Eine wiedergeborene Stadt

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Autor: Eduard Schmidt-Weißenfels
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Titel: Eine wiedergeborene Stadt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 448-450
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine wiedergeborene Stadt.
Von Schmidt-Weißenfels.


Kaum zehn Jahre sind es her, daß ich zum ersten Male nach Constanz kam. Eines schönen Sommermorgens stieg ich mit noch vielleicht einem halben Dutzend Menschen aus dem Eisenbahnwaggon, der mich von Schaffhausen an die berühmte Stadt am Bodensee gebracht, und drei Minuten darnach waren die anderen sechs Lebendigen verschwunden, ein Packknecht fuhr mit einem Rollwagen davon, und rings um mich herrschte Stille und Oede. Wie wenn die Locomotive nur noch bis hierher Lebenskraft gehabt, stieß sie ihre letzten Athemzüge aus und stand nun wie todt an dem erstarrten Schlangenleib der wenigen Waggons. Kein Mensch war sichtbar und ein unheimliches Gefühl beschlich mich. Verlassen und verwaist kam ich mir vor. Der Bahnhof war ein armseliger, schuppenartiger Bau, aus dem Jeder wieder entflohen, wer bei der Ankunft des Zuges dort etwas zu thun gehabt. Die Eisenbahn hatte eben hier ihr Ende und es schien dies das Ende alles menschlichen Verkehrs zu sein. Dicht dabei lag in der Bucht ein Dampfschiff, mit welchem ich die Fahrt über den See machen wollte, aber noch rührte sich nichts auf seinen Planken. Ueber die herrliche blaue Fläche des schwäbischen Meeres schweifte der Blick, ohne eine Spur von Leben wahrzunehmen. Dort über St. Gallen der majestätische Sentis mit einem leuchtenden Schneemantel um Schultern und Brust; tief hinten die prächtige, zackige Felswand der Bregenzer Berge – ein entzückendes Panorama, dessen Anblick ich eine Weile in vollständiger Einsamkeit wie ein an diese Stelle verwunschener Sterblicher genoß.

Endlich raffte ich mich auf, um während der Zeit bis zur Abfahrt des Dampfers durch die Stadt zu schlendern und ihre Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen. Da umfing es mich gleich nach wenigen Schritten wie mittelalterliche Geisterwelt. Alte, große, hohe Häuser; lange Mauern, die ein Kloster umschlossen, ein wunderlicher architektonischer Zierrath hier, ein massiger Thurm dort, Bogengänge und gothische Portale, mächtige Giebel und Erker, alte Kirchen und weite, hallenartige Hausfluren: das war das echte Steinbild einer Stadt aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aber eben nur ein Steinbild. Menschenleer waren die Straßen, und was hinter diesen Mauern, in diesen großen, stattlichen Häusern lebte, mochte unter der brütenden Mittagssonne Siesta halten. Kaum hin und wieder am Fenster eines Erdgeschosses ein neugieriges Gesicht, das den das Pflaster zum Echo seiner Schritte aufrufenden Fremden musterte. Eine große, eine weitläufige, geräumige Stadt, doch wie ausgestorben, wie ein riesiges Kloster, still, innerlich heruntergekommen, ohne industrielle Thätigkeit, ein bischen Kramwerk hier und da in einzelnen geschlossenen Läden, auffällig zuweilen in der Hauptstraße ein paar Schaufenster mit ausgelegten Waaren, die auch mehr an Vergangenheit als Gegenwart mahnten.

Wohl ungestört ließ es sich auf dieser einsamen Wanderung träumen von der mittelalterlichen Zeit, in welcher Constanz oder Costnitz eine der vornehmsten unter den süddeutschen Städten war, eine alte kaiserliche Pfalz vordem, wo Karl der Große residirt, Karl der Dicke gestorben, wo Arnulf und der erste Konrad, die Ottonen und Friedrich Rothbart einst ihren Hof zu manchen Malen gehalten. Und bald hier und bald dort rief eine Inschrift an einem der Gebäude mir die denkwürdigen Vorgänge während des großen Concils von 1414–1418 in’s Gedächtniß, jenes ersten europäischen Congresses, mit welchem die Geschichte von Constanz ihren Höhepunkt erreichte und von wo an diese Stadt fortan wie aus dem Leben gestrichen war, wie verdammt zum jahrhundertlangen Siechthum, äußerlich erstarrt und doch nicht begnadet, eine Ruine zu werden, aus welcher neues Leben sprießt.

In jenem Hause der Paulsstraße hat Johann Huß gewohnt, als er, kaiserlichem Wort vertrauend, nach Constanz zum Concil gekommen war, um seine Lehre zu rechtfertigen; in jenem ehemaligen Dominikanerkloster saß er gefangen durch den Fanatismus seiner Prager theologischen Feinde; eine Messingplatte im Dom zeigt die Stelle an, wo ihm, dem vom Kaiser Verrathenen, das Todesurtheil der Cardinäle verlesen wurde; draußen im Baumgarten ist der Ort, wo er auf dem Scheiterhaufen und ein Jahr nach ihm sein edler Mitstreiter Hieronymus von Prag seinen Märtyrertod fand.

Hier wieder war es, wo der elende Papst Johann der Dreiundzwanzigste seine Wohnung genommen, als er auf einige Monate zum Concil sich eingefunden hatte, ein ehemaliger Seeräuber, der mit sechszehnhundert Leibwächtern und seinen Maitressen gekommen war, um das „Wohl der Kirche“ mit dem Kaiser und siebenhundert Prälaten der vier großen Nationen zu berathen. „Sic capiuntur vulpes,“ sagte er, als er vom Gebirge herab nach Constanz hinunterblickte, „so werden die Füchse gefangen.“ Und der Fuchs entwischte deshalb bald darauf in heimlicher Flucht dem Concil. Am Eckhause dort beim See mahnt eine Inschrift daran, daß in seinem Raume nach der Absetzung des blutschänderischen Papstes Johann und seiner beiden Nebenbuhler, Gregor’s des Zwölften und Benedict’s des Dreizehnten, der neue Oberhirt der Christenheit, Martin der Fünfte, gewählt wurde.

In jenem Gebäude wieder war es, wo Kaiser Sigismund, der schöne blondlockige Luxemburger, der fünf Kronen auf seinem Haupt vereinigte und doch nur ein kläglicher König war, seine Residenz zur Zeit des Concils gehabt, wo er seinen geliebten Reichsvicar Friedrich den Sechsten, Burggrafen von Nürnberg, 1415 feierlich mit der Mark Brandenburg und 1417 mit der erblichen Kurwürde belehnte und damit in den Boden der heruntergekommenen und fortan mehr und mehr abwirthschaftenden deutschen Reichsherrlichkeit den Stamm pflanzte, dessen Blätterkrone nach Jahrhunderten von der Spree sich über die deutschen Lande bis an deren Grenzen nach dem Bodensee ausbreiten sollte. Und dort das alte, graue, hochgiebelige Haus am See, einem großen Speicher ähnelnd, es birgt den Saal, in welchem das große, denkwürdige Concil seine Sitzungen hielt, wo es sich als höher denn der Papst erklärte und nicht ihm, sondern sich den Charakter der Unfehlbarkeit beilegte, wo es so kräftigen Ansatz zur Reformation der Kirche nahm, um freilich alle Erwartungen davon schließlich zu täuschen.

Haus um Haus dieses alten Constanz könnte von jenen Tagen erzählen; wohl in jedem hat Einer oder der Andere von der ungeheuren Zahl der Fremden gewohnt, die während des Concils hier zusammenströmte und von der der Canonicus Ulrich Reichenthal in seinem „Diarium“ getreulich berichtet, „wie die Herren Geistlich und Weltlich eingeritten seyn und mit wieviel Personen“. Da waren außer dem Papst, der floh und abgesetzt wurde, und dem, der hier neu gewählt wurde, Patriarchen und Cardinäle, an zweihundert Erzbischöfe und Bischöfe und an sechshundert sonstige geistliche Würdenträger mit einem Gefolge von zehntausend sechshundert Personen; dazu fünftausend Priester und päpstliche Secretäre, Universitätsdeputirte, Doctoren der Theologie, der Rechte, der Medicin, tausend Magister der freien Künste, insgesammt wieder mit einem Gefolge von achttausend Menschen. Zu so viel Geistlichen nicht minder zahlreich Weltliches an Kaiser und Herzögen, Grafen, Fürsten und Rittern, deren Gefolge auf zwanzigtausend Personen berechnet wurde. Aus allen Ländern Europas waren die Fremden gekommen, auch aus Asien und Afrika, eine bunte, glänzende Menge, von welcher der große Zug in Halévy’s Oper „Die Jüdin“, mit all’ seinem theatralischen Pompe, doch nur eine schwache Vorstellung geben kann. Am Ufer des Bodensees wimmelte es von Morgens bis tief in die Nacht von müßigem, schaulustigem Volke, für welches zahllose Gaukler und Schauspieler, Zigeuner und Kunstreiter ihre Vorstellungen gaben. In langen Budenreihen hielten herzugewanderte Kaufleute hier und auf den Plätzen dieses Theiles der Stadt ihre Waaren wie auf einer großen, jahrelang währenden Messe feil; eine ganze Bretterstadt war dort, wo heute der aufblühende schweizer Ort Kreuzlingen dicht vor Constanz’ Thoren sich ausdehnt, errichtet, wo Handwerker und Juden, Bettelvolk und Dirnen ihr Wesen trieben und die Roßknechte über Tausende von Pferden wachten, welche in improvisirten Ställen mit ihren Hufen stampften.

In der ganzen Christenheit gab es damals keine Stadt, wo es so lebhaft, so lustig, so lüderlich, so schlemmerisch zuging, wie in der deutschen Reichsstadt Constanz während des Concils. Hunderttausend Fremde, hoch und niedrig, reich und arm, hatten [449] dort über ein paar Jahre ihren Aufenthalt, oft daß diese Zahl sich noch um Zehntausend erhöhte. Damals war Constanz eine reiche, eine stolze, lebensvolle Stadt von vierzigtausend Einwohnern. Wie anders als bis vor Kurzem, da sie so todt, so arm, so verloren als letzter deutscher Posten an der schweizer Grenze erschien, auf fünftausend Einwohner herabgekommen, die in dem kolossalen Steinhaufen verschwanden. An das erstarrte Venedig mußte man unwillkürlich denken, wenn man diese Stadt am Bodensee sah, die unter langem und unbeschränktem Pfaffenregiment gebannt geblieben war, indeß vier Jahrhunderte die Physiognomie der Welt verändert hatten; die so in all ihrem Leben darniederlag, daß ihr Zweck völlig nutzlos, ihr Dasein gar nicht nöthig schien.

Wie ein Wunder kam mir denn die Veränderung vor, in welcher ich jüngst im Mai diese Stadt wiedersah. Aus dem öden Ufer war ein Tummelplatz eines Seehafens geworden. Fort und fort ergänzte sich längs des Strandes ein rastloser, fieberhaft eiliger Verkehr, wie ihn abgehende und ankommende Waaren und Reisende hervorrufen. Am Brückenprahm lagen ein paar Dampfschiffe, die täglich zehn, zwölf Mal von hier über den See und den Rhein hinunter bis Schaffhausen fahren und ebenso wieder einlaufen. Segel zogen die Bucht hinauf und herab; beim Zollhause an der Landungsstelle ein ewiges Auf- und Abstapeln von Gütern, wie Ein- und Auskarren von Ballen, Kisten und Kasten. Kaum daß ein Eisenbahnzug mitten durch dieses laute, rührige Hafentreiben davongerollt, so lief schon ein anderer wieder ein und brachte eine Menge geschäftig sich vertheilender Menschen. Jetzt hat hier nicht mehr ihr Ende die einzige badische Eisenbahn, sondern auch die Schwarzwaldbahn ist bis hier vorgedrungen, und diese deutschen Schienenwege setzen sich auf schweizer Gebiet fort, längs dem Ufer des Sees einestheils nach Rorschach hin, anderntheils dem Untersee entlang nach Singen[WS 1] und Winterthur hinüber. Constanz ist auf einmal zu einem Knotenpunkte des Eisenbahnverkehrs zwischen Süddeutschland und der Schweiz, zu einem Stapelplatze des Handels zwischen Italien und dem deutschen Reiche geworden, und dadurch waren die Todten auferstanden, um nach Jahrhunderten wieder Besitz von dem zu nehmen, was sie einst als Lebendige besessen.

Ein stattlicher, dem mittelalterlichen Style der Stadt geschmackvoll Rechnung tragender Eisenbahnhof erhebt sich heute am Strande; neue, moderne, schöne Häuser sind ihm gegenüber entstanden; Villen jenseits der Rheinbrücke am Seeufer fesseln den Blick. Aus dem Dominikanerkloster auf der Insel, wo Huß gefangen lag, ist das in seinem Innern, besonders durch seinen Speisesaal, sehenswerthe Inselhôtel geworden, und einzig in der Art seiner Lage am See, seiner comfortablen Einrichtung, seiner Badecabinete, ladet das neue Badhôtel zu gastlichem Aufenthalte ein. Unter dem alten Conciliumsaal zieht sich durch die Halle der Schienenstrang für Güter; am Ufer hin, neben der Eisenbahn, führt ein anmuthiger, schon schattiger Promenadenweg. Wagen, sonst kaum gesehen, rollen auf dem Platze und auf der neuen Straße, die dahinter entstanden ist, hin und her, mit Personen, mit Waaren, mit Baumaterial und Lasten aller Art.

Wie der See immerfort seine grünen, klaren Wogen gegen die neuen Kaimauern wirft, so fluthet bald stärker, bald schwächer, aber ohne Stockung, der Verkehr hinüber nach der Schweiz und herüber von dort und verfließt dann in das Innere der Stadt. Ihre Hauptstraßen, sauber gehalten, sind jetzt durch Handel und Wandel von früh bis spät belebt; neue, hübsche Läden unterbrechen die einstige klösterliche Physiognomie der Häuser; Bier- und Kaffeehäuser zeugen vom gewachsenen Wohlstand der Bürger, der ihnen zur Mittags- und Abendzeit die Erholung und Zerstreuung daselbst gestattet. Vordem zu weit und zu groß für den Rest seiner Bewohner, greift Constanz jetzt über seine Marken, zieht die angrenzenden thurgauer Ortschaften Kreuzlingen, Emmishofen und Egelshofen in seinen neuen Machtkreis und haucht ihnen ein frisches, blühendes Leben ein. Dem See selbst wird jetzt ein Landgürtel am Hafen abgenommen, um für einen neuen Stadttheil daselbst Grund und Boden zu gewinnen. Welch ein anderes Constanz! Welch ein modernes Bild bürgerlichen Schaffens heut’ in dieser alten, hier und da sich schon umwandelnden Hülle! Aus den fünftausend sind binnen wenigen Jahren zwölftausend Einwohner geworden; aus der todten ist binnen kaum einem Jahrzehnt eine heitere, rührige, zukunftreiche Stadt erstanden, in welcher der Fremde gern verweilt und wo im Genuß einer prächtigen Natur, allen gediegenen Comforts und anmuthenden Lebens von Jahr zu Jahr mehr zuziehende Familien ein Heim sich errichten. Alt und Neu mischen sich hier in einer Weise, welche der Stadt einen eigenthümlichen Reiz verleiht. Manch ehrwürdiges Gebäude aus mittelalterlichen Zeiten schaut Einen in neuem Aufputz wundersam fesselnd an, wie das ganze Constanz selber. Das ehemalige Zunfthaus zum Rosgarten in der Augustinerstraße – sein Besitzer, der Apotheker Leiner, hat es zu einem auch in dieser Hinsicht hochinteressanten Museum constanzischer Geschichte gemacht, in dem die Zeugen aus allen Culturperioden der Stadt in seltenen Sammlungen vertreten sind und die der jetzigen eben aus allen den Besuchern bestehen, welche im neuen Stadtgebilde das alte, ursprüngliche wiedersehen wollen.

Am frühen Morgen, als ich das Fenster meines Zimmers öffnete, gewahrte ich mit Ueberraschung die Häuser beflaggt, die ganze Stadt im Festschmuck, überall deutsche und badensche und constanzische Fahnen. Bald erscholl auch lustige Marschmusik mit Pauken und Trompeten, und mit zahllosen wehenden Fahnen kam ein langer Zug von Kindern die Straße herunter – Knaben im Sonntagsputz und dazwischen abwechselnd geordnete Schaaren von Mädchen, alle im weißen Kleid, alle gleich den Buben mit dreifarbigen Schärpen geschmückt, grüne Gewinde mit Blumen tragend, unter denen die weibliche Jugend wie unter einer wandelnden Festlaube dahinschritt. Wohl an tausend Kinder der städtischen Schule folgten so den rauschenden Klängen des Musikcorps, die kleinsten vorn, zuletzt die schon erwachseneren, die Mädchen mit den nicht mehr kurzen Röckchen. Ihr Ziel war das schöne Siegesdenkmal mit einer den Friedenskranz bietenden, wie Versöhnung verkündenden Victoria, welches als eine neue Zierde der Stadt nahe am Hafen sich erhebt; dort legten sie unter dem Aufspielen der „Wacht am Rhein“ ihre Kränze wie auf einen Altar des deutschen Vaterlandes nieder, zu Ehren des Tages, an welchem 1871 der Friede zwischen Frankreich und dem wiedererstandenen deutschen Kaiserreich geschlossen worden war. Wie sinnig mußte es erscheinen, daß dieses Friedensfest gerade in der wiedergeborenen deutschen Grenzstadt in solcher Art gefeiert wurde!

Vom Denkmal bewegte sich der Zug weiter nach dem grauen Kaufhaus hinüber, mit all seinen Fahnen hinauf in den Saal, in dem einst das große Concil getagt. Auch hier wieder Neu-Constanz in reizvoller Wechselwirkung mit dem mittelalterlichen. In einen heiteren Festsaal hat man seit mehreren Jahren diesen Raum gewandelt, und Frescogemälde auf Goldgrund von Friedrich Pecht und Fritz Schwörer mahnen an stadtgeschichtliche Vorgänge unter der alten und auch schon unter der neuen deutschen Kaiserzeit. Wo einst Roms Prälaten in lateinischen Reden sich unter einander gestritten, da erschollen nun von Kinderstimmen deutsche patriotische Gesänge, und ein Lehrer sprach begeisternd über die Bedeutung des Frühlingsfriedentages zu den lauschenden Kindern. Mit schallendem Jubelmarsche zogen sie darnach wieder hinaus in die Stadt, überall begrüßt von frohen Gesichtern in den Fenstern, um nach dem Ernste des Morgens ihre Ausflüge in die Maiennatur zu machen. Ein dicker Mönch stand auch vor dem Concilshause, am Wege an der Eisenbahn, und sah neugierig, wie nachdenklich, dem frischen Kinderzuge nach. Ja, Pfäfflein, es ist doch auch hier der neue Geist der Zeit siegreich geworden, und Du bist auf der Stätte, die Rom verfallen war, schon ein Fremdling geworden.

Der Odem der lebendigen Gegenwart hat diesen Zauber bewirkt und die alte Stadt des Concils aus ihrem Starrschlafe geweckt. Aber auch der Mann war da, welcher diesem Geiste vollauf gerecht zu werden und ihn als schöpferische Kraft in die gelähmten Glieder dieses Körpers zu treiben wußte. Aus Allem, was heute so reich und vielverheißend dort in diesem Geiste grüßte, spricht sein Werk; von den Dächern der Stadt rufen die Spatzen dankbar seinen Namen; in ganz Baden erklingt das Lob dieses Mannes, und längst ist sein Ruf als Patriot und Kämpfer gegen das anmaßliche Pfaffenthum bis weit hinein nach Deutschland gedrungen. Es ist Max Stromeyer, der Bürgermeister von Constanz, welcher mit Fug und Recht die meisten Verdienste um die Wiedergeburt seiner Vaterstadt in Anspruch nehmen kann.

Stromeyer stammt aus einer hannöverschen Familie; sein Großvater war Physikus in Tauberbischofsheim, sein Vater Oberrechnungsrath [450] erst in Karlsruhe, dann in Constanz; eine Schwester desselben heirathete den verstorbenen badischen Minister Mathy, rühmlichen Angedenkens. Am 6. Mai 1830 wurde Max Stromeyer geboren. Nach dem Willen des Vaters sollte er Mechaniker werden, aber er bezeigte keine Lust dazu und wollte studiren. Erst nach manchen Wandlungen des Berufs wurde es ihm in schon vorgerücktem Lebensalter ermöglicht, das Gymnasialexamen zu machen und sich dem Cameralfache zu widmen. Im Jahre 1859, nach bestandener Prüfung, erhielt er seine erste Anstellung im Steuerfache; 1861 übertrug man ihm die Verwaltung der bedeutenden Districtsstiftungen in Constanz. Und von diesem Momente an nahm er den lebhaftesten Antheil an dem öffentlichen Leben. Bald zog er die Aufmerksamkeit seiner freisinnigen Mitbürger auf sich, die in ihm den muthigen, fest auf’s Ziel gehenden Kämpfer für ihre Sache erkannten. Er wurde schnell nach einander in den Bezirksrath gewählt, dann in die Kreisversammlung, in den Kreisausschuß und 1864 in den Stadtrath. Seine Thatkraft hatte jetzt den rechten Boden, auf dem sie sich so glänzend bewähren sollte, und vollends, als er am 11. October 1866 in einer heftigen Wahlschlacht gegen die ultramontane Partei unter dem Jubel seiner Freunde als Sieger hervorging und Bürgermeister von Constanz wurde.

Die Energie, mit welcher er sein Amt führte, um es zu einer Quelle des Segens für seine Vaterstadt zu machen, verspürte man nach allen Richtungen. Vor Allem suchte er aber erst den lähmenden Geist aus Constanz zu scheuchen und der freien Luft Zutritt in die dumpfe Atmosphäre zu verschaffen. Er sammelte seine Freunde und ordnete die Reihen seiner Partei, um überall kampffertig gegen die Römlinge zu stehen, die in der katholischen Stadt mit Ingrimm die Zügel ihrer Herrschaft sich entfallen sahen. Er hatte die „Constanzer Zeitung“ in’s Leben rufen helfen, die mit wuchtigen Schlägen für die liberale Sache stritt, und übernahm 1866 sogar selbst die Verantwortlichkeit ihrer Redaction, um sie der Partei zu erhalten. Er war einer der mannhaftesten Streiter in Sachen des Stiftungsgesetzes, welches gegen die Ultramontanen in Baden durchgebracht wurde; er betrieb gegen diese die Einführung confessionell gemischter Volksschulen in Constanz und deren zeitgemäßere Vervollkommnung. Schanze auf Schanze nahm er so mit seinen wackeren Bürgern den Römlingen, und in ihrem Zorne ließen diese deshalb am 14. Januar 1869 den Bannstrahl auf ihn schleudern. Seine Excommunication ging aber weder Stromeyer, noch der Bürgerschaft zu Herzen. Auch hier, auf diesem Boden, zündeten die vaticanischen Blitze nicht mehr, und die neue Zeit hielt ihnen den ableitenden Schild des freien Geistes entgegen.

Nicht glänzender konnte dies bewiesen werden, als durch die Thatsache, daß am 22. Juni 1870 Stromeyer abermals zum Bürgermeister gewählt wurde und daß in dieser neuen, heißen Schlacht gegen die Ultramontanen der Excommunicirte als der gefeierte Mann des Tages von nah und fern, um der Sache willen, seine Glückwünsche erhielt.

Unermüdlich ein Wächter gegen alle pfäffischen Ränke, war er auch rastlos in der Arbeit, um Constanz materiell emporzuheben. Durch ihn belebte sich das Vereinswesen, verbesserten sich mittelst der Vorschußbank die socialen Verhältnisse und das Kleingewerbe; durch ihn erstanden so manche der neuen Bauten, auch das vortrefflich eingerichtete Krankenhaus in der Vorstadt Neuhausen; durch ihn erhielten die Häuser der Stadt eine neue Wasserleitung, und neben gesundem Trinkwasser ist ihm auch die Anlage der Seebäder zu verdanken, die den Armen unbeschränkt zu ihrer Gesundsheitspflege geöffnet sind. An der Gründung des neuen Badhôtels hat er sich betheiligt; die Hebung des Verkehrs, die Anschlüsse der Eisenbahnen, die Errichtung einer Reichspost-Direction und einer Reichsbank-Filiale und sonst Alles, was heute Constanz in wahrhaft überraschender Weise als eine rührige, lebensvolle Stadt kennzeichnet, bildet den Beweis seiner rühmenswerthen Bürgermeisterthätigkeit. Durch ihn und unter ihm ist Constanz zu einer Eckburg des neuen deutschen Reiches geworden, eine Wacht am Rhein gegen das Römlingsthum. Eine selbstbewußte Bürgerschaft, echt deutschen und freisinnigen Geistes, verehrt in ihrem Stadtverwalter auch den Führer auf dem Gebiete, wo Altes noch mit dem Neuen ringt und der Fortschritt „trotz dem und alledem“ seiner Triumphe sicher ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Siegen