Eine deutsche Volksbühne in Sicht
[548] Eine deutsche Volksbühne in Sicht. In Berlin war von einem Komitee eine Versammlung Anfang des Sommers einberufen worden, um der schon oft erörterten Frage der Errichtung deutscher Volksbühnen näher zu treten. Etwa 100 Damen und Herren haben der Einladung Folge geleistet; man bemerkte darunter viele hervorragende Schriftsteller, Männer der Kunst, der Wissenschaft, des Baufachs. Freiherr Hermann v. Maltzan behandelte in längerem Vortrage das Thema: „Die Errichtung deutscher Volksbühnen, eine nationale Aufgabe.“ Das Volksleben brauche einen geistigen Mittelpunkt, nichts sei dazu geeigneter als die Schaubühne. Das Hoftheater und die anderen Berliner Bühnen seien bei den an sie gestellten Ansprüchen genöthigt, hohe Eintrittspreise zu fordern. Die unendliche Vergrößerung Berlins habe die Errichtung neuer Theater nothwendig gemacht; um nun den Bedarf an neuen Stücken für diese neuen Theater zu decken, hätten die Bühnenleiter ihre Zuflucht zu den Werken der fruchtbaren französischen Dichter genommen, da die deutschen Dichter weniger produktiv seien und sich zuletzt veranlaßt gesehen hätten, die französischen nachzuahmen. Die französischen Theaterstücke entsprächen aber nicht dem Geschmack des deutschen Volkes. Es müsse, zunächst in Berlin, eine Bühne gegründet werden, deren Besuch durch möglichst niedrige Eintrittspreise auch dem Unbemittelten zugänglich gemacht werde und auf welcher nur Stücke gegeben würden, die von einem deutschnationalen Geiste durchweht seien. Auch die deutschen Schriftsteller würden sich dann wieder dazu verstehen, deutschnationale Stücke zu schreiben. Im weiteren Verlauf der Debatte wurde, was den Bau des zu errichtenden Theaters betrifft, empfohlen, an etwas Bestehendes anzuknüpfen und den Ankauf des Viktoriatheaters wegen seiner großen Räumlichkeiten ins Auge zu fassen. Es wurde beschlossen, einen „Verein zur Errichtung deutscher Volksbühnen“ zu bilden, der zunächst eine Musterbühne in Berlin zu begründen habe.
Soviel wir ersehen, handelt es sich hier nicht um eine Volksbühne im Sinne derjenigen von Worms, Rothenburg oder Oberammergau, wo das Volk selbst mitspielt, sondern um ein Theater, in welchem Schauspieler die Rollen der Dramen darstellen und welches den Namen einer „Volksbühne“ nur auf seine billigen, für möglichst weite Kreise des „Volkes“ erschwinglichen Eintrittspreise gründet. Wenn außerdem in Berlin ein sogenanntes „freies Theater“ (Théâtre libre) in Aussicht genommen ist, an welchem die Werke der Dichter zur Aufführung kommen sollen, die von anderen Bühnen vernachlässigt werden, weil sie zu kühn oder zu genial oder nicht bühnengerecht genug sind, eine Art dramatischer „Salon der Zurückgewiesenen“, wie er neben Gemäldeausstellungen aufzutauchen pflegt, so muß man eingestehen, daß der Eifer, an dem deutschen Theater herumzudoktern, ein sehr großer ist, und daß dasselbe allgemein für einen bedenklich erkrankten Patienten gehalten wird. Ob aber die verschiedenen Methoden der Heilversuche ihm zum Heile gereichen werden, das kann nur die Zukunft lehren, die uns zeigen wird, wieviele dieser Verheißungen ein größeres oder geringeres Maß von Lebensfähigkeit besitzen. †