei es drum! Die Wende der Jahrzehnte und Jahrhunderte, sollte man meinen, könnte doch unmöglich zu einem Streit führen; braucht man ja doch, um sie festzustellen, nur von 1 bis 10 oder von 1 bis 100 zu zählen. Trotzdem ist gerade darüber zu den verschiedensten Zeiten lebhaft gestritten worden, und zwar haben sehr verständige und brave Menschen für die der Zahlendogmatik gegenüber ketzerische Ansicht sich ereifert.

Zu diesen sehr verständigen und braven Persönlichkeiten gehört z. B. Liselotte oder, respektvoller geredet, die Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans, Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz, Gemahlin des Herzogs Philipp von Orleans, des Bruders Ludwigs XIV. Sie war eine Frau von echt deutschem Schrot und Korn, und deutsch führte sie fast durchweg ihren Briefwechsel mit den Verwandten im Deutschen Reiche, namentlich mit der Kurfürstin Sophie von Hannover.

An diese nun schrieb sie am 4. Januar 1699:

„Es ist eine disputte bey Hoff so vom König ahn bis auff die laquayen disputirt wirdt, die disputte ist, ob daß Secullum ahnfengt wen man 1700 schreiben wirdt, oder 1701, monsieur Fagon undt die von seiner parthey sein, sagen, Es fengt ahn wen man 1700 schreiben wirdt, den alßden seyen die hundert jahr zum Endt, die andern aber souteniren, daß die hundert jahr Erst zum Endt seyen wen Man 1701 schreiben wirdt, Ich mögte gern deß herrn Leibnitz Meinung hirüber wißen, wo Man geht undt stehet jetzt hört man nichts alß disputtiren biß auff die porteur de chaisse disputtiren hirüber. Ich, wen Ich die Wahrheit bekenen sol, bin mons. Fagons Meinung, der König mons. le dauphin, printz de Conti, monsieur und gantze hoff seindt vor 1701. Ich mogte E. L. meinung auch woll hirüber wißen, etc.“

Ich habe nun nicht in Erfahrung bringen können, ob und wie die erlauchte Tante der Briefschreiberin oder der große Philosoph Leibniz die Frage beantwortet hat; von letzterem aber setze ich ohne weiteres voraus, daß er in dem Falle der Beantwortung gegen die Fragestellerin entschieden hat.

Soviel steht fest: die Jahresrechnung, welche die Geburt Christi zum Ausgangspunkt nimmt, fällt für uns mit dem Kalenderjahre zusammen. Niemand wird die Jahre der christlichen Zeitrechnung vom 24. Dezember bis zu demselben Datum des nächsten Jahres rechnen, sondern vom 1. zum 1. Januar, wie denn ja bei uns die Jahreszahl amtlich mit dem Eintreten des 1. Januar und nicht mit dem des 24. Dezember wechselt. Der Rest des Jahres, welcher zwischen das für unsere Zeitrechnung epochemachende Datum und den 1. Januar fällt – er beträgt ja nur 7 Tage – kommt eben nicht in Betracht; niemand wird diese Woche nach Christi Geburt als erstes Jahr bezeichnen wollen!

Dies zugegeben, folgt weiter von selbst, daß das erste Jahr der christlichen Zeitrechnung mit dem auf Christi Geburtstag folgenden 1. Januar begann, und daß es von diesem 1. Januar bis zum 31. Dezember währte.

Da nun ein Jahrhundert aber hundert volle Jahre hat, so schloß das erste Jahrhundert mit dem 31. Dezember des Jahres 100, und das zweite begann mit dem 1. Januar 101. Wer das erste Jahrhundert schon mit dem Jahre 99 schließen lassen will, der muß entweder demselben nur 99 Jahre zutheilen, was ein Widerspruch in sich selbst ist, oder er muß annehmen, daß dasselbe mit einem Jahr „Null“ begonnen habe.

Mir fällt dabei jenes alte Lehrbuch der Logik ein, auf Grund dessen wir in meiner Jugend Unterricht erhielten. In demselben wurde als Beispiel einer Art von Trugschlüssen der folgende angeführt: „Keine Katze hat 19 Schwänze; eine Katze hat selbstverständlich einen Schwanz mehr als keine Katze, folglich hat eine Katze 20 Schwänze.“ Der ganze Trugschluß ist darauf gebaut, daß das Wort „keine“ als positives Zahlwort verwendet wird, während es doch lediglich die vollständige Verneinung jeglicher Zahl, ja jeglicher Existenz ist. Und ganz dasselbe würde von einem Jahr „Null“ gelten. Ein Jahr „Null“ ist eben durch diese Benennung als überhaupt nicht vorhanden bezeichnet.

Endigte aber das 1. Jahrhundert mit dem 31. Dezember des Jahres 100, so schloß das 2. mit dem 31. Dezember des Jahres 200, und so geht es fort bis zu uns und weiterhin, solange eben unsere Zeitrechnung bestehen wird. Das 19. Jahrhundert heißt das 19., weil es mit dem Ende des Jahres 1900 seinen Abschluß findet, und der Irrthum, daß das 20. Jahrhundert mit dem 1. Januar 1900 beginne, erklärt sich lediglich aus der Klangwirkung, daß von diesem Jahre an die Jahrhundertziffer „8“ aus der Jahreszahl verschwindet und durch die Ziffer „9“ ersetzt wird. Wer dieses Ereigniß feiern will, mag es thun; wir treten aber mit dem 1. Januar 1900 nicht in das erste Jahr des 20. Jahrhunderts – welches ja so bezeichnet wird, weil es mit dem Ablaufe des Jahres 2000 endigt –, sondern in das letzte des 19. Jahrhunderts.

Und ähnlich wie mit der Wende der Jahrhunderte verhält es sich mit derjenigen der Jahrzehnte. In einer großen und sehr angesehenen Berliner Zeitung las ich am 1. Januar dieses jetzt zu Ende gehenden Jahres 1890 an der Spitze des lokalen Theils eine sehr rührende Betrachtung darüber, daß wir mit diesem Tage in das letzte Jahrzehnt unseres Jahrhunderts eingetreten seien, woran für die geplagte Menschheit des 19. Säculums alle möglichen Ausstellungen bezüglich ihrer Fortschritte und eine ganze Reihe salbungsvoller Mahnungen geknüpft wurden.

Der Verfasser hätte weit besser daran gethan, seine wohlgemeinte Predigt noch ein Jahr lang in der Tiefe seines Tintenfasses schlummern zu lassen und dafür in sich selbst zu gehen, um seine Versäumnisse im der Kenntniß des Einmaleins, wenn auch spät, nachzuholen. Welche junge Dame würde, wenn sie in ihr dreißigstes Lebensjahr eintritt, mit Gelassenheit den Glückwunsch zum Antritt ihres vierten Jahrzehnts hinnehmen!

Doch genug! Ich glaube hinreichend deutlich gewesen zu sein und kann mir keinen schöneren Erfolg denken, als daß jeder Leser dieser Zeilen am Schlusse sagt: „Wozu die vielen Worte, das versteht sich ja alles von selbst!“ Auch ich habe das lange geglaubt, aber die Erfahrung hat mich eines anderen belehrt. –

Schon wollte ich befriedigt über meine Philippika die Feder niederlegen, als mich der durch Liselottes Tagebuch angeregte historische Forschungstrieb doch noch übermannte, daß ich mich zu vergewissern trachtete, wie bezüglich der Wende anderer Jahrhunderte die Menschen sich verhalten haben, und wie nicht bloß die Menge, sondern auch die Güte der Zeugen für die eine oder andere Auffassung sich stellt. Mit dem Ergebnisse kann ich durchaus zufrieden sein.

Was die Menge anbelangt, so war im Jahre 1000 unserer Zeitrechnung ein großer Theil der Christenheit der Ueberzeugung, daß im Laufe desselben der Weltuntergang erfolgen werde, und zwar deswegen, weil mit demselben die tausendjährige Gnadenfrist zu Ende ging, welche, dem vielfach herrschenden Glauben zufolge, der Welt nach der Menschwerdung Christi noch gestellt gewesen war. Das Jahr 1000 galt allen diesen zitternden Gläubigen sonach als der Abschluß des ersten Jahrtausends und seines letzten Jahrhunderts, nicht als das erste Jahr des zweiten Jahrtausends, das ihrer Meinung nach die Welt gar nicht mehr erleben durfte.

Bezüglich der Güte der Zeugen aber steht die Sache noch viel glänzender. Goethe und Schiller haben nicht den 1. Januar 1800, sondern den 1. Januar 1801 als den Wendepunkt zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert betrachtet. In Goethes und Schillers Briefwechsel findet sich die Mittheilung, daß die Jahrhundertwende im Januar 1801 festlich begangen werden sollte, und zwar anläßlich eines Gastspiels Ifflands in Weimar. Ob die Feier wirklich zustande gekommen ist, darüber habe ich nichts finden können, es genügt aber, daß sie für den Januar 1801 und nicht für den des vorangegangenen Jahres geplant worden ist. Ebenso fällt die Abfassung von Schillers Gedicht „Der Antritt des neuen Jahrhunderts“ in den Anfang des Jahres 1801, wahrscheinlich in die ersten Tage des Februar.

Ich könnte also triumphiren und die Andersmeinenden flottweg für „Ketzer“ erklären, „mit denen keine Gemeinschaft zu halten sei“. Aber wir leben in einem menschenfreundlichen Zeitalter, in einer Periode der Kompromisse, und so will auch ich mit der feierlichen Erklärung schließen: Wenn mich zum Sylvesterabend 1899 auf 1900 jemand einlädt, die Wende des Jahrhunderts in fröhlicher Gesellschaft mit ihm zu begehen, so werde ich die Einladung annehmen, mit dem Vorbehalte natürlich, ihn zum Sylvester 1900 auf 1901 für dieselbe Feier meinerseits einzuladen. Ein gewöhnlicher Jahreswechsel mag mit einer Feier abgethan sein, solche bedeutsame Augenblicke aber, wie der Eintritt in das letzte Jahrzehnt eines Jahrhunderts oder gar in ein neues Jahrhundert, mögen immerhin zweimal gefeiert werden. Man geht dann jedenfalls sicher. Aber – recht haben doch diejenigen, welche das 20. Jahrhundert erst am 1. Januar 1901 beginnen lassen.

Heinrich Bauer.